Heike Willingham

Steckbrief

geboren am: 6.7.1962
geboren in: Rostock
lebt in: Berlin, Wilmersdorf

Kontakt: Markobrunner Str. 17, 14197 Berlin

Telefon: 0176 514 86 156

Vita

1962 in Rostock geboren, Studium der Germanistik in Berlin, Diplom-Germanistin. Eigene Gedichtbände: Lyrikband vor und zurück (Grafiken Michael Voges) 1987; Lyrikband vom fegen weiß ich wird man besen (Grafiken Petra Drewinski), Janus press, Berlin 1992; kurze Aufenthalte an winzigen orten (Serigraphien Pontus Carle), Edition Maldoror, Berlin 2000; Mitlesebuch, Nr. 64, Aphaia Verlag, Berlin 2004, zeiten und zahlen (Lithographien Lothar Böhme), Edition Maldoror, Berlin 2010, supermoon (Serigraphien Klaus Zylla), Edition Maldoror, Berlin 2015. Veröffentlichungen/Auswahl: seit 1986 u.a. in Zeitschriften ; Gedichte in Schaden, Berlin; bateria Nr. 7/8, Fürth; Ein Text für C.W., Janus press, Berlin, Perspektive (Graz), Hefte 26 und 28;  Vogel oder Käfig sein, Edition Galrev, Berlin, Stechapfel  25, Literaturbüro Leipzig e.V.; Pogranicza, Szczecinski Kwartalnik Kulturalny, Szczecin; Hi.e.ms, 2 (6), Juni 1998, Corps & biens, Dragnignan; Zeitschrift Herzattacke, Berlin. Katalogtext und Gedichte zum Projekt Visum, Polen;  Rundfunkessay zur Verleihung des Nicolas –Born-Preises an Ulrich Zieger, DS-Kultur; Stimmen der Freunde. Gerhard Wolf zum 85. Geburtstag. verlag für berlin-brandenburg 2013; Texte und Installation, Projekt Changeant, Waschhaus, Potsdam; Gedichtvertonungen von Michael Dubach und Bardo Henning.Redaktionelle Mitarbeit bei der Zeitschrift Schaden; freie Gutachterin für niederländische  Gegenwartsliteratur, Verlag Volk und Welt, Projektarbeit deutsch-polnische Künstlergruppe Visum. Werkverträge Soziale Künstlerförderung des Senats von Berlin; Arbeitsstipendien der Stiftung Kulturfonds, Berlin, Projektförderung Changeant (mehrjähriges interdiszplinäres Künstlerinnenprojekt), gefördert von  Kulturamt Potsdam und Stiftung Kulturfonds, Berlin. Seit 2013 Redaktionsmitglied Zeitschrift Herzattacke. „Als ob sie, die 1988 nach Westberlin übersiedelte, das Universum der Poesie inzwischen härter behaupten müsste / wollte, während es sich gleichzeitig wie ein immer dichter gestricktes Ellipsoid immer mehr ausweitet. Vom „Überschreiben“ ist in einem ihrer Texte die Rede, nicht vom Schreiben über Etwas. Heike Willingham überschreibt das Beißen und Klirren und Brüllen und Stinken und Zerrütten, das Gescheuchte und Verdunkelte, Verzottelte und Verschonte. Sprache wird spürbar wie eine dämpfende Matte gegen die „Gucker“ und „Lauscher“. Sie kehrt sich zum Sprechenden, nicht zum Leser oder Zuhörer. „Haltung? Ein Marionettentheater“ (so der Titel eines Gedichts) in einer surrealen Welt, die nicht be- sondern überschrieben wird. Die logische Satzordnung, der Aufbau von Sinn wird durchkreuzt, wird nicht aufgelöst und gelockert, sondern immer verstrickter und komplexer. Vorstellungen heben an, halten die Zeile, brechen ab, gehen Abwege, kreuzen sich, springen, gehen unter …“ (aus: Angelika Stepken, Katalogtext zur Ausstellung der Projektgruppe Changeant im Waschhaus Potsdam, 1994).

