Die Brandenburger Literatouren sind mit freundlicher
Unterstützung der Landeshauptstadt Potsdam und des
Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur
des Landes Brandenburg in den Jahren 2008 und 2009 entstanden.

Jürgen Israel

Tragik und Königtum. Ein literaturgeschichtlicher Rundgang durch Potsdam

Peter Walther
ca 4 Stunden ca 4 Kilometer Potsdam historisch

Jürgen Israel

»Tragik und Königtum. Ein literaturgeschichtlicher Rundgang durch Potsdam«

Fotos: Peter Walther


Jede historische Erkundung Potsdams sollte vom Alten Markt, dem einstigen Zentrum der Stadt, ausgehen, weil man auf diese Weise ganz beiläufig ein Gefühl für Konzentration und Peripherie bekommt, für Dichte und Auflockerung.


Am Alten Markt










































Altes Rathaus
Am Alten Markt
14467 Potsdam
Tel.: Besucherservice: (0331) 289 63 36
E-Mail: altes-rathaus@rathaus.potsdam.de
Di.-So. 10-18 Uhr



















Filmmuseum Potsdam

Breite Straße 1A
14467 Potsdam

Tel: (0331) 27181-0
info@filmmuseum-potsdam.de
Museum täglich geöffnet von 10-18 Uhr.
Einlaß bis 30 Minuten vor Schließzeit.

Webseite

I

Wenn wir vom Hauptbahnhof kommen und auf der Langen Brücke die Havel überqueren, sehen wir zur Rechten das frühere Rathaus mit dem vergoldeten Atlas auf dem Dach sowie die Kuppel der von Schinkel entworfenen Nikolaikirche. Seit 2002 ist nun auch noch die Kuppel des Fortunaportals zu sehen. Zur Linken sehen wir auf den Neubau des Mercure-Hotels und den Marstall, der heute ein Filmmuseum beherbergt. Was nicht zu sehen ist, was aber den Alten Markt zum Zentrum Potsdams machte, war das Stadtschloss. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm hatte auf dem Gelände einer alten Burg zwischen 1664 und 1670 ein Barockschloss nach holländischem Muster errichten lassen. Unter seinen Nachfolgern wurde stets weiter daran gebaut. Im Bombenangriff vom 14./15. April 1945 wurde es schwer beschädigt und 1960/61 vollständig abgerissen. Der Marstall ist der einzige erhaltene Rest der Schlossanlage. 1992 wurde die Rekonstruktion des Fortunaportals und der Seitenflügel auf den noch vorhandenen Grundmauern beschlossen. Seit der Fertigstellung des Portals 2002 hat der Alter Markt seine drei Kuppelbauten wieder erhalten. Über die Art des Wiederaufbaus und die zukünftige Nutzung des Stadtschlosses gab es heftige Auseinandersetzungen. Nunmehr steht fest, dass der ursprüngliche Charakter des Alten Marktes rekonstruiert und in einem Neubau mit dem Äußeren des Stadtschlosses der Landtag sitzen wird.
Bei dem erwähnten schweren Bombenangriff vom April 1945 wurden auch das Alte Rathaus und das an der Ecke zur ehemaligen Brauerstraße gelegene Knobelsdorff-Haus schwer beschädigt. Nach dem Krieg wurden beide Gebäude durch einen Zwischenbau verbunden und zu einem Kulturzentrum umgebaut. Seinen Namen hat es nach dem sozialistischen Arbeiterschriftsteller Hans Marchwitza (1890-1965) bekommen, den Peter Huchel trotz aller ideologischen und ästhetischen Unterschiede wertgeschätzt hat.
Ansonsten ist der Alte Markt jetzt eine riesige Baustelle. Der Wiederaufbau des Schlosses wird vorbereitet – und zwar fast durchgängig einen Meter unter dem jetzigen Niveau, damit soll der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt werden. Das Fortunaportal kann davon bereits einen Eindruck vermitteln.

In der Aussichtskuppel des Rathauses erhielt der Naturforscher und Weltreisende Alexander von Humboldt 1849 den Ehrenbürgerbrief der Stadt Potsdam. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. hatte Humboldt nach Potsdam eingeladen und ihm angeboten, im Ostflügel des Stadtschlosses zu wohnen. Im August 1827 bezog Alexander von Humboldt tatsächlich für längere Zeit eine Wohnung im Schloss. Der Literaturwissenschaftler Friedrich Althaus, ein jüngerer Freund Humboldts, beschrieb dessen Arbeitsraum folgendermaßen: Ein geräumiges, schattiges Zimmer, durch ein breites Bogenfenster angenehm erhellt; die für das einfachste Bedürfnis erforderlichen Möbel, einige Porträts im Renaissancetypus an den Wänden, große und kleine Tische voller Bücher, Mappen und Papier: auf den ersten Blick das Zimmer eines Gelehrten; und am Arbeitstisch, dem Fenster nahe, Humboldt, mit Schreiben beschäftigt.

Humboldt mit Schreiben beschäftigt – er hat vielbändige Reisebeschreibungen verfasst, in denen er geografische, naturwissenschaftliche, ethnografische aber auch archäologische und sprachwissenschaftliche Erkenntnisse ausbreitete, die er auf seinen Reisen gesammelt hatte. In dem fünfbändigen Werk „Kosmos. Versuch einer physikalischen Weltbeschreibung“, 1845-1862, legte er das gesamte zeitgenössische Wissen über die Erde nieder.

Vor Humboldt waren bereits französische Aufklärer, Wissenschaftler, Philosophen und Schriftsteller, im Stadtschloss aus- und eingegangen: zu den Gästen Friedrichs II., der ein großer Liebhaber französischer Sprache und Literatur war, gehörten unter anderem der Physiker und Mathematiker Pierre Louis Moreau de Maupertuis, den Friedrich II. zum Direktor der philosophischen Klasse der preußischen Akademie der Wissenschaften ernannte; der Mathematiker Jean Baptiste Marquis d´ Argens, der bei Expeditionen in Lappland nachgewiesen hatte, dass die Erde keine Kugel ist; der Philosoph und Arzt Julien Offray de La Mettrie, dessen atheistische Schrift „Der Mensch als Maschine“ ihn in ganz Europa bekannt machte; und als berühmtester von allen und der von Friedrich II. am meisten umworbene und geschätzte Voltaire, Dichter und Philosoph. Er kam 1750 nach Potsdam, hatte hier gute Arbeitsbedingungen, wurde reichlich entlohnt und musste dem König täglich zwei Stunden zur Verfügung stehen. Über die Mahlzeiten des Königs schrieb er: An keinem Ort der Welt ist wohl je so frei über allen Aberglauben der Menschen gesprochen und dieser mit mehr Spott und Verachtung abgetan worden. Gott selbst wurde nicht angetastet, aber allen denjenigen, die in seinem Namen die Menschen betrogen hatten, ließ man keine Schonung widerfahren.         

