Johanna Lier

Steckbrief

geboren am: 9.12.1962
geboren in: Schweiz
lebt in: Zürich

Kontakt: Waffenplatzstrasse 91, 8002 Zürich

Vita

2007/2008: Arbeit an den Romanen «Wildnis» und «Die Zwillinge».

2006: «we always bang bang. sorry for that», Theaterstück, no-made production, Zürich.
Off-Text für den Dokumentarfilm «Vietnam Transgen», von Thomas Isler, Zürich.

2005: «Stoffe», Theaterstück für «Nicht Himmel, nicht Hölle», Islamprojekt, Theater Maralam, Zürich.
Poesieplakat in «Lokale Aufhellungen», Helmhaus, Zürich.

2002/2003: Poesie Installationen, Dada-Haus Cabaret Voltaire / Sihlpapierfabrik, Zürich.

1998 - 2006: Performances mit den MusikerInnen und PerformerInnen Saadet Türköz, Bernhard Göttert, Wolfgang Suppan, Ilia Vasella, Stella Brunner und Lilian Frei an Festivals in Österreich, Ungarn, Slowakei, Tunesien, Argentinien, Chile, Syrien und der Schweiz.

1998 - 2006: Redaktorin bei der Wochenzeitung WOZ, Ressort Szene und Kultur. Freie Journalistin u.a. bei NZZ, «Der Bund», «St. Galler Tagblatt».

1996: Schreiben und Regie in «Der gefallene Engel im Hotel Schweiz», Theater an der Winkelwiese, Zürich.
Konzept und Regie für «Der Zirkus» von Charlie Chaplin, audiovisuelles Projekt mit dem Zürcher Kammerorchester.

1995–1996: Organisieren von «Sofa für Sappho», Lyrikveranstaltungen, Theater an der Winkelwiese, Zürich.


1984–1998: Arbeit als Schauspielerin u.a. im Teatro Matto, Zürich / Theater E.C.T., Basel / Theater an der Winkelwiese, Zürich / Vanillehärz Produktion, Zürich / Theaterlabor InSitu, Chur. Tourneen durch Deutschland und Österreich.

Arbeit als Schauspielerin in Filmen u.a. «Höhenfeuer» von Fredi M. Murer / «Himmel und Hölle» von Samir / «La Nuit de l’Eclusier» von Franz Rickenbacher / «Männer auf Rädern» von Thomas Carle / «Noch ein Wunsch» von Thomas Koerfer u.a

Würdigung

1993 Kulturpreis der Stadt Küsnacht. 1999 Literaturpreis der Dienemann Stiftung / Luzerner Musikfestwochen. 2000 Werkjahr der Stadt Zürich. 2003 Stipendium des Bundesamtes für Kultur. 2006 Preis für das Schreiben von Theaterstücken der Schweizerischen Autorengesellschaft. 2007 Werkbeitrag der Steo-Stiftung, Zürich. 2007 Werkbeitrag der Gamil-Stiftung, Zürich. 2008 Auszeichnung der UBS-Jubiläumsstiftung. 2009 Werkbeitrag der Kulturstiftung des Kantons Thurgau.