Würdigung

Über die Poesie von Heike Willingham


 


Eigenartig – ein aufwärts fließender Fluß, so faßte ich früher meinen Eindruck von Heike Willinghams Gedichten zusammen. Zumeist vom Meer ausgehend, Küsten- und Stadtlandschaftsbilder reflektierend, Szenen in Zimmern, an Stränden und auf Straßen enthaltend, von Dingen und Menschen, die etwas durchmachen oder hinter sich haben, vom Schicksal gezeichnet oder von unklaren Verhältnissen skizziert sind. Auf unterschiedlichen Stufen ihres Erscheinens lernt man sie kennen, mitunter gleich so unvermittelt nah, daß man sich bereits im Bild wähnt, noch ehe man es ganz gesehen hat. / Beim Lesen findet eine Transformation statt, gemäß der Maxime, daß es gut ist, ein Gedicht zu lesen, aber besser, ein Gedicht zu sein, stets unter der Voraussetzung, daß Schreiben die aktivste Form des Lesens ist. Heike Willinghams erster Gedichtband heißt „Vom Fegen, weiß ich, wird man Besen“, das klingt nach einer Gewißheit, könnte jedoch auch einen Wunsch und die Befürchtung seiner Erfüllung zugleich ausdrücken. Jedenfalls handelt es von einer Wandlung des tätigen Subjekts, seinem Auflösungsprozess in der Arbeitsmaterie. Vielleicht ist das programmatisch: Die künstlerische Absicht manifestiert sich im Schwung des Aufgehens in der Arbeit am Gedicht. Es geschieht etwas, die Geschiedenheit von Subjekt und Objekt verlangt nach Aufhebung, die entworfenen Kulissen der Landschaften und menschlichen Spannungsverhältnisse befinden sich in Bewegung, Hintergrund wird Vordergrund, die Perspektiven von Raum und Zeit verschieben sich wie in filmischen Sequenzen. Die Gedichte, wenn sie denn etwas anderem als sich selbst gleichen sollen, sind aber weniger ein Film als eher ein Schlafsaal der Emotionen, die geweckt werden und Geträumtes in sachlichem Ton erzählen, dabei Illusionen mit realen Beständen abgleichend. Mitunter überraschen sie mit den letzten Fragen der Menschheit, rollen etwas auf, was nur die Götter wissen, wissen von fehlenden Antworten, ersetzen die mutmaßliche Endgültigkeit des Fehlenden vorsichtig durch sich selbst. Hörst du mich klopfen, scheinen sie zuweilen zu sagen, und vor allem: hörst du die Qualität des Klopfens, es ist nämlich im Laufe der Zeit des Wartens auf Aufschluß zu einer ganz eigenen Musik geworden. Früher vermeinte ich, Heike Willingham wäre eine Dichterin der leiseren Zwischentöne, würde im Gestus lakonischer Resignation über schon erschöpfte Themen eine Reihe von freien, postmodern motivierten Improvisationen setzen. Doch gleichzeitig zeichnet sich in den Gewebemustern ihrer lyrischen Textfäden, im Spiel mit Spurenelementen tragischer Konstellationen, die eigene unverwechselbare Handschrift ab. Manche Gedichte lesen sich wie stichwortartige Protokolle, mitunter wie Auswertungen der Geschwindigkeit, in der erlebte Augenblicke, Tatsachen und Empfindungen gekommen und vorübergegangen sind. Andere wieder stellen mit grafischer Genauigkeit Landschaften und Seestücke dar, fügen sich in ihren aufeinander abgestimmten Details zu bewegenden Momentaufnahmen, schreiben das Genre der Naturlyrik fort, sind mehr der Gesang der Dinge als die persönliche Stimme der Dichterin. Die Art ihres Humors wäre noch hervorzuheben, gerade weil sie diskret ist und überhört werden kann: ein ihren Versen angeborener Unterton des sich Wunderns, sich Wundern hier verstanden als reservierte Anteilnahme, aus der sich Formen kritischer Empathie entwickeln.


