Das Münsterland-Touren wurden durch die Kunststiftung NRW, die LWL-Kulturstiftung und die Kulturstiftung der Westfälischen Provinzial Versicherung ermöglicht.

Sabine Scho

Mal es schwarz

Matthias Holtmann
~ 5 Std. ~ 14 km Die dunkele Seite des nordwestlichen Münsterlandes

Hier wird einmal ein anderer Blick geworfen: zum Beispiel auf die Zustände im ehemaligen katholischen Kinderheim St. Josefshaus in Wettringen. Des weiteren spielen eine Rolle: ein Pestfriedhof, der feuchte, moorige Boden des Münsterlandes, Schwarzbrot, ein schwarzer Farbbach, der sterbende Johann Georg Hamann, Ölaustritte und Atommüll sowie die Apokalyptischen Reiter von Hubertus Brouwer in Ochtrup.

Als Hör-Tour

Gelesen von Sabine Scho
Laufzeit: 34:42

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Sabine Scho

»Mal es schwarz«

Fotos: Matthias Holtmann

 

Wir sehen schwarz bei Abwesenheit von Licht und Reflexion. Wer sich mit mir in das nord-westliche Münsterland begibt, das schon an die Niederlande grenzt, kann bei voller Ausleuch-tung in seine unreflektierten Flächen eintauchen. Es geht dabei unheimlich und unbunt zu und doch wohnt der fehlenden Helle die ganze Geborgenheit inne, die ich, 1970 in Ochtrup geboren, bei allen Flecken und Befleckungen noch empfinde, wenn ich sie heute wieder aufsuche.
Schwarz, schwarz, schwarz waren damals alle meine Kleider und mein Blick wird bis heute eher von den absorbierenden Flächen angezogen, als den glänzenden. Überhaupt, die Sehnsucht, zu verschwinden, ein starker jugendlicher Drang. Hauen wir ab!

 

 

 

 

Landhaus Rothenberge
Rothenberge 83
48493 Wettringen
Website

Rothenberge liegt etwa 2 km nordwestlich von Wettringen und ist von dort mit dem Auto oder Fahrrad leicht über die Kreisstraße 61 zu erreichen (am höchsten Punkt findet sich ein Parkplatz gegenüber der Gaststätte „Hagenhoff“). Unabhängig davon, wie man sich auf dem Berg bewegt, findet man das Landhaus am einfachsten, wenn man von der Kreisstraße aus zum höchsten Punkt aufsteigt – die Sackgasse steil hinauf Richtung Sendemast.

Wo ich gerne einkehre:
Website

Landhaus Rothenberge

Ich bin hier wie eine Biene und Ameise und sammle alles, was ich nur kann zur Erndte in meiner Heimath und gegen die lange Weile meiner immer hungrigen und durstigen Seele, die eben so wenig feyern als arbeiten kann, nach Art und Weise der künstlichen Tagelöhner.
(Johann Georg Hamann, Welbergen, Ostern den 23. März 1788, im Bette)

Nordwestliches Westfalen. Wir befinden uns auf dem platten Land, was liegt da näher, als sich erst einmal einen Überblick zu verschaffen. So weit wie möglich weg vom Boden, so hoch hinaus, wie es die Region nur erlaubt: 95 Meter über der Erde, rauf zum Landhaus Rothenberge; 1921 nach Art eines französischen Miniaturschlösschens inmitten von dreißig Morgen Parklandschaft erbaut.
Im Winter dort gerodelt und sich den Hund zum Hochziehen des Schlittens dienstbar gemacht, im Sommer dort geknutscht und Zeit im hohen Gras verbracht, während des Studiums mit Philosophen hier, in Wettringen, in Blockseminaren um die Wette gedacht. No roof but the sky, Kirchtürme, Kalkbergwerke, Windräder, Wald und Flur, alles im Blick.

Idealerweise haben Sie jetzt Fahrräder und eine Picknickdecke dabei, eine Flasche französischen Wein, Käse und Brot und Sie folgen mir gar nicht erst weiter, wenn ich gleich dieses gute Leben Richtung schwarze Romantik verlasse.

