Leselampe

2016 | KW 16

Buchempfehlung der Woche

von Sieglinde Geisel
Journalistin und Autorin, v.a. NZZ, Deutschlandradio Kultur. Gründerin von tell

Thomas Harlan
Heldenfriedhof
(Roman), Rowohlt Taschenbuch, 2011

Heldenfriedhof ist, gemäß seinem Autor Thomas Harlan, kein Roman, sondern ein Oratorium, ein Klagegesang. Eine Handlung gibt es in Heldenfriedhof so wenig wie eine chronologische Ordnung, überdies haben wir es mit einer mehrfach gespaltenen Hauptfigur zu tun: Enrico Cosulich zugleich der Doppelgänger und Autor von Heinrich Dürr. Während wir Heldenfriedhof lesen, lesen wir zugleich die Entstehung von Heldenfriedhof.

Es geht um die Mitglieder der Aktion Reinhardt, die in den Vernichtungslagern Treblinka, Bełżec und Sobibór weit über eine Million Menschen ermordet haben. Wir begegnen ihnen in Triest, wo sie in einer ehemaligen Reisfabrik noch einmal ein KZ einrichten und sich, als versprengtes Grüppchen, wieder neu sammelt. Thomas Harlan hat, als Sohn des „Jud Süß“-Regisseurs Veit Harlan, ein besonderes Verhältnis zu den Tätern der NS-Verbrechen: Die Verwandtschaft zwischen den Tätern und den Opfern gehört zu den untergründigen Motiven in Heldenfriedhof, zugleich verweigert er jede Einfühlung in die Täter. Als Leser sind wir Augenzeugen, wir hören die sie reden und schauen ihnen bei ihren alltäglichen Verrichtungen zu. Wir begegnen keinen Psychopathen, sondern ganz normalen Menschen, mit denen wir dereinst in der gleichen Erde liegen werden – dies eine beunruhigende Erkenntnis von Enrico Cosulich.

Wie soll man eine solche Prosa lesen? „Wer, welcher Leser wohl, wüsste nicht, dass ein Werk allein aus sich selbst die Gesetze ableitet, nach denen es hergestellt, aus nichts anderem als sich selbst gemacht und also autonom ist“ – in diesem Satz aus Heldenfriedhof steckt eine Leseanweisung: Als Leser hat man nur dann eine Chance, wenn man sich ebenfalls autonom verhält. Der Autor nimmt uns nicht an der Hand, sondern lässt uns auf eigene Faust den gewaltigen Stoff erkunden, den er hier zu bändigen versucht, unter Aufbietung von allem, was die deutsche Sprache leisten kann. So lesen wir im Kapitel zum Erdbeben von Assisi keinen Text über das Erdbeben, sondern wir erleben das Erdbeben, denn es findet in der Sprache statt, Worte fliegen umher, Sätze bersten. Im „Kapitel der Abbrüche“ geraten wir in eine Zeitschleife: Die Räumung des Warschauer Ghettos am 22. Juli 1942 – diesem „tief in die Weltgeschichte eingelassenen Datum“ – gerät ins Stottern, denn die Sprache verweigert sich diesem Ereignis, das nie hätte stattfinden dürfen. So lotet jedes Kapitel andere sprachliche Strategien des Erzählens und Nicht-Erzählens aus.

Entscheidend ist, mit welcher Haltung man Heldenfriedhof liest. Thomas Harlan ließ sich beim Schreiben nicht von Absichten leiten, sondern von der Sprache, und er gelangt dabei an Orte, „wo vor ihm noch niemand war“, um es mit den Worten von Joseph Brodsky zu sagen.
Mit „Heldenfriedhof“ betreten wir ein denkendes Gehirn. Lesend sind wir in einem Bergwerk unterwegs, in dem es Sackgassen gibt und Kathedralen, wir gehen in die Irre, rutschen auf Geröll aus – und finden Schätze, von denen wir nichts ahnten.

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