 


A.Koziol, Juli 2021


 


 


 


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1992-1995 Werkverträge der Sozialen Künstlerförderung Berlin


1993-1994 Arbeitsstipendium der Stiftung Kulturfonds, Berlin


1994 Projektförderung "Changeant", Kulturamt Potsdam


2002 Arbeitsstipendium der Stiftung Kulturfonds, Berlin

Aktuelles

Über die Poesie von Heike Willingham


 


Eigenartig – ein aufwärts fließender Fluß, so faßte ich früher meinen Eindruck von Heike Willinghams Gedichten zusammen. Zumeist vom Meer ausgehend, Küsten- und Stadtlandschaftsbilder reflektierend, Szenen in Zimmern, an Stränden und auf Straßen enthaltend, von Dingen und Menschen, die etwas durchmachen oder hinter sich haben, vom Schicksal gezeichnet oder von unklaren Verhältnissen skizziert sind. Auf unterschiedlichen Stufen ihres Erscheinens lernt man sie kennen, mitunter gleich so unvermittelt nah, daß man sich bereits im Bild wähnt, noch ehe man es ganz gesehen hat. / Beim Lesen findet eine Transformation statt, gemäß der Maxime, daß es gut ist, ein Gedicht zu lesen, aber besser, ein Gedicht zu sein, stets unter der Voraussetzung, daß Schreiben die aktivste Form des Lesens ist. Heike Willinghams erster Gedichtband heißt „Vom Fegen, weiß ich, wird man Besen“, das klingt nach einer Gewißheit, könnte jedoch auch einen Wunsch und die Befürchtung seiner Erfüllung zugleich ausdrücken. Jedenfalls handelt es von einer Wandlung des tätigen Subjekts, seinem Auflösungsprozess in der Arbeitsmaterie. Vielleicht ist das programmatisch: Die künstlerische Absicht manifestiert sich im Schwung des Aufgehens in der Arbeit am Gedicht. Es geschieht etwas, die Geschiedenheit von Subjekt und Objekt verlangt nach Aufhebung, die entworfenen Kulissen der Landschaften und menschlichen Spannungsverhältnisse befinden sich in Bewegung, Hintergrund wird Vordergrund, die Perspektiven von Raum und Zeit verschieben sich wie in filmischen Sequenzen. Die Gedichte, wenn sie denn etwas anderem als sich selbst gleichen sollen, sind aber weniger ein Film als eher ein Schlafsaal der Emotionen, die geweckt werden und Geträumtes in sachlichem Ton erzählen, dabei Illusionen mit realen Beständen abgleichend. Mitunter überraschen sie mit den letzten Fragen der Menschheit, rollen etwas auf, was nur die Götter wissen, wissen von fehlenden Antworten, ersetzen die mutmaßliche Endgültigkeit des Fehlenden vorsichtig durch sich selbst. Hörst du mich klopfen, scheinen sie zuweilen zu sagen, und vor allem: hörst du die Qualität des Klopfens, es ist nämlich im Laufe der Zeit des Wartens auf Aufschluß zu einer ganz eigenen Musik geworden. Früher vermeinte ich, Heike Willingham wäre eine Dichterin der leiseren Zwischentöne, würde im Gestus lakonischer Resignation über schon erschöpfte Themen eine Reihe von freien, postmodern motivierten Improvisationen setzen. Doch gleichzeitig zeichnet sich in den Gewebemustern ihrer lyrischen Textfäden, im Spiel mit Spurenelementen tragischer Konstellationen, die eigene unverwechselbare Handschrift ab. Manche Gedichte lesen sich wie stichwortartige Protokolle, mitunter wie Auswertungen der Geschwindigkeit, in der erlebte Augenblicke, Tatsachen und Empfindungen gekommen und vorübergegangen sind. Andere wieder stellen mit grafischer Genauigkeit Landschaften und Seestücke dar, fügen sich in ihren aufeinander abgestimmten Details zu bewegenden Momentaufnahmen, schreiben das Genre der Naturlyrik fort, sind mehr der Gesang der Dinge als die persönliche Stimme der Dichterin. Die Art ihres Humors wäre noch hervorzuheben, gerade weil sie diskret ist und überhört werden kann: ein ihren Versen angeborener Unterton des sich Wunderns, sich Wundern hier verstanden als reservierte Anteilnahme, aus der sich Formen kritischer Empathie entwickeln.