Überwinden Sie alle Hindernisse, die sie mit Privat-Beschilderungen abhalten wollen, ich habe es auch getan, meine Eltern taten es und deren Eltern. Gatter und Zäune sind eine Aufforderung an Ihre Kletterkünste. Schauen Sie in die Wolken bis ein Sternenhimmel daraus wird und zählen Sie dann die Schnuppen.
Oder stellen Sie sich vor, als Landadelige hätten Sie heute nichts Besseres vor, als mit einem kleinen Karren voller Malutensilien umherzuziehen und pleinair Westfalen festzuhalten.
Was fehlt ihnen dann noch? Lokalkolorit? Unterschicht? Suspense? Tod und Teufel? Okay, dann packen Sie alles wieder ein und folgen Sie mir durch schauerlichere Gefilde.

St. Josefshaus, Wettringen
Dorfbauerschaft 30
48493 Wettringen

Fahrrad: Von der Rothenberger Sendestation aus mit dem Rad Richtung Süden den unbefestigten Feldweg bergab rollen lassen und an der ersten Kreuzung rechts der befestigten Straße folgen. Unterhalb des Landhauses weiterfahren und am Ende links einbiegen. Der Straße folgen und am Ende links weiterfahren. Hier geht es nach etwa 300m scharf nach rechts, kurz darauf wieder nach links und weiter zur Vechte. Nachdem Sie den Fluß überquert haben, in den zweiten Weg rechts einbiegen und diesem einen guten Kilometer folgen. Sie überqueren den Welberger Damm und zuletzt die Bundestraße 70, bevor Sie vor dem Josefshaus stehen.
Auto: Von Wettringen der B70 Richtung Metelen/Autobahn folgen. Etwa 1,5 km hinter dem Ortsschild liegt links das Josefshaus.


Wo ich gerne einkehre:
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St. Josefshaus, Wettringen

Kuckuck Kuckuck sag mir doch, / wie viel’ Jahre leb’ ich noch

Der Ziehvater Jesu hieß Josef. Er war Bauhandwerker, sein Beruf wird im Matthäus-Evangelium mit dem griechischen Tekton angegeben, was so viel heißt wie: an Stein und Holz ausgebildeter Baumeister. Also weit mehr als ein Zimmermann. Einer, der ein ganzes Zuhause erschaffen konnte, eine Zuflucht und mehr als ein bloßes Dach über dem Kopf. Er bleibt bei einer Frau, die nicht von ihm schwanger wurde und ist ihrem Sohn ein Vater. Der Sohn, so würde man es heute vielleicht betrachten, weist einige Charakteristika von Schwererziehbarkeit auf, hat Schwierigkeiten sich an bestehende Verhältnisse anzupassen, akzeptiert keine Autoritäten, leidet wohlmöglich an einer gestörten Selbstwahrnehmung, ist ruhelos und vielleicht im besten Sinne verhaltensoriginell. Doch wie mit solchen Kindern und Jugendlichen umgehen?
Kinder- und Jugendheime werden vielleicht darum gern nach jenem Josef benannt, weil er jemand war, der sich eines Kindes annahm, das man als schwierig bezeichnen könnte,
wenngleich die einschlägigen Quellen dann verschweigen, ob und wie er erzieherisch auf sein Stiefkind eingewirkt hat. Alles, was wir darüber wissen: Es endet in einem familiären Desaster, das nur Dank eines erzählerischen Kniffs in hoffnungsfroheres Licht getaucht werden konnte.