Wenigstens erwähnt werden soll noch ein berühmter Künstler, der von Friedrich II. im Schloss empfangen wurde, wenn er auch kein Literat war: 1747 kam Johann Sebastian Bach mit seiner zweiten Frau Anna-Magdalena und seinem ältesten Sohn Friedemann nach Potsdam, um seinen dritten Sohn Carl Philipp Emanuel zu besuchen, der der königlichen Kapelle angehörte. Noch in Reisekleidern musste Bach dem König seine Aufwartung machen. Dieser gab ihm das Thema zu einer Fuge, die Bach auf dem Pianoforte ausführte. Nach der Rückkehr schrieb er "Das musikalische Opfer", in das er die vor dem König gespielte Fuge einbezog. Er widmete Friedrich II. das Musikstück und schickte es ihm. Honorar und Dankschreiben bekam er nie dafür.

Hinter dem Alten Markt, an der Burgstraße, lag die im April 1945 ebenfalls zerstörte Heilig Geist-Kirche. Hier war ab 1776 Johann Heinrich Campe Hilfsprediger. Von 1769 bis 1773 war er Hauslehrer bei den Brüdern Wilhelm und Alexander von Humboldt im Schloss Tegel gewesen. 1773 wurde er Feldgeistlicher beim Regiment Prinz Heinrich in Potsdam, von wo er nach Dessau an Basedows Philanthropinum ging. In ganz Deutschland bekannt geworden ist er durch die Bearbeitung von Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“ für Kinder und Jugendliche. Goethe freilich verspottete ihn in mehreren Xenien wegen seiner pedantischen Bemühungen, die deutsche Sprache zu reinigen:

  An des Eridanus Ufern umgeht mir
  die furchtbare Waschfrau,
  Welche die Sprache des Teut säubert
  mit Lauge und Sand.


Goethe selbst hat in unmittelbarer Nähe des Stadtschlosses übernachtet, in Haus Nr. 7 der früheren, zeitweise zur Brauerstraße gehörenden Schlossstraße (später Am Schloss, danach Humboldtstraße; das Straßenstück existiert nicht mehr). Dort stand das im Renaissancestil erbaute vornehmste Gasthaus Potsdams, „Prinz von Preußen“. Am 15. Mai 1778 legte Goethe mit dem inkognito reisenden Herzog Carl August von Sachsen-Weimar und einem Kammerherrn auf der Fahrt nach Berlin hier eine Rast ein. Carl-August wollte über den Anschluss Weimars an Österreich verhandeln. Bereits bei der Einfahrt in Potsdam hatten die Weimaraner die Nikolaikirche, das Stadtschloss sowie das Rathaus mit dem goldenen Atlas wahrgenommen. Auf der Rückreise, vier Tage später, übernachteten die Reisenden im „Prinz von Preußen“ und besuchten am nächsten Tag eine am Ostrand des Parks von Sanssouci  gelegene Bildergalerie. Den Marstall übrigens bezeichnete Goethe bei seinem Besuch als „Exerzierstall“.


Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte GmbH
Schloßstr. 12
14467 Potsdam

Telefon: (0331) 620 85-50
Di.-Fr. 10-17 Uhr, Sa./So. 10-18 Uhr.











Kabinetthaus

II

Der Neue Markt wurde zwischen 1715 und 1720 angelegt. An der südwestlichen Ecke wird er vom ehemaligen Kutschstall begrenzt, in dem sich jetzt das Haus für Brandenburgisch-Preußische Geschichte befindet. Dieses 1787-91 von Andreas Krüger erbaute Gebäude bestimmt den Platz. Der Eingang zum Kutschstall ist in Form eines Triumphbogens gestaltet, der von Darstellungen aus der Pferdehaltung bekrönt und eingerahmt wird.

In dem Haus rechts neben dem Kutschstall, Am Neuen Markt 8, lebte der Verleger und Drucker Werner Stichnote, dessen Bücher durch besonders sorgfältige typografische Gestaltung auf sich aufmerksam machten. Bei ihm fand der Verleger Peter Suhrkamp Anfang 1945 nach der Entlassung aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen erste Unterkunft. Der 1891 in Kirchhatten bei Oldenburg geborene Suhrkamp war Lehrer, Dramaturg und Regisseur, hatte als freier Mitarbeiter am Berliner Tageblatt und in der Zeitschriftenredaktion des Ullstein-Verlags mitgearbeitet, bis ihn Samuel Fischer 1933 als Herausgeber der Zeitschrift "Die neue Rundschau" in seinen Berliner Verlag holte. Ab 1934 leitete er den Verlag gemeinsam mit Fischers Schwiegersohn Gottfried Bermann Fischer und ab 1936 allein. Ende 1936 erzwang das Propagandaministerium, dass eine Kommanditgesellschaft mit Suhrkamp als persönlich haftendem Gesellschafter die in Hitler-Deutschland erwünschten Teile des Verlagsprogramms kaufte. Das jüdische Familienunternehmen war damit zerschlagen. Den literarisch bedeutenderen Teil übernahm der Bermann-Fischer-Verlag Wien. 1938 floh Bermann-Fischer nach Stockholm. Suhrkamp gelang es, den Verlag auf relativ hohem Niveau zu  halten, bis er selbst im April 1944 wegen Hoch- und Landesverrats verhaftet und ins Konzentrationslager gesperrt wurde. So lang es möglich war, hielt Hermann Kasack das künstlerische Niveau. Bereits im Oktober 1945 erhielt Suhrkamp als erster deutscher Verleger von der britischen Militärverwaltung die Lizenz für einen Buchverlag, zunächst in Berlin und danach in Frankfurt/M.

Heute befindet sich unter anderem die Bibliothek des Moses-Mendelssohn-Zentrums für jüdische Studien der Potsdamer Universität in diesem Haus.

Am Haus Nr. 1 des Neuen Markts, dem Kabinetthaus, befindet sich eine Gedenktafel, die darauf hinweist, dass hier 1770 König Friedrich Wilhelm III. geboren wurde und vermutlich 1767 Wilhelm von Humboldt, der zwei Jahre ältere Bruder Alexanders. Der Vater war Kammerherr; zwei Jahre nach Wilhelms Geburt gab er seinen Posten in Potsdam auf und zog mit der Familie in das Tegeler Schloss, das seiner Frau gehörte. Wilhelm von Humboldt studierte Rechts-, Staats- und Altertumswissenschaften, wurde preußischer Gesandter, unter anderem in Rom, wo auf dem protestantischen Friedhof noch der Grabstein für seine dort gestorbene Tochter zu sehen ist. Nach dem diplomatischen Dienst kehrte er nach Tegel zurück und konzentrierte sich auf seine sprachwissenschaftlichen Arbeiten. Er gehörte zu den Gründern der Berliner Universität Unter den Linden, die seit 1949 seinen Namen trägt.