A.Koziol, Juli 2021


 


Freiraum ohne Freiheit
von Katharina Angus 30. Juli 2021 (aus: Prenzlauer Berg Nachrichten)



In der DDR boten die „Samisdat“-Zeitschriften in Prenzlauer Berg ein großes Experimentierfeld. Doch der Stasi waren die im Eigenverlag herausgebrachten Zeitschriften ein Dorn im Auge.



Auf Eierkartons oder Pappe, in Stückzahl von zehn oder neunundneunzig, aber immer mit einer Mischung aus Literatur und Bildkunst: In Prenzlauer Berg entstanden in den Achtziger Jahren einige ungewöhnliche Zeitschriften. Verlegt wurden sie im „Samisdat“. Damit waren sie mehr als nur bibliophile Sammlerstücke.



„In der Szene des ‚Samisdat‘ verschmolzen Literatur und andere künstlerische Ausdrucksformen, Avantgarden und Lebensstile sehr stark miteinander. Alles wurde zum Experimentierfeld für ein neues, anderes Lebens und eine tragfähige Identität. Der Prenzlauer Berg als solcher war eigentlich ein großer Kunstraum, eine einzige Installation. Ein Stück Freiraum ohne wirkliche Freiheit“, sagt Ines Geipel, die Schriftstellerin und Publizistin, die gemeinsam mit Joachim Walter das Archiv unterdrückter Literatur in der DDR gegründet hat.



„Samisdat“ und die UDSSR



Ursprünglich kommt der Begriff „Samisdat“ aus dem Russischen und bedeutet „im Eigenverlag“. Er bezieht sich auf die Verbreitung verbotener oder unerwünschter Texte und stammt aus der UDSSR. Daher sieht Lukas Regeler den Begriff in Bezug auf die Szene in Berlin kritisch. Der wissenschaftliche Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Writing Berlin“ des Exzellenzclusters „Temporal Communities“ forscht in seiner Dissertation „kunst im biotop“ unter anderem zu den Untergrund-Zeitschriften in Prenzlauer Berg. Er sagt: „Der ‚Samisdat‘-Begriff verweist direkt auf inoffizielle Literatur dieser Art in der CSSR und anderen
osteuropäischen Ländern. Dort waren die entstandenen Texte aber meist sehr aktivistisch geprägt, was sich mit der Literatur in Prenzlauer Berg größtenteils anders verhielt. Hier ging es stärker um theoretische Reflexion und Ästhetik.“



Tatsächlich bewegten sich die betreffenden Zeitschriften, darunter „Entwerter Oder“, „Mikado“ oder „Schaden“, in der Grauzone der inoffiziellen, aber nicht illegalen Medien. Hierbei spielte die Auflagenstärke eine entscheidende Rolle. Denn Veröffentlichungen, die unter einer Auflage von 100 blieben und einen bildkünstlerischen Schwerpunkt nachweisen
konnten, wurden von der unmittelbaren staatlichen Zensur verschont.



In Prenzlauer Berg erschienen schließlich 1979 erste Grafik-Lyrik Mappen. Sie legten den Grundstein für eine neue Art zu publizieren. „Man muss sich das so vorstellen, dass zum Beispiel fünfzehn Autor*innen ihre Gedichte in fünfzehnfacher Ausfertigung beisteuerten. Sie wurden zusammengeheftet, jede*r Beiträger*in erhielt eine Ausgabe und konnte diese dann
im Freundeskreis zirkulieren lassen“, erklärt Regeler.



