Die Entstehung der Rubrik sowie die Berliner Literatouren wurden 2008 ermöglicht durch die Berliner Landesinitiative »Projekt Zukunft« kofinanziert durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE).

Katja Lange-Müller

Auf der Grenze

Tobias Bohm
ca. 3 Std. ca. 3 km Auf der Grenze

Die ehemalige Grenzgegend und auch heutige zwischen Mitte/ Mitte und Mitte/ Wedding. Brachflächen, Wunden, Bau- und Verkehrslärm: da hilft nur Friedhofsruhe und am Ende ein "Magendoktor".

Als Hör-Tour

Gelesen von Katja Lange-Müller
Laufzeit: 12:15

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Katja Lange-Müller

»Auf der Grenze«

Fotos: Tobias Bohm



Manchmal brauche ich Ruhe – verdammt noch mal! Aber Zeit habe ich auch nicht viel und immer Sehnsucht nach Orten, die denen meiner Kindheit wenigstens ähneln. Unaufgeräumten Orten, an denen das Unkraut wuchert, sich Viecher wohlfühlen: Häschen, Elstern, Spatzen, Feuerwanzen und Katja. Glücklicherweise gibt es – nicht weit weg von meiner Bude in der Weddinger Malplaquetstraße, gerade dort, wo die Mauer den westlichen Norden Berlins von der östlichen Mitte trennte – ein paar „Gottesäcker“, die denen ähneln, auf denen ich einst die Zeit vergaß und darum manche Schulstunde schwänzte. Doch allzu lange verträgt der großstädtisch sozialisierte Mensch die stille Idylle nicht; dann führt ihn sein Spaziergang auf der Grenze, richtiger auf den Grenzen des „guten Geschmacks“ womöglich zurück in den Wedding, dorthin wo es noch ein paar Spelunken gibt, die tief, feucht und belebt sind, wie, ja, wie Friedhofserde…

Presslufthammergedröhn am Vormittag? Nachmittags Technosound aus weit offen stehenden Fenstern? Hupintensiver Türkenhochzeitsautokorso am Abend? Dann nichts wie weg in die – eh immer nur relative – Stille. Gern „verrate“ ich ja nicht, wo man die findet, ohne dass man zuvor lange, umständliche, permanent vom Pendel- und/oder Schienenersatzverkehr bedrohte Fahrten mit der „öffentlichen Anstalt“ oder Staus auf sämtlichen Hauptverkehrsstraßen in Kauf nehmen müsste; aber da nicht sicher ist, ob man in der Gegend noch frei rumlatschen darf, wenn die neue Zentrale des Bundesnachrichtendienstes (entsteht auf dem Gelände des ehemaligen Walter-Ulbricht-Stadions) erst einmal fertig ist, will ich nicht so egoistisch sein.

Kaninchenfeld

Am ehemaligen innerstädtischen Grenzübergang, zwischen den Bezirken Wedding und Mitte in der Chausseestraße
Anfahrt: U-Bahnhof Schwartzkopffstr. (U6)

Webseite

Kaninchenfeld

Also: Steigen Sie U-Bahnhof Schwarzkopfstrasse aus, stellen Sie sich in Blickrichtung Wedding auf die Chausseestrasse, lassen Sie die eben erwähnte BND-Baustelle links liegen und schauen Sie über ein Stück vermüllten Graslands auf die löchrige Randmauer des Alten Domfriedhofs der St. Hedwigsgemeinde und auf die S-Bahn-Brücke dahinter und dann gleich wieder zurück auf ihre Füße. Behalten Sie diese nun einigermaßen streng im Auge und gehen Sie ein paar Meter Richtung Friedrichstrasse. Ja, genau, die Häschen; Männchen machende, furchtsam geduckte und davonlaufende lebensgroße Häschen, genauer Kaninchen, aus geriffeltem Messing – wie Intarsien eingepasst in die Gehwegplatten und in den Belag der Fahrbahn. Obwohl die jeden Tag tausendfach überrollten Fahrbahnkarnickel, speziell diese, auffallend goldig glänzen, entdeckte ich sie eher zufällig, als ich einmal ein etwa sechsjähriges Mädchen  beobachtete, das, auf einem Bein springend und immer mal eine Gehwegplatte auslassend, „Himmel und Hölle“ zu spielen schien. Doch seltsamerweise fehlten die Kreidequadrate, die wir uns früher eigens für dieses Spiel aufs Pflaster gemalt hatten, und das Mädchen bewegte sich nicht systematisch vorwärts, sondern in scheinbar willkürlicher Zickzackchoreografie, und erst als ich aufmerksamer hinschaute, entdeckte ich, dass es von Kaninchen zu Kaninchen hüpfte oder von Erdnuckel zu Erdnuckel. – Diese im Sächsischen gebräuchliche, rührende Metapher ist durchaus angebracht, denn die Künstlerin, der wir dies erstaunlich heitere und darum umstrittene Denkmal namens „Kaninchenfeld“ verdanken, heißt Karla Sachse.