Ganz in der Nähe, in der Dortustraße (früher Waisenstraße), hat auch Schiller mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen zweimal übernachtet, als er ein Jahr vor seinem Tod Berlin besuchte. Hier stand das Haus des Offiziers und Schriftstellers Christian A. L. von Massenbach, den Schiller seit der gemeinsamen Zeit auf der Stuttgarter Karlsschule kannte. Das dreistöckige Massenbachsche Haus ist „im Neubau des Rechnungshofes aufgegangen“, wie es in einem modernen Stadtführer heißt. Es steht in der Dortustraße, Nr. 33/36, und lohnt den Besuch um Schillers willen nicht. Schiller hatte sich innerhalb von 48 Stunden, knall und fall, etwas zu eilfertig, entschieden, einen Sprung nach Berlin zu tun. Über Weißenfels, Leipzig und Wittenberg erreichten die Reisenden am 30. April 1804 gegen Mitternacht Potsdam. Der Einzug in die Stadt blieb Schiller unvergessen: am Teltower Tor unterhielt sich der wachhabende Offizier mit ihm über seine Dramen und Gedichte.

Schiller reiste nach Berlin, weil er ernsthaft überlegte, Weimar zu verlassen. Einen Monat vor der Reise hatte er seinem Schwager Wilhelm von Wolzogen geschrieben, er sei nicht willens, in Weimar zu sterben. Hier leben wir in einem wahren Mangel allen Kunstgenusses. Weimar erschien ihm provinziell und eng; Berlin erlebte er als lebendige, künstlerisch wie wissenschaftlich anregende Großstadt. Hinzu kam, dass ihm in Berlin ein geradezu triumphaler Empfang bereitet wurde. Während seines Aufenthalts wurden mehrere seiner Stücke aufgeführt. Als er am 4. Mai eine Aufführung der „Braut von Messina“ besuchte, wurde er von den Zuschauern jubelnd begrüßt. Zwei Tage später erhoben sich vor einer Aufführung der „Jungfrau von Orleans“ alle Zuschauer von den Plätzen, als er seine Loge betrat. Hier hatte er, wie seine Frau an Iffland schrieb, zum ersten Mal das belohnende Gefühl genossen, für eine Nation gearbeitet zu haben.

Der preußische König sagte dem Dichter ein jährliches Gehalt von 3000 Talern zu für den Fall, dass er nach Berlin käme.
Am 17. Mai verließ die Familie Berlin. Es ging wieder über Potsdam, wo Schiller und seine Frau vom Königspaar nach Sanssouci zum Frühstück eingeladen wurden. Abends Theater, aufgeführt wurde eine Komödie von Kotzebue.  Die Familie übernachtete wieder bei Massenbach. Vor der Abfahrt kam es zu einem Treffen mit Henriette Herz, die in Berlin noch vor Rahel Varnhagen einen Salon für Wissenschaftler und Künstler unterhielt.

Am 18. April reiste die Familie aus Potsdam ab, und nach Zwischenstationen in  Wittenberg, Leipzig und Naumburg traf sie am 21. Mai wieder in Weimar ein. Nach Berlin umgesiedelt ist Schiller nicht. Seinem Verleger Cotta schrieb er am 22. Mai: Berlin hat mir wohlgefallen und ich würde mich in die dortigen Verhältnisse schon zu finden wissen. Aber es ist ein teurer Aufenthalt, und wenn ich hier in Weimar mit 2000 Talern gut auskomme, so könnte ich in Berlin nicht mit 3000 reichen. Ich bin freundlich aufgenommen worden und habe viel Zuneigung erfahren.

Ein Jahr später war Schiller bereits tot.

Glockenspiel

III

An der Ecke Breite Straße /Dortustraße stand bis zum 23. Juni 1968 die von 1731 bis 1735 erbaute Königliche Hof- und Garnisonskirche mit ihrem fast 90 Meter hohen Turm. Fontane schrieb, der Turm sei die Kirche selbst, denn er sitzt an dem kleinen Bau wie ein Giraffenhals an dem viel zu kleinen Körper.

Im Bombenangriff vom 14./15. April 1945 wurde die spätbarocke Kirche zerstört, lediglich der Turm überstand, wenn auch stark beschädigt. Die kleine Garnisonskirchengemeinde stellte den Turm soweit wieder her, dass sie im Turmfuß Andachten halten konnte. Trotz nationaler und internationaler Proteste ließ die SED-Regierung  am 23. Juni 1968 die Ruine sprengen. Nichts sollte mehr an die Garnisonskirche erinnern, die den DDR-Oberen als Symbol des preußisch-deutschen Militarismus galt: Hitler hatte die Kirche am 21. März 1933, dem so genannten Tag von Potsdam, zur Inszenierung seiner Amtseinführung als Reichskanzler missbraucht.

An dieser Stelle wird heute in einem langweiligen Bürogebäude aus DDR-Zeiten eine Ausstellung über die Garnisonskirche gezeigt.

Am 40. Jahrestag der Sprengung ist 2008 eine kirchliche Stiftung zum Wiederaufbau der Kirche gegründet worden. Der Wiederaufbau ist sowohl unter Christen als auch unter Nichtchristen umstritten.

Bis zum Bombenangriff hatte das weltberühmte Glockenspiel zu jeder vollen Stunde den Choral „Lobe den Herren, den mächtigen König der Erden“ und zu jeder halben Stunde Mozarts Melodie zu Höltys Gedicht „Üb immer Treu und Redlichkeit“ gespielt. Der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai nannte das Glockenspiel eines der schönsten in Europa, es  besitze weit größere und stärkere Glocken als das auf der Parochialkirche in Berlin.  

Iserloher Fallschirmspringer ließen das Glockenspiel originalgetreu nachbauen und übernahmen es am 17. Juni 1987, dem Gedenktag des Volksaufstands vom 17. 6. 1953 in  der DDR, symbolisch in ihre Obhut. Nach der Vereinigung Deutschlands übergaben sie es am 14. April 1991 der Stadt Potsdam. Nun steht es an der Dortustraße gegenüber dem Rechnungshof in einem parkähnlichen Gelände mit Kinderspielplatz und Sportfeld. Wenn die Kirche wiederaufgebaut wird, soll es im Turm seinen angestammten Platz bekommen.

