Leselampe

2016 | KW 22

© Ali el Baya

Buchempfehlung der Woche

von Hermann Wallmann
Künstlerischer Leiter des Lyrikertreffens Münster sowie Vorsitzender des Literaturvereins Münster, Literaturkritiker und Autor

Klaartje de Zwarte-Walvisch
Mein geheimes Tagebuch März - Juli 1943. Mit einer Einführung von Ad van Liempt und einem Nachwort zur deutschen Ausgabe von Leon de Winter.
Aus dem Niederländischen von Simone Schroth, C.H. Beck Verlag, München 2016.

Jemand musste die 32jährige jüdische Näherin Klaartje de Zwarte-Walvisch verleumdet haben, denn ohne dass sie - und auch ihr Mann - etwas Böses getan hätte, wurde sie im März 1943 im Amsterdam verhaftet und in das Frauenlager Vught, später in das Sammellager Westerbork „verbracht“, ehe die Nazis sie nach Auschwitz deportierten, wo sie sofort nach ihrer Ankunft im Juli 1943 ermordet wurde.

In den Wochen vor der Deportation führte sie ein Tagebuch, das nicht nur einer abschließenden Durchsuchung entging, sondern auch durch eine Verkettung von Zufällen erhalten – und schließlich im Jahr 2008 in Amsterdamer Museum für jüdische Geschichte wiederentdeckt und sowohl historisch als auch biographisch verifiziert wurde. Unter dem Titel „Alles ging aan flarden“ (Alles ging in Fetzen), ist das Buch 2009 in den Niederlanden und diesem Jahr hierzulande erschienen.

Leon de Winter hat recht, wenn er in seinem empfindsamen „Nachwort zur deutschen Ausgabe“ weniger die schriftstellerischen als die gleichsam „journalistischen“ Qualitäten von Klaartjes Aufzeichnungen hervorhebt. Tatsächlich ist es staunenswert, mit welch investigativen und selbstreflexivem Verantwortungsbewusstsein ich Klaartje von vornherein - und bis zuletzt - als Zeugin (einer zukünftigen Anklage) verstehe: „Ich hoffe inständig, dass alles, was ich hier schreibe, einmal die Außenwelt erreicht. Nicht um Propaganda zu betreiben, sondern nur, damit diejenigen, die von diesen Zuständen nichts wissen (und davon gibt es doch genug) davon erfahren. Wenn es einmal so weit kommt, dann kehren wir zumindest wieder in die Gesellschaft zurück. Für heute höre ich auf, denn gleich müssen wir zum Appell antreten. Diese Aufzeichnungen muss ich gut aufbewahren; ich darf gar nicht daran denken, was passiert, wenn sie dieses Büchlein finden.“

Die Absurdität und Brutalität des Lagerlebens“ verschlagen ihr immer wieder einmal die Stimme, aber sie ist und bleibt buchstäblich so frei, dass sie sich ihrer infernalischen Umgebung immer auch mal mit sarkastischem Humor zu erwehren vermag: „Wie man manchmal einfach so ein Stück Papier zerreißt, so wurden Herzen und Seelen zerfetzt und auseinandergerissen. Alles ging in Stücke. Alles wurde zertreten, beschmutzt und für immer zerstört. Das war Zivilisation. Das war Kultur. Das war das neue Europa.“ Klaartje de Zwarte Walfish ahnt nicht, wie nah sie mit dieser Einschätzung „anthropologische Irritation“ benennt, für die der Historiker Dan Diner 1988 den Begriff des „Zivilisationsbruchs“ geprägt hat.

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