Manche dieser Ausgaben fanden sogar ihren Weg über die Mauer. „Einige der Abonent*innen saßen in West-Berlin, was durch den Umrechnungskurs gute Einkünfte gebracht und die Grundlage für die Herstellung weiterer Ausgaben geschaffen hat“, erinnert sich Heike Willingham, die Autorin und spätere Mitherausgeberin der 1984 in Prenzlauer Berg gegründeten „Samisdat“-Zeitschrift „Schaden“.



Mitarbeit nicht ohne Risiken



Obgleich die Zeitschriften nicht verboten waren, ging eine Mitarbeit mit erheblichen Risiken einher. „Mit jeder Aktion, mit jedem Satz, mit jedem Wort war klar: Das kann richtig eng werden. Heute haben wir uns in der Erzählung eingerichtet, dass die Zensur im Osten ab den 70er Jahren nicht mehr so streng war. Aber das ist falsch. Die staatliche Zensur modifizierte
sich je nach Zustand der DDR, aber von der Struktur her blieb sie konstant und galt bis zum letzten Tag. Man konnte noch im Oktober 1989 für die eigenen Texte ins Zuchthaus kommen.



Das gilt natürlich auch für die ‚Samisdat‘-Szene“, erläutert Geipel. Eine Diktatur behandele das Wort immer extrem. „Obgleich auf alle künstlerischen Medien Druck ausgeübt wurde, war die Not für die Sprache am größten. Man konnte im Bild oder in der Musik schlicht „weichere“ Zeichen setzen – das Wort wurde aus allen Perspektiven heraus umfassend observiert“, sagt Geipel.

Diese permanenten Gefahrensituationen brachten sogar neue literarische Stile hervor, die mit Anspielungen zwischen den Zeilen arbeiteten. „Die Autor*innen benutzen eine Sprache, die sich durch Mehrdeutigkeit auszeichnete. So haben sich in der Literatur in Prenzlauer Berg bestimmte Sprachformen entwickelt, die u.a. auf Klandestinität beruhten“, so Willingham.
Regeler beschreibt diesen Prozess als Rückzug ins Ästhetische. „Was nicht bedeutet, dass nicht auch dieser Rückzug ein politisches Statement war“, sagt er.



Willingham betont jedoch, dass Politik an sich kein Schwerpunkt-Thema der Zeitschrift Schaden war. Diese Einstellung habe eine Konzentration auf die künstlerischen Aspekte des Projekts bewirkt. „Für mich war es damals eine unglaublich erfrischende Tätigkeit; Prozesse selber bestimmen zu können, in einer gesellschaftlichen Situation, die von Stagnation und Lähmung geprägt war. Die letzten Jahre vor der Wende waren keine lebendigen Jahre und wohin sich das entwickeln sollte, war nicht absehbar.“



Unterwandert



Die wenigsten der Autor*innen dürften jedoch geahnt haben, wieviel Arbeit die Stasi aufbot, um diese Prozesse zu lenken. Denn in den 1980er Jahren setzte die sie verstärkt auf gezielte Unterwanderung kritischer Gruppierungen, um diese zu schwächen oder zu zersetzen. Eines der bekanntesten Beispiele für diese Strategie ist Sascha Anderson. Anderson bewegte sich damals in der alternativen Künstlerszene in Prenzlauer Berg und war zu Anfang sogar Herausgeber der Zeitschrift „Schaden“. Im Jahr 1986 reiste er schließlich in die BRD aus. Erst in den 90er Jahren wurde er als Stasi-Mitarbeiter enttarnt.