Gegenüber der Garnisonskirche, im Krugschen Haus, das längst abgerissen ist, lebte für kurze Zeit die Dichterin Anna Louisa Karsch. 1722 als Tochter eines Bauerngastwirts in Niederschlesien geboren, kam sie nach dessen frühen Tod zu einem Großonkel nach Posen, wo sie lesen und schreiben lernte. Mit 16 Jahren wurde sie mit einem Tuchmacher und –händler verheiratet. Sie gebar drei Kinder, von denen zwei Söhne am Leben blieben, schrieb erste Verse und ließ sich 1745  scheiden. Das  war die erste Ehescheidung in Preußen überhaupt. 1749 heiratete sie den wandernden Schneider Karsch, ein Jahr später wurde eine Tochter geboren. Ab 1755 erschienen ihre Gedichte auf lose Blätter gedruckt. Ausdrücklich als Dichterin  wurde sie im Sommer 1763 von Friedrich II. empfangen. Zu diesem Zeitpunkt wohnte sie in Potsdam, der Lustresidenz des Königs.  Über die Audienz schrieb sie: Das Herz klopfte mir in zwölf gewaltigen Schlägen hoch empor, doch dann gewann ich so viel Zeit, dass ich meine Lebensgeister, ehe der König die Tür aufmachte, noch ganz in Ordnung bringen konnte.    

Während des Gesprächs schilderte sie dem König ihre ärmlichen Lebensumstände in Berlin. Friedrich beschloss die Audienz mit den Worten: „Ich will schon sehen, will sorgen für sie.“ Aber er ließ ihr nichts zukommen. Erst zehn Jahre später, nachdem die Karschin sich gewagt hatte, den König an sein Versprechen zu erinnern, schickte er ihr zwei Taler. Enttäuscht und entrüstet sandte sie das Geld mit einem Vierzeiler zurück:

Zwei Taler sind zu wenig
Für einen großen König!
Zwei Taler sind für mich kein Glück –
Drum schick ich sie zurück.


Nach einer erneuten Bitte ließ ihr der König drei Taler auszahlen. Die nahm sie zwar an, bestätigte den Empfang aber mit einem bitteren Gedicht, in dem es u. a. heißt:

Aber für drei Taler kann
Zu Berlin kein Hobelmann
Mir mein letztes Haus erbauen,
Sonst bestellt´ ich ohne Grauen
Morgen mir ein solches Haus.

Erst 1789 schenkte ihr Friedrichs Nachfolger, König Friedrich Wilhelm II.,   ein propper Häusgen in Berlin am Hackeschen Markt. Ihre teils unbeholfenen Gedichte wurden zugleich belächelt und hoch geschätzt. Gleim und Herder nannten sie eine deutsche Sappho; Friedrich Nicolai dagegen schrieb, ihre Gedichte seien nichts anders als sehr gemeine Gedanken in nette Reime gefasst; und er riet ihr, sie sollte sich besser zu schätzen wissen.

Waisenhaus

IV

Das ganze durch Breite Straße, Dortu-, Sporn- und Lindenstraße begrenzte Karree bildete vom 18. Jahrhundert an das Gelände eines Waisenhauses. Am 21. Mai 1722 wurde der Grundstein für ein Militär-Waisenhaus gelegt, dessen Ausmaße bescheidener waren: es entstand ein dreigeschossiger einfacher Fachwerkbau mit drei Flügeln entlang der Breiten-, Waisen – und Spornstraße. Unter Friedrich Wilhelm I. wurde es bereits erweitert; nach dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763) hatte die Zahl der Waisenkinder stark zugenommen, und an der Bausubstanz der Fachwerkbauten zeigten sich Schäden, so dass Friedrich II. den Architekten Karl von Gontard mit dem Neubau beauftragte. 1772 war der Neubau beendet.

Ende Juli 1778 wurde Karl Philipp Moritz, einer der Hauptvertreter der Berliner Aufklärung, als „Informator“ am Waisenhaus angestellt. Er hatte nach unsteten Jahren, immer von materieller Not geplagt, im Frühjahr 1778 versucht, am Philanthropinum, Basedows Erziehungsinstitut in Dessau, eine Anstellung als Pädagoge zu finden. Die Bemühungen scheiterten; Moritz lag vier Wochen lang mit einem hitzigen Fieber (wahrscheinlich der Vorbote der Tuberkulose) krank in einem Wirtshaus. Nachdem er genesen war, ging er nach Potsdam, um sich als Feldprediger bei einem preußischen Regiment zu bewerben. Wegen seiner schwächlichen Konstitution wurde er nicht angenommen, so dass er froh war, am Waisenhaus unterzukommen. Die Stelle eines Informators entpuppte sich aber bald als Aufsichtsposten über die zur Arbeit verpflichteten Kinder. Vom sechsten Lebensjahr an mussten sie in der Regel 35 Stunden pro Woche arbeiten. Unterricht in „Christentum“, Lesen und Schreiben erhielten sie hauptsächlich von Unteroffizieren und Kriegsinvaliden.

Moritz geriet in eine tiefe Krise. Ganze Tage irrte er bei jedem Wetter über die Felder, nächtigte unter freiem Himmel und ernährte sich von Wurzeln.  Die hoffnungslose Lage der Kinder, ihre materielle und geistige Not, die er von Jugend an selbst erlebt hatte, sah er in den wie Soldaten gekleideten Kindern unerträglich gesteigert. Von freimaurerischen Idealen getragen, wandte er sich den Ärmsten der Armen zu, versuchte, das Los der Kinder so gut wie möglich zu erleichtern. Wenn er später die „natürliche Ungleichheit“ der Menschen verurteilte, wenn er die sozialen Zustände mit Hinweisen auf die getrennte und geschundene Menschheit kritisierte, dann tat er das auch in Erinnerung an die Verhältnisse im Potsdamer Waisenhaus.
Bereits am 9. Oktober verließ er das Waisenhaus wieder, mit einem lobenden Abgangszeugnis. Damit gelang es ihm, in Berlin eine Anstellung an einem Gymnasium er bekommen und sozial aufzusteigen.

Die Erfahrungen im Potsdamer Waisenhaus fanden vor allem in seinem Roman  „Andreas Hartknopf“ (1786-90) Niederschlag.

Während des Bombenangriffs vom April 1945 wurde auch das Gelände des Waisenhauses schwer getroffen. In unversehrten Flügeln richtete die Stadt Potsdam ein Waisenhaus ein, in dem Kriegswaisen und umherirrende Flüchtlingskinder Unterkunft fanden. Inzwischen ist der gesamte Komplex restauriert und saniert. Die goldene Caritas strahlt wieder von der Gontardschen Kuppel, Die Gebäude werden von unterschiedlichen Institutionen, Stiftungen und Vereinen genutzt; die Ministerien für Wissenschaft, Forschung und Kultur sowie für Ländliche Entwicklung, Umwelt und Verbraucherschutz haben hier ihren Sitz.