Umstritten waren und sind die niedlichen Viecher, weil der Ort, an dem sie sich in die Gehwegplatten ducken und über den Damm hoppeln, nicht irgendeiner ist. Die 120 Messingkarnickel markieren den ehemaligen Todesstreifen vor der Berliner Mauer, die den Westberliner Wedding, den man heute gerne den „Osten des Westens“ nennt, gerade hier vom Hauptstadtbezirk Mitte trennte; und nun symbolisieren Sachses Geschöpfe jene friedlich-flauschigen Nachbarn, die den menschlichen Anwohnern dieser immer noch etwas grusligen Gegend den Fensterblick weiland wohl etwas erträglicher gemacht hatten, denn für die Kaninchen gab es – selbst im permanenten Flutlicht und zwischen den Panzersperren – immer nur „Mümmeln, Rammeln und Sein“.

Friedhöfe

Der Friedhof II der Domgemeinde, der alte Domfriedhof der St.-Hedwigs-Gemeinde und der Friedhof der Französisch-Reformierten Gemeinde liegen nebeneinander an der Südseite der Liesenstraße im Bezirk Mitte.

Friedhöfe an der Liesenstraße

Etliche der realen Kaninchen vom echten Todesstreifen, auch das gilt mir als eine Art Happy End, sind sicher problemlos umgezogen auf den einen oder anderen der vier Friedhöfe an der bemerkenswert stillen, nach dem Berliner Gastwirt Carl Adolf Friedrich Liesen benannten Liesenstraße, die eh ganz den Kaninchen, den Vögeln und den Toten zu gehören scheint, weil die gerade mal 500 Meter Liesenstraße einzig und allein Friedhöfe voneinander trennen; einer, der Dorotheenstädtische, liegt linkerhand, also nördlich, im Wedding, die anderen liegen rechts, auf der Südseite.   

Meine drei Lieblingsfriedhöfe sind die ältesten von den vieren, jene rechts, die zum Osten gehörten: der wunderbar verwilderte Friedhof II der Domgemeinde, der Friedhof II der Französisch-Reformierten Gemeinde, in dessen lehmigem Sand der große Märker Fontane ruht, und vor allem der 1834 geweihte, am Eingang von zwei riesigen Marmorengeln flankierte Domfriedhof der St.-Hedwigsgemeinde, einer der wenigen katholischen Friedhöfe Berlins. Dort herrscht, abgesehen, richtiger abgehört, vom auch bloß im Frühjahr vernehmlichen Amselgezwitscher, wahre Friedhofsruhe. Und falls Ihnen hier wirklich mal ein Mensch entgegenkommen und Sie um Feuer bitten sollte, so sein Sie sicher, dass er nicht Rauchen, sondern bloß ein Grablicht entzünden will. Sie können sich im Schatten einer halbverfallenen Familiengruft auf ein Holzbänkchen setzen und die zutraulichen Kohlmeisen füttern oder einen Krimi lesen; kein Säufer, kein Junkie, keine Mutti mit plärrendem Kleinkind im Wagen werden sie stören. Es gibt kaum Wege, aber genug Efeu, hohes Gras und noch viel höhere, uralte Bäume.

Ich weiß nicht ganz präzise zu sagen, was diesen Ort zu einem so besonderen macht. Womöglich die Tatsache, dass die einstige Absurdität dieser Grenzgegend, ja, der ganzen Stadt, hier noch am spürbarsten ist. Denn mitten durch den Friedhof, der bis Ende 1989 nur mit einem Passierschein betretbar war, verlief jenes Bauwerk, das die längst Beerdigten – je nach Lage – in West- und Osttote unterschied. Und noch immer stehen im östlichen Teil des St. Hedwigs-Friedhofes etwa 200 Meter Mauer der so genannten Vorfeldsicherung; die damals in den frischen Beton dieses Plattenabschnitts geritzten Daten aus den Monaten Oktober bis Dezember 1974 und einige der alten Graffiti sind, warum auch immer, von den Souvenirjägern verschont geblieben. Zwischen den Friedhöfen wölbt sich die gleichnamige, alle paar Minuten aus beiden Richtungen von S-Bahnen befahrene Brücke über die Liesenstraße. Das stört die Idylle für Momente und macht das Gelände insgesamt noch grotesker als es eh schon ist.