Aktuelles


HANNA, KIND DER Kristina, Kind der Nelly, Kind der Deborah, Kind der Clara.   
Kind einer langen Kette, die ihre Glieder ausdehnt, über weite Landstriche, durch tiefe, sich in die Ebenen ergiessende Täler, durch Sümpfe, den Seen und ruhig dahin fliessenden Flüssen entlang, über das weich gewellte Hügelland, über hohe Gebirge, durch Steppen und dunkle Wälder, durch von gleichgültigen Menschen bevölkerte Städte und von feindseligen Bauern bewohnte Dörfer, an menschenleeren einsamen Häusern vorbei, ängstlich, erfreut oder auch gleichgültig Tieren begegnet, Wölfen, Bären, zeternden Gänsen, Füchsen, Dachsen, Wieseln, Eichörnchen und all den unzähligen Vögeln, im Frühling die Amseln, im Sommer die Lerchen, im Winter die hämmernden Spechte und Häher. Kind einer langen Kette, deren Glieder sich durch die Zeiten und Landschaften bewegen, unterirdische Wege und Kanäle schaffen, dann unvermutet wieder an der Oberfläche auftauchen, in die eisigen Winter, wenn das Blau des Himmels knirscht und der Schnee weich wie die Kissen der Säuglinge ist.   
Die Kinder finden in der düsteren Stube die Schnapsflasche, Selbstgebrannten, öffnen sie und saufen, torkeln raus, durch den frischgefallenen Schnee, diese weiche, flockige Masse, werfen sie wild in die Luft, toben, lassen sich fallen, graben sich ein, lachen, reissen die Jacken auf und wühlen den erhitzten Körper immer tiefer in das kalte Bett.   Und über Dir, liebe Deborah, strahlt der blaue Himmel so weit das Auge reicht, und prustet Dir vor Lust ins Gesicht. Und Du bohrst deine Sinne, ja die ganze Kraft Deiner Gedanken in diesen tief blauen Körper, wie eine Liebe, eine grosse Liebe, die Du andauernd anschauen, nicht mehr aus dem Blick lassen willst, behalten, einverleiben, auffressen, verdauen und nicht mal scheissen, nur bei Dir behalten, für immer behalten, so geht es Dir mit diesem blauen Himmel, der Wölkchen pustet und Vögel in alle Richtungen verschickt, allein, um Dir ein Vergnügen zu bereiten, und ohnehin die Welt in diesem Moment nur für Dich und dein Vergnügen da zu sein scheint.   
Dein Atem geht stockend, nicht vor Angst, nein vor Freude, und die Brust zerspringt, doch der weiche Schnee umfasst Dich gerade noch rechtzeitig, wie damals, der mächtige, weiche Körper, mit der glatten, warmen Haut über den merkwürdige verlaufenden Knochen, Knochenwege, denen Du stundenlang mit den Augen gefolgt bist. Bis dann der runde, pralle Hügel mit der braunen, schrumpeligen Spitze sich Deinem Mund näherte, Pralinen, aus dem Spritzsack auf das Blech gedrückt, und um deren Süsse Du wusstest, bevor du Deine Lippen darum herum legtest. Und Du schlossest die Augen, drücktest mit dem Zungenrücken die Warze an den Gaumen und riebest gierig hin und her, bis die warme Flüssigkeit herauskam und Deinen Körper mit dieser Ekstase anfüllte, und die Augen kippten langsam nach hinten in das tiefste Innere Deines Kopfes und in die Dunkelheit.   
Wenn Du Glück hattest. Denn es konnte auch geschehen, dass eine Hand dir die Warze aus dem Mund riss, heftig und abrupt harter, kratziger Stoff sich zwischen Dich und das ersehnte Glück schob, und Du beiseite gelegt, abgelegt, wie eine zu schwere Tasche, ein lästiger Koffer, ein sperriges Bündel, beiseite gelegt, aus dem Weg geräumt und Du spürtest das Gewicht deines Körpers, die Härte des Bettes, die Anstrengung der Haut, die zu arbeiten begann, um die Wärme zu bewahren, die Schutzmauer aufzubauen, damit die Kälte Dir nicht das Leben aus deinem Leib herauszerren und fressen konnte, wie im Stall am Koben die Schafe das Heu. Und Dein Herz sich vor Angst nur noch im Kreise drehte, ohne Ausweg, so lagst Du auf die Geräusche horchend da, deine Sinne auf den grossen Körper ausgerichtet, der sich in den unterschiedlichsten Rhythmen näherte und wieder entfernte.   