Angesichts der hellen Innenhöfe kann man nur mit Wehmut an die Waisenkinder des 18. Jahrhunderts denken, über deren Schicksal in einer Schilderung aus dem Jahr 1777 folgendes berichtet wurde: „Im Innern war es indes so ungemein schmutzig, und die Unreinlichkeit seiner 6000 Zöglinge beiderlei Geschlechts war so abscheulich, dass es ein wahrer Greuel war. In den Gemächern und Gängen herrschte ein hässlicher Geruch. Die Knaben und Mädchen erregten durch ihre bleichen Gesichter und schmutzigen Kleider einen widrigen Anblick und verbreiteten durch ihre ausgeschlagenen Köpfe eine unleidliche Ausdünstung. Die moralische Verdorbenheit der Waisenkinder war der physischen gleich. Knaben und Mädchen aus diesem Waisenhaus galten damals für nichtsnutzige Geschöpfe, welche von jedermann geflohen wurden.“

Gedenkstätte für die Opfer politischer Gewalt im 20. Jahrhundert

Lindenstraße 54/55
14467 Potsdam

Telefon: 289-6803 und 289-6136
Öffnungszeiten
Di. – Sa. 10 bis 18 Uhr

V

Johann Joachim Winckelmann, Begründer der modernen Kunstgeschichtsschreibung und der neueren Archäologie, der wie kein anderer die ästhetischen Vorstellungen der deutschen Klassik geprägt hat, wohnte 1752 während eines sechswöchigen Aufenthalts in Potsdam bei seinem Freund Peter Lamprecht in Haus Nr. 54/55 der Lindenstraße, im ehemaligen Kommandantenhaus. Der aus ärmsten Verhältnissen stammende Winckelmann war Lamprechts Hauslehrer in Hadmersleben bei Halberstadt gewesen. Er hatte ihn nach seinem Herzen mit aller Mühe und Sorgfalt gebildet. Winckelmann war inzwischen Bibliothekar des sächsischen Ministers Grafen von Bünau in Nöthnitz bei Dresden geworden und hatte sich im Selbststudium umfassende Kenntnisse der antiken und modernen Literaturen erworben. Er hatte antike und zeitgenössische Geschichtswerke studiert und bei Oeser Malunterricht genommen. Im Jahr seines Potsdam-Besuchs entstand auch die erste seiner bekannt gewordenen Schriften, „Beschreibung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Galerie“. Nach Potsdam war Winckelmann von seiner Heimatstadt Stendal aus in drei weniger einen Tag zu Fuß gelaufen.

Die Häuser in der Lindenstraße haben weithin ihr ursprüngliches Aussehen erhalten. Die Traufhöhe ist niedrig, die Häuser meist ein- bis zweistöckig und vermitteln so einen Eindruck vom ursprünglichen Zustand.

Das Kommandantenhaus, in dem Lamprecht wohnte, ein roter Backsteinbau, gehört zu den größten der ganzen Straße und zeugt vom Wohlstand seiner früheren Besitzer.

Jetzt ist in dem Haus eine „Gedenkstätte für die Opfer politischer Gewalt im 20. Jahrhundert“ untergebracht. Das Haus war, wie es eine Gedenktafel verkündet, „Untersuchungsabteilung/Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam“. Welche bittere Ironie! Winckelmann, der so viel unter demütigenden Verhältnissen zu leiden hatte und dem Freiheit des Geistes eines der höchsten Güter war, verbrachte seine gesamte Potsdamer Zeit in dem Gebäude, in dem sich später eine Institution einnistete, die jede freie Geistesregung zu unterdrücken suchte.

Brandenburger Str. 70

























Benkertstraße 15

VI

Für Theodor Storm gehörte die in Potsdam verbrachte Zeit zu den unglücklichsten Abschnitten seines Lebens: er hatte sich 1843 als Rechtsanwalt in seiner Geburtsstadt Husum niedergelassen. 1851 war Schleswig von Dänemark besetzt worden, und Storm hatte sich mit patriotischen Gedichten gegen die dänische Besetzung gewandt. Daraufhin entzogen ihm die dänischen Behörden die Lizenz, als Anwalt arbeiten zu können, und er war gezwungen, das Auskommen für sich und seine Familie anderswo zu suchen. Äußerst ungern verließ er seine Heimat. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. war ihm wohl gesonnen, und er bekam eine Anstellung am Kammergericht Potsdam.

Ab 1853 wohnte er im Eckhaus unmittelbar am Luisenplatz, Brandenburger Straße 70, in sechs mäßig großen Zimmern, wie er seiner Frau am 25. November nach Husum schrieb.

Bis seine Familie, die Frau mit den drei Söhnen, im Dezember, ebenfalls nach Potsdam kam, fühlte er sich in der Fremde  wie der unglücklichste Mensch. Aber auch als die Familie wieder vereint war, wurde Storm nicht glücklich in Potsdam. Er vermisste freundschaftlichen Austausch; ihm fehlte ein Mann von gleichen Jahren und gleichen Neigungen. Hätte ich einen solchen hier und könnte mich in angenehmer Unterhaltung dann und wann von all dem schweren Geschütz erholen, das würde mein Leben sehr erleichtern. Daran fehlt es mir hier ganz, und Berlin ist doch so gut wie ganz aus der Welt.

So oft es ging, fuhr er mit der Eisenbahn nach Berlin, wo er in den literarischen Vereinen „Tunnel über der Spree“ und „Rütli“ Bekanntschaft mit dem Kunsthistoriker Franz Kugler und dessen Schwiegersohn Paul Heyse (dem ersten deutschen Nobelpreisträger für Literatur) schloss, mit Eichendorff und Fontane, mit dem konservativen Schriftsteller Gottlieb Moritz Saphir und mit dem Maler Adolph von Menzel. Hier fand Storm den gedanklichen Austausch, die geistigen und künstlerischen Anregungen, die er sowohl in Husum als auch in Potsdam vermisst hatte. Der „Tunnel über der Spree“ vertrat einen gemäßigten Realismus und bestätigte damit Storms eigene Kunstauffassung.

Die Berliner Literaten kamen auch zu Gegenbesuchen nach Potsdam. Aber Storm blieb unzufrieden. Seine innere Unruhe veranlasste ihn, bereits 1854 eine neue Wohnung zu beziehen, und zwar in der Dortustraße 68, die damals nach dem Militär-Waisenhaus Waisenstraße hieß. Leider ist das Haus im August 1989 abgerissen worden, kurz nachdem eine Gedenktafel für Storm angebracht worden war. Jetzt stehen an der Stelle zweigeschossige Häuser mit ausgebautem Dachgeschoss, die sich gut in die Umgebung einfügen. Im Erdgeschoss haben sich Banken, Handwerksgeschäfte und Gaststätten eingerichtet, im Obergeschoss sind Wohnungen. Das besonders Schöne an dieser Wohnanlage sind die kleinen, unterschiedlich gestalteten Innenhöfe, in denen man sich tatsächlich auf eine Bank setzen und lesen kann, am besten Storm, auch wenn hier überhaupt nichts mehr an ihn erinnert.