Um das Josefshaus in Wettringen ranken sich viele und wenig aufbauende Geschichten. Ein Ort wie aus einem Horrorfilm, Landschaftsidylle mit vor sich hin rottenden Stahlbeton-Unterkünften und einem Waldfriedhof voller erstaunlich jung Verstorbener: 1913-1926, 1916-1929, 1918-1928, 1922-1936, 1925-1941, 1932-1946. Ich meine, dass es früher mehr Grabplatten zu sehen gegeben hat und auch schmiedeeiserne Kreuze, die einzelnen, mit Buchsbaumhecken umstandenen Gräbern zugeordnet waren. Gräber von Erziehern, Schwestern und Patern dazwischen.
Früher, das war vielleicht 1986, als ich fünfzehn war und mit meiner Mutter und unseren Hunden dort spazieren ging. Sie war es, die immer wieder sagte: Schau nur, wie jung die Menschen verstorben sind, was mag ihnen wohl widerfahren sein?

Das Josefshaus, 1902 als Knabenerziehungsanstalt in der Dorfbauernschaft Siefkesheide bei Wettringen, im Kreis Burgsteinfurt, in Betrieb genommen, stand immer im Ruf, seine Zöglinge nicht besonders gut behandelt zu haben. Das ist ein offenes Geheimnis. In den Nachkriegsjahren liehen sich die Bauern diese als, meistens unbezahlte, Erntehelfer. Nicht selten wurden sie von einer bewaffneten Begleitperson bei der Arbeit bewacht, als habe man es mit Schwerverbrechern zu tun. Die schwererziehbaren Knaben, die aus dem gesamten Bundes-gebiet kamen, standen auch bei jedem Diebstahl in ihrer Umgebung unter Verdacht. Das Josefshaus beherbergte Jugendliche bis einundzwanzig Jahre, denen man nicht traute, aber vieles zutraute.
Viele dürften nicht schlecht von den Jungen und jungen Männern profitiert haben. Die umliegenden Bauern veräußerten ihr Sumpf- und Ödland, das sich nur mühsam urbar machen ließ, für die Raumbedürfnisse der Anstalt. Die Landmaschinen versanken im Morast und die Knochenarbeit bewältigten Minderjährige. Davon liest man heute in bitteren Anklageschriften und Blogbeiträgen, was man den Jugendlichen antat und vorenthielt, die zwar säten und ernteten, hüteten, molken und schlachteten, doch kaum je mal ein Stück Fleisch vom eigenen Vieh oder auch nur einen Apfel von den eigenen Obstbäumen zu essen bekamen: „Alle 380 Kinder auf den Feldern? Man sieht sie nicht! Alles weiträumig. Immerhin hatte das „Jupps“ zu der Zeit rund 800 Morgen Landwirtschaft, rund 100 Milchkühe und... und... und... viele Schweine, auch ZWEIBEINIGE! Nur, von der Milch und dem Fleisch haben wir Kinder kaum etwas gesehen. Gruß Josef” - “Hallo Josef, wie recht Du doch hast, wir bekamen davon wirklich nicht viel zu sehen. Was wir bekamen war Milchpulver, Brotsuppe, Steckrüben. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir jemals eine Apfelsine, Banane, (außer Weihnachten) bekommen haben. Sogar Äpfel waren für uns knapp, trotz der vielen Apfelbäume bzw. Obstbäume, die wir im Josefs-Haus hatten. Hätten wir sie uns nicht selber geklaut/gepflückt, so wäre der Apfel für uns auch nur ein Alptraum gewesen. Ist man beim Obstklauen erwischt worden, ja so gab es empfindliche Strafen.”

Die Liste der Misshandlungen ist lang: Eintönigkeit, Redeverbot, Stockschläge – zerbrach der Stock dabei, musste der Zögling einen neuen erwerben – sexuelle Nötigung, psychophysische Gewalt in vielen Spielarten. Auch der 1956 eingeführte Zeven-Erlass, der verlangte, dass jedes Heim körperliche Züchtigungen einzustellen habe, änderte wohl wenig an den Übergriffen im Josefshaus: “Und den Namen von dem Nachtwächter mit der verkrüppelten Hand, der immer Kopfnüsse verteilt hat, den weiß ich leider nicht mehr...”
Dabei wirkt das älteste Gebäude des Josefshauses, die Kapelle von 1927, die 2009 profanisiert wurde, mit ihrem baufälligen Turm nicht gerade wie ein Schreckensort: “Sieht aus, als wäre das Josefs-Haus ein Internat für betuchte. Gruß Egon”.