Doch so wie das Meer ohne Wind keine Wellen wirft, hättest Du ohne diesen unberechenbar sich bewegenden Körper wohl nie verlangend deine Arme ausgestreckt.   Die Kinder im Schnee liegen selig, glücklich und still da und schlafen ein. Clara zieht sie schimpfend und zetternd ins Haus, reisst ihnen die Kleider vom Leib und verprügelt sie. Mit allem, was ihr gerade in die Hände gerät, schlägt sie auf ihre Kinder ein, um sich dann später klagend in eine Ecke zu verkriechen. Es sind ja keine Dämonen, es ist nur der Alkohol, der ihr die Kinder verdirbt. Doch das will sie so nicht sehen. Und kurz nach dem Besäufnis ergreifen sie in Richtung Westen die Flucht. Clara und ihre Kinder. Wenn schon die Seelen der Verstorbenen nicht aus ihren Kindern zu vertreiben sind, gelingt es vielleicht, vor ihnen davonzulaufen.   Weg aus dem Backsteinhaus, das unter wuchernden Pflanzen erstickt, weg von der kohlrabenschwarzen Erde, die von den Flüssen gebracht, diesen fetten, trägen Weizen hervorbringt. Ein Meer von Föhren, Birken, Eichen, aus dem Sand gewachsen, dunkler, zwischen den Gletschern zerriebener Sand. Störche, die durstig ihre Schnäbel in das Steppengras eintauchen und in Farben ertrinken, Pflaumenrot, Schleierweiss, Buttergelb, Lindengrün. Das Licht dringt zwischen die Föhrenstämme und entzündet diesen trockenen, duftenden Mund, einbrechen, durchbrechen, durch den Schlund der Wälder brechen. Der Hunger kippt wütend in die Unendlichkeit der Steppe hinein. Manchmal hält Clara schützend ihre Hand auf den oberen Teil des Rückens, die Halswirbel ihrer Kinder, und nimmt sie fest zwischen die Finger. Und diese klammern sich verzweifelt an ihre Fussknöchel, um nicht von dem geschüttelten Wagen in diese verschlingende Pflanzenwelt geschleudert zu werden, auf den Grenzmarksteinen aufzuprallen, in der Steppe kopflos schwebend verloren zu gehen. Clara, schnell und stark, würde sie endlich anhalten, das heruntergefallene Kind wäre bereits von gierigen Heuschrecken aufgefressen. So bleibt nur, die Peitsche auf den Rücken des Pferdes niedersausen zu lassen und hoffen, dass die Kinder sich festhalten. Antreiben und festhalten, die wütende Clara und ihre betrunkene Brut.   
Endlose Wege, die sich unersättlich durch die Landschaft fressen, Flüssen entlang, deren Hälse von Schilfkrägen gesäumt und aus deren feuchter, dunkler Wangenhaut Seerosenstoppeln wachsen. Nicht mal Clara weiss, wovor sie flüchtet. Ist es der Rachegott, der Hüter ihrer Albträume, oder sind es die berittenen Waldbewohner, die alles niedermetzeln, was ihnen nicht nach der Kehle grölt. Ist es der Kaiser, der ihr die Söhne für seine Kriegshändel raubt, oder die pflanzliche, zellstoffliche, sabbernde, erstickende, vor Chlorophylen platzende Galaxie, die auf ihre stupide, kreatürliche Art allen Lebewesen zum Atmen die Luft nimmt und dennoch nicht genug abwirft, um sie alle zu ernähren?    Abends setzt sich Clara auf die Erde und lässt flüssiges Brot durch ihre Kehle rinnen, bis ihr der Kopf in alle Himmelsrichtungen zerstiebt. Manchmal gibt es sogar eine Kuh. Gestohlene Milch. Heidelbeeren und Pilze, die der Wald hergibt. Und wenn in den Gärten die Feuer brennen, bekommen die Kinder Heimweh und heulen los. Denn Abends ist der Himmel farb- und trostlos, wie stinkend  fauliger Abfall. Clara starrt in die Landschaft hinein, Felder, Heidehäute, weidegrünes Haar, während des Tages pralle, gelbe, liebeshungrige Welt, um dann in der Dämmerung sich aufzulösen. Sie mahlt mit dem Mund und schmeckte die würzige, schwarze Erde, die zwischen den Zähnen knirschend zerschmilzt, das knackige Korn, das auf der Zunge Wurzeln schlägt, diese Weite, Sehnsuchtsweite, seelenzerreissende Weite, sinnlos, grausam, ihre Welt, weiche, süsse Welt, bitteres Bier, zum Sonnenuntergang dem Gott in seinen rachsüchtigen Schlund gegossen, zum Opfer, wirkungslos, doch immerhin betäubt, und hier will sie einst begraben sein.   
«Doch Du kriegst mich noch nicht.»   In ihrem Schluckauf droht und lacht die betrunkene Clara zu diesem Gott hinauf, der mit grosser Geste seine Hände ausstreckt und mit bösen Worten ihr ins Gewissen geifert. Regengüsse wie Umarmungen. Gewitterschübe wie Schläge auf den nackten Hintern. Wald und Wiese. Clara und Liebe. Ich und Du. Clara und die Kinder.  