Im April 1856 zog Storm in seine letzte Potsdamer Wohnung, in das Große Militärkasino, Benkertstraße 15 (früher Kreuzstraße). Seinen Eltern schrieb er: Das Quartier ist sehr angenehm, alle Piecen wohl getrennt, eine große Kinderstube und für mich eine eigene Stube neben dem Wohnzimmer; überdies noch etwas wohlfeiler als das frühere; ich hab es auf ein Jahr für 60 Taler gemietet. Es liegt nur drei Häuser von dem großen ungepflasterten Bassinplatz, der ein herrlicher Tummelplatz für die Kinder ist... Aus meinen Fenster habe ich den Ausblick auf einen kleinen Weingarten.

Noch ehe das Jahr 1856 herum war, konnte Storm Potsdam verlassen. Er wurde Kreisrichter in Heiligenstadt im Eichsfeld; 1864, nach dem Abzug der Dänen, konnte er wieder ins eine geliebte Heimatstadt zurück.

Storms Briefe aus Potsdam sind voller Klagen; er klagte über die Hitze, die alles Erträgliche übersteigende Glut, über die exemplarische Ungezogenheit seiner Söhne, und er sehnte sich nach Husum zurück. Seinen Eltern schrieb er: Könnte ich doch bei Euch sein. Hinter mir steht der Teekessel und singt von Husum. „Husumerei“ spottete Fontane über Storms verklärende Sicht auf die Heimat.

VII

Hinter dem Brandenburger Tor, an der Stelle des jetzigen Hauses Zeppelinstraße 168, lag früher ein herrschaftlicher Landsitz, der bis an die Havel reichte.

Markgraf Wilhelm von Schwedt hatte sich das Grundstück anlegen lassen; einer seiner Nachfahren verkaufte es an Friedrich II., der es als Gästehaus nutzen wollte. 1748 schenkte er es dem Marquis Jean-Baptiste d´Argens; dem sagte es nicht zu, und er verkaufte einen Teil des Anwesens einem Windmüller, der es an den Kriegs- und Kabinettsrat August Friedrich Eichel weiterverkaufte. Von ihm gelangte es wieder an König Friedrich II.!  Als d´Argens für längere Zeit nicht anwesend war, bot Friedrich das Anwesen VoltaireVoltaire als Wohnung an. Dieser hatte sich über das anmaßende Verhalten der Bewohner und das Lärmen der Diener im Stadtschloss beklagt. So bezog er hier eine Wohnung im Obergeschoss, umgeben von seinen eigenen Möbeln, seinem Geschirr und seinen Betten. Voltaire hoffte, hier zur Ruhe und zum Arbeiten zu kommen. Nach d`Argens nannte er das Haus „Marquisat“. Bei Friedrich II. bedankte er sich mit einem Gedicht, das mit folgenden Versen endet:

In meiner Klause gedenke ich,
Von meinem erschöpften Kopf
Noch ein wenig Gebrauch zu machen;
Ohne blasiert zu sein, die letzten Tropfen
Von diesem Trunk zu genießen;
Gedenke auch, mich für eine lange Reise vorzubereiten,
Die mein verbrauchter Körper ahnt,
Und mit gütigem Auge
Das Ende meiner Wallfahrt zu sehen,
Aber leider! Es ist einfacher,
Ein Eremit als ein Weiser zu sein.


Mit der langen Reise hatte es noch eine Weile Zeit: Voltaire starb am 30. Mai 1778 in Paris. Im Marquisat arbeitete er an seinem Werk “Das Jahrhundert Ludwigs XIV” sowie an Friedrichs II. staatstheoretischem Essay, dem “Antimachiavell”.

Beinah zwangsläufig musste es zwischen zwei so starken Charakteren in so unterschiedlichen sozialen Positionen zu Auseinandersetzungen kommen. Zwei Finanzaffären, in die Voltaire verstrickt war, führten zum endgültigen Bruch zwischen dem König und dem Philosophen. Im März 1753 verließ Voltaire den königlichen Hof.

Lessing, der damals mittellos in Berlin lebte und an der „Berlinischen privilegierten Zeitung“ mitarbeitete, bekannt geworden sind vor allem seine Beiträge für deren Beilage, „Das Neueste aus dem Reiche des Witzes“, übernahm zeitweise Sekretärsarbeiten für Voltaire und übersetzte kleine Schriften von ihm. Ansonsten hatte Lessing keine gute Meinung von ihm, was aber gewiss auch darin begründet lag, dass er sich von ihm gekränkt fühlte: Voltaire soll Lessings Namen französisiert haben, Le singe, was „der Affe“ bedeutet.

Ähnlich wie d´Argens war auch Voltaire nicht lang glücklich über seine Wohnung im Marquisat. Ihn störten zehntausend grobe Kerls, die keinen Gedanken im Kopf haben und die zur Stunde vor den Toren Potsdams zehntausend Gewehrschüsse abgeben. Anfang Mai 1751 zog er ins Stadtschloss zurück, zwei Jahre später verließ er Potsdam.

Im Frühjahr 1755 verbrachte Lessing sieben produktive Wochen im Marquisat. Er war aus Berlin gekommen, um hier ungestört und hintereinander in einem Feuer das erste deutsche Trauerspiel „Miss Sara Sampson“ zu beenden. Er scheint sich tatsächlich ganz auf die Arbeit konzentriert und kaum Verbindungen „nach außen“ aufgenommen zu haben. Der Dichter Ewald von Kleist schrieb am 2. April 1755 an den Halberstädter Dichter Gleim: „Unser Lessing ist sieben Wochen hier in Potsdam gewesen, allein niemand hat ihn gesehen. Er soll hier, verschlossen in ein Gartenhaus, eine Komödie gemacht haben.“ In dem einzigen erhaltenen Brief Lessings aus dieser Zeit (18. Februar 1755 an Moses Mendelssohn) findet sich kein einziger Hinweis auf Potsdam und darauf, wie es ihm im Marquisat erging.

Bereits am 10. Juli 1755 wurde „Miss Sara Sampson“ in Anwesenheit des Dichters in Frankfurt (Oder) uraufgeführt.

1812 wurde das Anwesen verkauft. An dem heutigen zehngeschossigen Neubau erinnert nichts mehr an die literarische Vergangenheit des Vorgängerbaus. Die Nähe zur Havel sowie die einstige Ruhe sind nur noch schwer vorstellbar.