„Sascha Anderson war kein einfacher IM, sondern quasi fester Angestellter der Stasi und ist eigentlich erst über diese Tätigkeit zur Künstler*innenszene in Prenzlauer Berg gekommen. Das ist schon bemerkenswert“, erklärt Regeler. In der Redaktion des „Schaden“ und anderen Zusammenhängen habe Anderson versucht, die Szene so unpolitisch wie möglich zu halten: „Es hat Ansätze zu politischerem Handeln gegeben, beispielsweise auf der ‚Zersammlung‘ 1984. Das war eine Lesewoche in Prenzlauer Berg, in deren Verlauf einige Autor*innen anregten, einen inoffiziellen Schriftstellerverband zu gründen. Dieses Vorhaben wurde vor allem von Sascha Anderson effektiv abgewendet.“



Der Skandal um Anderson und andere, die wie er gezielt inoffizielle Projekte unterwanderten, die Faszination für Prenzlauer Berg und die Tatsache, dass laut Regeler dies der Berliner Stadtteil mit der höchsten Dichte konspirativer Wohnungen, also Stasistützpunkten, war, hatte Folgen. So wurde nach der Wende von den im „Samisdat“ erschienenen Zeitschriften auch
schon einmal vom „Schrebergarten der Stasi“ gesprochen. „Was die Literatur angeht, ist Prenzlauer Berg zu einem quasi mythischen Ort geworden. Dabei ist vieles nach 1989 überlagert vom Skandal um Sascha Anderson. Das hat die Rezeption dieses großartigen Entwurfs ungemein behindert“, findet Geipel.



Sie bedauert die Vereinnahmung der Projekte, die sogar im Nachhinein noch durch den Stasi-Einfluss in der öffentlichen Wahrnehmung erfolgt. Für zahlreiche Künstler*innen war die Möglichkeit, sich fernab der staatlichen Organe auszudrücken und ausprobieren zu können, ungeachtet der Hintergründe, ein bedeutender Einstieg in ihre eigene Tätigkeit. „Auf mich hatte die Zeit beim Schaden einen wichtigen Einfluss. Ich war sehr jung und hatte mit dem Schreiben erst begonnen. Die Auseinandersetzung und Rezeption von Autor*innen in Prenzlauer Berg, wo eine ganz besondere lyrische Ästhetik, Sprachspiel, Kleinschreibung, etc., geherrscht hat, war sehr produktiv. Es war eine konstruktive Phase, in der ich viel
Unterstützung erfahren habe“, sagt Willingham heute.



Frauen als Objekte oder Akteurinnen?



Die Autorin und Herausgeberin kam erst zum „Schaden“, als Anderson sich bereits in die BRD abgesetzt hatte. Denn dieser habe nie eine Frau in die Redaktion geholt. „Die Szene war stark männlich geprägt. Manche Herausgeber, wie Egmont Hesse oder Andreas Koziol waren allerdings Ausnahmen und haben sich auch um die Einbeziehung von Autorinnen bemüht.“



Ein Blick in die betreffenden Zeitschriften zeigt, dass Frauen eher in der künstlerischen Gestaltung, als Grafikerinnen, Zeichnerinnen oder Fotografinnen zu finden sind, anstatt als Urheberinnen von Texten. Zu den wenigen Namen gehören unter anderem Raja Lubinetzki und Elke Erb.



„Inoffizielle Projekte, wie die ‚Samisdat‘-Zeitschriften, waren mit hohen Risiken verbunden. In der DDR hatten die meisten Frauen früh Kinder, was viel Kraft raubte und weniger Kapazitäten für Projekte außerhalb der gesellschaftlichen Norm übrig ließ. Insbesondere in Berlin war die Situation brisant, weil hier die Beobachtung der Jugendszene durch den Staat stark ausgeprägt war“, vermutet Willingham.