Werk

Eigenständige Veröffentlichungen

Veröffentlichungen in Anthologien

60 Jahre Menschenrechte

Salis Verlag, Zürich 2008 Lyrik

Kettengedicht mit Ilma Rakusa, Hanna Johanson, Wanda Schmid und Ingrid Fichtner: Schreibart

Schwabe Verlag, Basel 1999 Lyrik

Delikates Lächeln: Käse und Katholiken

Pendo Verlag, Zürich 1997 Erzählung

keks: Warenmuster blühend

Im Waldgut, Frauenfeld 2000 Lyrik

kulissen: Einspeisen

ZIP Verlag, Zürich 1999 Lyrik

Veröffentlichungen in literarischen Zeitschriften

Lyrik: Entwürfe

Entwürfe, Zürich 2006 6

Lyrik: Manuskripte

Manuskripte, Graz 2005 4

Lyrik: Soglie

Soglie, Pisa 2005 12

Lyrik: Pandj Shanbeh

ASR-E, Shiraz 2004 5

Lyrik: Entwürfe

Entwürfe, Zürich 2002 17

Lyrik: Entwürfe

Entwürfe, Zürich 1999 8

Lyrik: Seiten

forumclaque, Baden 1996 2

Lyrik: Oriental Rudelook

Heinz Wohlers Verlag, Harrlach 2006 5

Lyrik: Signum

Verlag die Scheune, Dresden 2005 1

Lyrik: Entwürfe

Entwürfe, Zürich 2004 7

Lyrik: Perspektive

Perspektive, Graz 2003 4

Lyrik: Musikprotokoll

Steirischer Herbst, Graz 2000 1

Lyrik: Poesie International

Vorarlberger Autorenverband, Feldkirch 1999 2

Lyrik: Nizza

Nizza, Zürich 1990 1

Herausgeberschaften

Poesiememo

Edition Poesiexpress 1995 Erinnerungsspiel

sonstige Werke

«Der gefallene Engel im Hotel Schweiz». 1995. Theater an der Winkelwiese, Zürich. Theaterstück.
«Stoffe». 2005. Maralam Theater, Zürich. Theaterstück.
«we always bang bang. sorry for that». 2007. no.made production, Zürich. Theaterstück.

«Ein gewisses jüdisches Etwas». 2007. Landesmusum, Zürich. Poesieplakat.
«dar a luz». 2006. Festival Internacional Desformes, Santiago de Chile. Performance.
«Lokale Aufhellungen». 2003. Helmhaus, Zürich. Poesieplakat.
«Duck and Cat». 2002. Dada-Haus Cabaret Voltaire / Sihlpapierfabrik, Zürich. Poesie Installationen.

Literaturport ID: 935