Birkenstraße

VIII

Für den Dichter Reinhold Schneider wurde die Potsdamer Zeit zu einem Wendepunkt seines Lebens: Anfang April 1932 zog er, aus Berlin kommend, nach Potsdam in die Nummer 28 der Straße Am Kanal. Er mietete dort eine enge Dachkammer und schrieb sein berühmt gewordenes Buch „Die Hohenzollern. Tragik und Königtum“. Es konnte 1933 noch erscheinen, wurde aber bald darauf verboten. Das Bild, das Schneider von Königen, von Herrschern, entwarf, passte nicht zum Bild des Führers: Schneiders Könige sind, schon vor aller Revolution, tragische Menschen, ihre Leistung besteht in Verzicht und Opfer, die als Entscheidungen großer Freiheit verstanden werden.

Nach dem Hohenzollernbuch hatte Schneider in einem dreibändigen Werk die drei großen Kaisergeschlechter des Mittelalters darstellen wollen. Aber die deutsche Geschichte war ihm entfremdet.
Für die nächsten Jahre galt sein Interesse hauptsächlich der englischen Geschichte; 1934 und 1935 bereiste er die Insel und veröffentlichte 1936 „Das Inselreich. Gesetz und Größe einer Macht“. Noch im gleichen Jahr wurde es verboten.
Bereits am 15. Mai 1935 war Schneider in die am Neuen Garten gelegene Birkenstraße 1 gezogen.

In Potsdam kam es zu Kontakten mit den Dichtern Jochen Klepper und Werner Bergengruen, die dem Nationalsozialismus ebenfalls kritisch gegenüber standen. Schneider lernte Rudolf Alexander Schröder und Gerhart Hauptmann kennen. Von Potsdam aus besuchte er am 4. April 1934 Wilhelm II. im holländischen Doorn.

Das Haus Am Kanal 28 oder ein Nachfolgebau ist nicht zu finden. Es gibt kein Gebäude mehr mit dieser Hausnummer. Die Wirtin, zu der er als Untermieter in dieses Haus zog,  begleitete fortan sein Leben (er nannte sie die Gefährtin meines Lebens).

In Potsdam fand Schneider zum Katholizismus zurück, den er als Jugendlicher aufgegeben hatte. An einem Neujahrstag, 37  oder 38, ging er in Potsdam zum ersten Mal zur heiligen Messe seit  vielleicht zwanzig Jahren. Seitdem war Schneider, wie er selbst es nannte, ein radikaler Christ. Er schloss sich dem christlichen Widerstand gegen die Nazis an und stand in enger Verbindung zu Graf Moltke, zu York von Wartenberg und dem früheren sächsischen Kronprinzen und Jesuitenpater Georg. Um aus dem Blickfeld der Macht zu verschwinden, ging er 1937 zuerst nach Hinterzarten und ein Jahr später nach Freiburg i. Br., wo er mit Unterbrechungen bis zu seinem Tod 1958 lebte. Noch im April 1945 wurde er der „Vorbereitung zum Hochverrat“ angeklagt. Das Kriegsende verhinderte, dass es zum Prozess kam.

Der radikale Christ Schneider wandte sich nach 1950 gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und wurde deswegen diffamiert, 1956 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

IX

Schon etwas außerhalb der Stadt liegt die Persiusstraße. In der Nummer 1 verbrachte Marie Luise Kaschnitz elf Kinderjahre. Sie wurde 1901 in Karlsruhe geboren, ein Jahr darauf zog die Familie aus der badischen Residenzstadt nach Potsdam. Ihr Vater entstammte einer adligen Offiziersfamilie und war zum Rittmeister und Führer einer Eskadron im Ersten Potsdamer Garde-Ulanen-Regiment befördert worden. Marie Luise Kaschnitz erlebte noch das alte Potsdam mit den Paraden und Aufmärschen, mit der Hofgesellschaft und der kaiserlichen Familie. Im Alter schrieb sie: Die Prinzessin lässt die Peitsche spielen oder greift in die Gummihupe, die an keinem anderen Pferdefahrzeug gestattet ist. Die Leute auf der Straße grüßen die junge Prinzessin, und wir, die wir manchmal von ihr abgeholt werden, grüßen höflich wieder, bis uns das untersagt wird, ihr seid nicht gemeint... Einmal begegnen wir Kinder auf der großen Treppe im Neuen Palais der Kaiserin, die unsere Köpfe gegen ihre geschnürte Taille presst, und uns auf das Haar küsst. Wir haben uns mit der Prinzessin sehr gelangweilt, wir wollen nicht mehr spazierengefahren werden, aber wir müssen, wir werden nicht gefragt. Der Vater hat einmal auf die Prinzessin ein Gedicht gemacht, das wir unmöglich fanden, „Prinzessin von achtzehn Jahren, Prinzessin Chef der Husaren“, tatsächlich, in der Uniform eines Husarenobersten ist die Prinzessin auf Postkarten zu sehen. Das hindert nicht, dass sie in unseren Augen blöd ist und blöde das ganze Sanssouci, wo man sich gut benehmen muss, nichts von Über-das-Gras-Jagen und In-die-Büsche-Kriechen, und interessant sind wirklich nur der alte König mit seinen Windhunden und sein boshafter kleiner Affe, Voltaire.

1913, ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, zog die Familie nach Berlin.
Erinnerungen an die in Potsdam verlebten Kinderjahre finden sich vor allem in dem 1973 erschienenen Erinnerungsband „Orte“.

Das Haus Persiusstraße 1 ist ein schönes, restauriertes zweistöckiges großbürgerliches Haus mit Garten auf der der Straße abgewandten Seite. Neben Wohnungen hat unter anderem der Kreisverband der Gehörlosen seinen Sitz hier. An den Aufenthalt der Familie von Holzing-Berstett (das ist der Mädchenname der Dichterin) erinnert keine Tafel. Trotzdem lohnt sich der Weg hierher. Wir bekommen einen Eindruck vom Weg des Kindes die Straße hinunter, zur Wiese, zum Park und vor allem von den Privilegien, die mit diesem Haus und seiner Lage verbunden waren.

Grosse Stadtschule Kleist

X

In Potsdam hat Heinrich von Kleist eine sein ganzes zukünftiges Leben prägende Entscheidung getroffen: im März 1799 entschloss er sich, den Militärdienst zu quittieren. Am 19. März schrieb er in einem Brief, es sei ihm unmöglich, bei dem jetzigen Zustande der Armeen seine Pflichten als Mensch und Offizier zu vereinen.