Auch wenn erwähnt werde, dass die DDR frauenpolitisch fortschrittlich gewesen sei, seien viele Frauen einer doppelten Belastung ausgesetzt gewesen, erklärt Regeler. „Einerseits wurde erwartet, dass sie sich aktiv am Berufsleben beteiligen, anderseits waren sie mit einem herkömmlichen Geschlechterbild konfrontiert, das Familie und Haushalt weiterhin als
Aufgabenbereich der Frau ansah. Zudem war die DDR an nahezu allen entscheidenden Stellen ein Männerverein. Man fand unter den einflussreichen Personen nur vereinzelt Frauen. So leitete Anna Seghers beispielsweise als Präsidentin den Deutschen Schriftstellerverband der DDR, doch die Funktionäre, die hauptsächlich die Fäden zogen, waren Männer.“



Geipel glaubt, dass die Autorenschaft jener Zeit in Prenzlauer Berg einfach zu männlich, traditionell und von einer gewissen Hybris umgeben war. „Für weibliche Autor*innen lagen die Hürden um Längen höher. Sie hatten andere Stoffe, andere Themen, lebten eine andere Realität, zu der die Attitüde des solitären Denkerdichters nicht recht passte“, sagt sie.



Und so strahlte das patriarchale System der DDR nicht nur auf die Teilhabe sondern auch auch auf die Inhalte der inoffiziellen Projekte aus. „In vielen Texten der ‚Samisdat‘-Zeitschriften in Prenzlauer Berg wird ein Männlichkeitsideal zelebriert. Frauen haben darin zum Großteil lediglich als Musen oder Sexualobjekte einen Platz“, sagt Regeler. Trotz dieses überholten Frauenbildes, das sich in zahlreichen Werken niedergeschlagen hat, war die inoffizielle Autor*innenszene in Prenzlauer Berg für ihre Begeisterung für die Avantgarde bekannt.



„Wenn man nach Vorzeichen für ein Ende der DDR in der inoffiziellen Literatur sucht, lassen sie sich am ehesten an neuen ästhetischen Ansätzen erkennen, vor allem dem Mut zum experimentellen Schreiben“, findet Regeler. Neben solchen neuen Ausdrucksformen gehörte die Auseinandersetzung mit vergangenen sowie in der DDR geächteten Autor*innen zum Umfeld der „Samisdat“-Szene.



Tradition und Aufbruch



„Beispielsweise hat man sich sehr für die Frühromantik interessiert – für Günderode, Schlegel, die ersten Lebenskommunen und die Idee, dass Kunst und Leben eins seien. Diese Idee hat man versucht, neu zu initiieren. Auch die klassische Moderne rückte in den Fokus. Die Autorin Jutta Petzold hat einst Else Lasker-Schüler, die in der DDR früh verfemt war, mit
der Hand abgeschrieben“, erzählt Geipel.



Die verschiedenen Einflüsse machen die Zeitschriften zu einem lebendigen Zeitdokument. „Man spürt, was für ein Druck unter der Sprache liegt und wie ganz neue Fragen aufkommen. In den „Samisdat“-Zeitschriften steckt der Moment des Aufbruchs, der kategorischen Öffnung oder auch: In den Texten brennt immer ein bisschen die Luft.“



Trotz dieser Aufbruchstimmung sind die wenigsten der Autor*innen, die in den „Samisdat“-Zeitschriften in Prenzlauer Berg veröffentlicht haben, nach der Wende bekannt geworden oder Schriftsteller*innen geblieben. Denn war es in der DDR bereits schwer gewesen, den eigenen künstlerischen Weg zu behaupten, so wurde der Aufbruch in eine neue Ära für viele zur Sackgasse. Doch ihr Erbe lebt in den kunstvollen und mutigen Experimenten der Magazine weiter.