Natürlich kann ich, über einen Friedhof schreibend, die dort Verscharrten nicht unerwähnt lassen, etwa die namenlosen 429 Opfer der Choleraepidemie von 1849 und die genau 1111 Opfer der gleichen Krankheit von 1866.
Auch die sterblichen Überreste der Barmherzigen Schwestern vom Kloster des Heiligen Karl Borromäus und die der Schwestern des St. Hedwigs Krankenhauses sowie die der Maler Peter von Cornelius und Carl Joseph Begas, des Bildhauers Ceccardo Gilli, des Theologen Bernhard Lichtenberg, des Mathematikers Karl Weierstraß und vieler anderer, mehr oder weniger berühmter Persönlichkeiten des 18. und 19. Jahrhunderts ruhen hier. Gleich hinter der schönen Kapelle aus rotem Backsein befindet sich das Grabmal des katholischen Geistlichen Carl Sonnenschein, den Kurt Tucholsky den „Zigeuner der Wohltätigkeit“ genannt hatte, eine gruslig expressionistische Skulptur des gekreuzigten Heilands, die der später nahe bei seinem Freund Sonnenschein beerdigte Bildhauer Hans Perathoner geschaffen hat. Doch das Erwähnte, die Gottesäckerstatistik, die seltsame Stille, das viele Grün und der hohe Himmel, erklärt nicht den seltsamen, widersprüchlichen Reiz dieses Ortes, an dem die Wunden der Stadt bloßliegen wie kaum mehr an einem anderen, und der gleichzeitig völlig unberlinisch anmutet.

Magendoktor

Reinickendorfer Str. 111
13347 Berlin

Tel.: 030-4619645

Geöffnet:
Mo, Di, Mi, Do, Fr, Sa, So: 00:00 - 24:00 Uhr
Anfahrt: S-Bahn S+U Wedding: S41, S42
U-Bahn U Reinickendorfer Str./Fennstr.: U6
Bus Nettelbeckplatz/S Wedding: 247, M27

Magendoktor

Wenn dann die Sonne untergeht und der Durst sich meldet, wenden Sie sich nicht, wie die meisten Touristen, ostwärts der Oranienburger Strasse mit den sattsam bekannten Szenetreffs zu, nein, gehen Sie westwärts am Saum des Flüsschens Panke und an Grüppchen grillvergnügt in den Gärten hinter verkommenen Mietskasernen hockender Türken entlang bis zum Nettlebeckplatz, dem „Herzen des Wedding“, des alten Arbeiterbezirks, der hier noch nicht komplett orientalisiert ist, sondern – abgesehen von einer erstaunlich guten und billigen kroatischen Speisewirtschaft – diverse Originalberliner Lokalitäten um sich versammelt, wüste, meist zu jeder Tages-, respektive Nachtzeit derart gähnend leere Schuppen, dass man sich schon fragt, womit die eigentlich ihren Umsatz machen. Oder sind es bloß als Kneipen getarnte Geldwaschanlagen? Egal; lassen Sie all die anderen beiseite; wählen Sie die eine, nur den Eingeweihten (Sie dürfen sich ab morgen auch so nennen!) bekannte Institution, eine lebende und – zumindest während der ersten Woche eines x-beliebigen Monats auch belebte – gastronomische Legende, die schließzeitlose Kneipe „Zum Magendoktor“, die, wie ich aus gut unterrichteten Kreisen erfuhr, am 2. Januar 2006 das letzte Mal für bestenfalls zwei Stunden dicht war, weil die Wirtin einige ihrer dauerinsolventen Stammkunden dazu verdonnert hatte, den Laden feucht durchzuwischen. Hier hängen, in dicke Staubmäntel gehüllt, ausgestopfte Eulen, Milane, Hirschgeweihe, ein Wildschweinkopf und traurig vergilbte Ölschinken herum; es gibt eine Jukebox, die sämtliche Hits der Schöneberger Sängerknaben draufhat, sehr viel Helga Hahnemann und Elvis Presley, und dennoch meistens der blonden Wirtin Lieblingslied spielt: Roger Whittakers „Abschied ist ein scharfes Schwert“. Das Publikum, unter das sich auch immer ein paar Mitwirkende mischen, besteht aus einem Dauerschläfer am Tresen, den nichts und niemand je zu wecken vermag,  Weddinger Schluckspechten, den in der Nachbarschaft hausenden Malern und Bildhauern, von weiter weg angereisten Fans der Wirtin oder des Lokals, Gelegenheitsgästen und Touristen, die sich womöglich verirrt haben, dann aber doch nicht mehr loskommen, von der Doppelkornflasche, aus der zügig und großzügig nachgeschenkt wird; jeder dritte „jeht uff’s Haus“.

Im „Magendoktor“, das schwöre ich Ihnen, ist auch Ihr Spaziergang für eine ganze Weile, wenn nicht gar für immer zu Ende. Falls Sie nicht geplant haben sollten, so lange zu bleiben, passen Sie bloß auf, dass Sie drei Euro für die Rückfahrt zu Ihrem Hotel oder Ihrem sonstigen Berliner Unterschlupf im Portemonnaie behalten, denn hier gilt jene Parole, die „Der Unbekannte Zecher“ über dem Waschbecken der Herrentoilette hinterlassen hat: „Ich trinke Jägermeister, weil ich überall dabei bin, wo nichts los ist. Aber gerade dort gefällt es mir am besten.“