Die entsprechende „Königliche Kabinettsorder“ vom 13. April 1799 hatte folgenden Wortlaut: Ich habe gegen Euern Vorsatz, Euch den Studien zu widmen, nichts einzuwenden, und wenn Ihr Euch eifrig bestrebet, Eure Kenntnisse zu erweiten, und Euch zu einem besonders brauchbaren Geschäftsmanne zu bilden, so werde ich dadurch auch in der Folge Gelegenheit erhalten, mich zu bezeigen als Euer p. p.

Am 1. Juni 1792 war Kleist als Gefreiterkorporal  in ein Potsdamer Garderegiment aufgenommen worden. Bei der Generalin von Linckersdorf bezog er in der Nauener Straße 5 (später Friedrich-Ebert-Straße) eine Wohnung. Bereits am 20. Juni war er wieder in Frankfurt (Oder), wo er, noch nicht fünfzehnjährig, konfirmiert wurde. Seit Dezember hatte er Urlaub, den er zum Teil bei seiner Familie verbrachte, zum Teil nach dem Tod der Mutter am 3. Februar 1793 auf einer Reise über Leipzig, Erfurt, Eisenach und Fulda nach Frankfurt am Main, wohin sein Regiment verlegt worden war. Kleist nahm an der Belagerung des republikanischen Mainz teil, das sich der Französischen Revolution angeschlossen hatte, und kehrte 1795 nach Potsdam zurück.

Wenn auch Kleists Aufenthalt in Potsdam häufig durch Reisen und dienstliche Verpflichtungen unterbrochen war, gehören die zwei Jahre vom Frühjahr 1797 bis 1799 bei allen existenziellen Sorgen und Zweifeln zu den geselligsten und vergnügtesten seines Lebens. Mit den Freunden Ernst von Pfuel, der im Frühjahr 1797 nach Potsdam versetzt wurde, August Rühle von Lilienstern und anderen jungen Offizieren beschäftigte er sich mit Mathematik und Philosophie, musizierte er (Kleist spielte die Klarinette) und wanderte 1798 in den Harz. Dabei gaben sich die vier Offiziere als wandernde Musiker aus.

Nach dem Abschied vom Militär wurde Kleist am 10.April 1799 an der Universität Frankfurt (Oder) immatrikuliert. Er studierte zunächst Physik, Mathematik, Philosophie und Naturrecht.

Die Unruhe und Unstetigkeit der Potsdamer Zeit sollten typisch für Kleists weiteres Leben sein. Wenn hier auch keine bedeutenden Dichtungen entstanden, so nahmen hier doch viele Entwicklungen seines Lebens ihren Anfang: Abschied von einer militärischen Karriere, erste Gedichte, kritische Auseinandersetzung mit dem preußischen Staat.

Hegelallee 13

XI

Eng mit Potsdam verbunden war der Dichter Hermann Kasack. 1896 als Sohn eines Arztes in der Schwertfegerstraße 10 geboren, verlebte er den größten Teil seiner Kindheit Am Kanal 5, wohin die Eltern umzogen. Das Geburtshaus existiert nicht mehr; am Haus Am Kanal 5 erinnert nichts mehr an ihn. Hier beobachtete er als Kind die Postpferde und die Soldaten, die aufs Bornstedter Feld ausrückten – unvergessliche Eindrücke. Nach dem Studium von Germanistik und Philosophie in Berlin und München war er von 1920 bis 1925 Lektor und später Direktor im Gustav Kiepenheuer Verlag. Jung verheiratet lebte er erst in Hasenbrück vor der Stadt und später in der Wörtherstraße 3 (heute Menzelstraße). Mit dem Fahrrad fuhr er in die Victoriastraße, wo der Verlag seinen Sitz hatte. Das alte Kiepenheuer-Verlagsgebäude, die so genannte Rosenvilla, übrigens wird gerade restauriert und soll als Wohnhaus genutzt werden.

Die längste Zeit wohnte Kasack in der Kaiser-Wilhelm-Allee 13 (der jetzige Hegelallee). Sein Vater hatte das Haus gekauft, und beide Familien wohnten zusammen darin. Kasack hatte sein Zimmer im Erdgeschoss; dort arbeitete er und empfing Freunde. In seinem Tagebuch und im Tagebuch Oskar Loerkes finden sich Einträge darüber, dass die Freunde im nahen Park, im „Paradiesgarten“, spazieren gingen und ihre Gedichte besprachen. 1926/27 arbeitete er als Loerkes Nachfolger im S. Fischer Verlag Berlin und lebte danach als freier Schriftsteller und Rundfunkautor. 1933 verboten ihm die Nazis die Vortragstätigkeit. Aus gesundheitlichen Gründen wurde er nicht zur Wehrmacht eingezogen und war 1941 bis 1949 wieder Lektor im Suhrkamp-Verlag, der aus dem S. Fischer Verlag hervorgegangen war.

Nach dem Zweiten Weltkrieg musste er die Wohnung in der Kaiser-Wilhelm-Allee aufgeben: die sowjetische Besatzungsarmee beanspruchte das Haus für sich, und Kasack zog in die Hans-Sachs-Straße 13. Das war seine letzte Wohnung in Potsdam. Das Leben und die literarische Arbeit wurden ihm in der sowjetisch besetzten Zone immer schwerer gemacht, so zog er 1949 mit seiner Frau, den beiden Kindern und seine Mutter nach Stuttgart. Am Haus in der Hegelallee 13 erinnert eine Tafel an den Dichter.

1947 war sein Hauptwerk, der Roman „Die Stadt hinter dem Strom“ bei Suhrkamp erschienen, für den er den neu geschaffenen Fontane-Preis erhielt. Vor dem  Hintergrund der realen Ruinenstädte des Zweiten Weltkriegs entwarf er visionär eine Totenwelt „hinter dem Strom“, in der weniger über den Einzelnen als vielmehr über die (abendländische) Menschheit geurteilt wird, ihre Hervorbringungen, ihre Motive, ihre Lebenslügen, falschen Ideologien. Bewahrt wird nur, was genügend vom Leben des Geistes durchdrungen ist, das heißt,  vom Sinn des Ewigen.

XII

Am Ende unserer Einladung, literarische Orte Potsdams zu besuchen, sollen Verse eines Dichters stehen, für den es in Potsdam keine Erinnerungsstätte gibt. Die erste Strophe seines Gedichts "Der alte Landmann an seinen Sohn" stand jahrhundertelang für preußischen Geist. Mit dieser Strophe hat sich Preußen gern geschmückt, teils zu Unrecht freilich; aber in seinen besten Köpfen hat es sich damit identifiziert:

Ludwig Hölty

Üb´ immer Treu und Redlichkeit
Bis an dein kühles Grab,
Und weiche keinen Finger breit
Von Gottes Wegen ab.

                         
1776