Titelbild: Heike Willingham


 


 


https://www.youtube.com/watch?v=HAbqIfwDXTM


https://youtu.be/gePgd-OTuMs


 


 

Werk

Eigenständige Veröffentlichungen

Veröffentlichungen in Anthologien

Es gibt das Rot nicht mehr. Der Maler Michael Voges (1953-2002)

Galerie Parterre/ Berlin 2023 Ausstellungskatalog

Versnetze_14

Verlag Ralf Liebe 2021

Versnetze_zwölf. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart, hrsg. v. Axel Kutsch

Verlag Ralf Liebe/Weilerswist 2019 Lyrik

Versnetze_elf. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart, hrsg. v. Axel Kutsch

Ralf Liebe/Weilerwist 2018 Lyrik

Zugezogen: Flucht und Vertreibung - Erinnerungen der zweiten Generation

Schöningh Paderborn 2016-09-12

Gegenstimmen. Kunst in der DDR 1976-1989

Deutsche Gesellschaft e.V. / Martin-Gropius-Bau Berlin 2016 Katalogtext

Vogel oder Käfig sein: Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften in der DDR 1979-1989 (Edition Galrev)

Galrev Druck- u. V.-G. 1999-12

In: Pogranicza

Szczecinski Kwartalnik Kulturalny Nr. 1, Szczecin 1998 Lyrik

In: Stechapfel 25

Literaturbüro Leipzig e.V., Leipzig 1994 Lyrik

Versnetze_15

Verlag Ralf Liebe 2022

Versnetze_dreizehn. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart, hrsg. v. Axel Kutsch

Verlag Ralf Liebe/Weilerswist 2020 Lyrik

Zwischen den Zeilen. Hg. Yael Almog und Michal Zamir

Passagen Verlag / Wien 2019 Lyrik

Versnetze_zehn. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart

Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2017 Lyrik

Abwärts

Basis Druck Berlin 2016 Lyrik

Stimmen der Freunde: Gerhard Wolf zum 85. Geburtstag

Verlag für Berlin-Brandenburg 2013-10-16 Prosa/Lyrik

In: Hi.e.ms, 2 (6)

Corps & biens, Dragnignan 1998 Lyrik

Ein Text für C.W.: Zum 65. Geburtstag. Mit 19 Abbildungen aus der Grafik-Edition "Ein Blatt für C.W."

Wolf, Gerhard 1994

Veröffentlichungen in literarischen Zeitschriften

Herzattacke

Kunstverein "Herzattacke", Berlin ab 1998 Literatur- und Kunstzeitschrift

In: bateria

Fürth 1986/ Nr. 7/8

In: Perspektive

Graz 1994/ Nr. 26; 28

In: Schaden

Berlin 1986-1988

Herausgeberschaften

Zeitschrift Herzattacke

Kunstverein "Herzattacke", Berlin seit 2016 Literatur- und Kunstzeitschrift (gegründet v. Maximilian Barck)

Über Werk / Autor

Papierboot: Autorinnen aus der DDR - inoffiziell publiziert

Königshausen u. Neumann 1997

sonstige Werke

Rundfunkessay DS-Kultur zur Verleihung des Nicolas Born Preises an Ulrich Zieger; Katalogtext Projekt "Visum", Katalogtext zur Ausstellung von Eva Niemann; Texte und Installation Projekt Changeant, Waschhaus Potsdam; Gedichtvertonungen von Michael Dubach und Bardo Henning


https://youtu.be/gePgd-OTuMs


https://www.youtube.com/watch?v=HAbqIfwDXTM


https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritik/yael-almog-michal-zamir/zwischen-den-zeilen?fbclid=IwAR0idC0mWAAlb0-m6ZBaOR2unbohTIqdmSff0AFM3AN7tpARJ9f35ElY2S0


https://www.aviva-berlin.de/aviva/content_Literatur_Juedisches%20Leben.php?id=1420767&fbclid=IwAR2750U7TLKBTSGtt8piIH5BlL6mGjpcng3SOFYfsFGjOKXqLM8ADomf3gM


https://de.wikipedia.org/wiki/Herzattacke_(Kunstzeitschrift)


http://herzattacke.net/kunstzeitschrift/


 


 

Multimedia

Zuletzt durch Heike Willingham aktualisiert: 16.05.2023

Literaturport ID: 666