Post und Pakete wurden vorenthalten, Beten und Arbeeten, Peitsche ohne Zuckerbrot, Drill und Einzelverwahrung. Radfahren wurde erst gar nicht beigebracht. Immer wieder flohen die Jugendlichen, manche zu Pferde, gingen auf Walz, wie man es im Josefshaus nannte. „Wenn man entwichen war und zurückgebracht wurde, kam man mit kahlgeschorenem Kopf in den D-Zug. Dieser sogenannte D-Zug waren 7 gefängnisähnliche Zellenräume im 3. Stock mit schweren Eisengittern vor den Fenstern unter dem Dach des Haupthauses. Dieser Trakt wurde D-Zug genannt, weil er von außen so ähnlich wie ein D-Zug aussah.” Methoden, die 1931 in der Rückschau unweigerlich Bilder von Deportationszügen vorwegnehmen. 1939 richtete man ein Reservelazarett im Josefshaus ein.
Ende der siebziger Jahre landeten die Ausgebüchsten regelmäßig in der “Jugendschutzstelle” Münster, dessen Bistum das Josefshaus später unterstellt wurde. Sie wurden meist nachts von der Bahnhofspolizei aufgegriffen und von einem “seltsamen Fahrer” Tags drauf zurück gebracht.

In den Blogs redet man sich mit Kamerad an, man erinnert sich wie Kriegsveteranen an gefürchtete Lehrpersonen und die schlimmsten Begebenheiten, postet alte Fotos und sucht nach Versehrten aus der Gruppe, der man damals angehörte: Sperber, Wikinger, Sturmvögel, Grasmücken, Watzmänner… Und auch wenn man mit dem Heim nicht viel Gutes verbindet, erinnert man sich so seiner Jugend, in einer Art Zugehörigkeitsgefühl mit den Leidensgenossen auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Kinderreime aus Poesiealben fallen mir ein: Mach es wie die Sonnenuhr, zähl’ die heiteren Stunden nur. Dass man im „Jupps“ davon nicht so viele beisammen brachte, erinnert an die Sonnenuhr vorm Landhaus Rothenberge, deren Schattenwerfer abgebrochen ist.
“War nach 20 Jahren heute wieder in Wettringen. Das Heim, was mich gebrochen hat.” 2012 wurde die letzte Wohngruppe aufgelöst.

Hinterfragt wurde das Fürsorgeheim in seinen über hundert Jahren selten. Man ahnte oder wusste, dass dort schwarze Pädagogik praktiziert wurde, aber erst mit dem Bekanntwerden der Odenwaldschul-Skandale meldeten sich dann auch einige der ehemaligen Josefshäusler öffentlich zu Wort.
Karl W., ein Nom de Guerre, veröffentlichte 2010 in den Westfälischen Nachrichten einen Brandbrief, der von diesem “Kinderknast”, in dem er von 1949 bis 1955 interniert war, erzählte: “Fürsorge, Bildung und Erziehung - das hätten wir Kinder von so einem Heim wie dem St. Josefshaus erwarten dürfen. Stattdessen gab es für uns nur Misshandlungen, Demütigungen, Isolation, harte Arbeit und stupides Nachbeten von irgendwelchen Psalmen“.
Vom Bistum Münster erhielt er darauf zur Antwort: „Das war der Trend der Zeit.“ Entschuldigungen, Schuldeingeständnisse oder irgendeine Form der Entschädigung, darauf warten die ehemaligen Heimkinder, denen man nur wenig Heim, wohl aber ein Dach über den Kopf bot, bis heute.

Die Landschaft, der feuchte Boden des Münsterlandes, der nur mühsam auszubeuten war, sein moorigmoderiger Geruch, die Erde erinnert mich hingegen an glückliche Tage des Umherstreifens in nicht ganz geheurem Gelände.

a) Haus Welbergen

Haus Welbergen verfügt über ein reichhaltiges Archiv, dessen wertvollster Teil die Korrespondenz aus dem Kreise des Freiherrn von Fürstenberg und der Fürstin von Gallitzin bildet. Heute wird das Haus Welbergen für Tagungen genutzt.

Außenbesichtigung jederzeit möglich, Besichtigung des Innenhofes mit der Gartenanlage jederzeit möglich, Innenbesichtigung als Führung mit Voranmeldung.

Fahrrad: Etwa 500m den Weg zurück Richtung Rothenberge fahren und dann links herum in den Welberger Damm. Diesem folgen bis zu seinem Ende, dort links herum und anschließend die Bundesstraße überqueren. Links geht es nun zum Haus Welbergen.
Auto: Vom Josefshaus links herum der Bundestraße 70 Richtung Metelen/Autobahn folgen. An der Ampel dann rechts Richtung Ochtrup weiterfahren. Nach etwa 1,5 km liegt Haus Welbergen auf der linken Seite
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Wasserburg Haus Welbergen
Bertha Jordaan-van-Heek Straße 1 | 48607 Ochtrup
Inormationen und Führungen
Tel.: 0 25 53 - 97 27 28

b) Pestfriedhof

Fahrrad: Von Haus Welbergen auf den Radweg neben der Bundesstraße Richtung Ochtrup fahren. Nach etwa 200m liegt links ein ehemaliger Bauernhof mit einem schönen Fachwerkhaus. Hier die Bundesstraße überqueren und dem Pfad („Pättchen“) bis in den kleinen Wald folgen. Hier finden Sie den Pestfried-hof.
Auto: Am einfachsten ist es, den Wagen an Haus Welbergen stehen zu lassen und den obigen Weg zu Fuß zu machen. Folgt man dem Weg vom Pestfriedhof noch ein wenig weiter, gelangt man über die Dorfstraße automatisch in das Dorf Welbergen, dessen alte Dorfkirche sehenswert ist. Hier findet sich auch eine Gaststätte mit Biergarten („Zum Kapellenhof“, Dorfstraße 15).


Wo ich gerne einkehre:
Welbergen/Langenhorst
Website

Gronau/Gildehauser Venn
Website

Haus Welbergen, Pestfriedhof, Westfälische Bucht, Eper Amtsvenn, Gildehauser Venn

„Ich bin Gottlob! glücklich hier gegen 6 Uhr angekommen, mit Hülfe eines Wegweisers, den wir in Wetteringen bekamen. Einen Tag später, wäre vielleicht wegen des gänzlich aufgegangenen Grundes die Fahrt nicht so glücklich abgelaufen.“
Johann Georg Hamann, sprachmagischer Philosoph, Freund und Sparringpartner Immanuel Kants und wie dieser in Königsberg geboren, verbrachte vier Monate seines letzten, siechen Lebensjahres 1787/88 auf Haus Welbergen, bevor er dann mit 57 Jahren in Münster verstarb.
Haus Welbergen wurde zu der Zeit von seinem Bewunderer und Gönner Franz Kaspar Bucholtz mit seiner Familie bewohnt, ein großbürgerlicher Schöngeist und Privatier aus dem Kreise der Fürstin von Gallitzin, der einen adeligen Lebensstil pflegte.
Es ist eine der kleinsten und sich weniger feudal gebenden Wasserburgen des Münsterlandes mit einem barock gestalteten Burghof. Ein Hortus conclusus, der verwunschener nicht sein könnte, er gehört, wie das Landhaus Rothenberge heute ebenfalls zur Bertha Jordaan-van Heek Stiftung.

Als Kind nutzte ich die üppig bemoosten Baumwurzeln des umliegenden Waldes als flauschige Spielstätten für meine Puppen, planschte und stakste durch den angrenzenden glasklaren Gauxbach, in dem ich beinahe mal auf ein totes Ferkel getreten wäre, das ich für einen Stein hielt und vor dem ich mich daraufhin redlich gruselte. Wurde hier ein krankes Tier entsorgt, oder ertrank es auf der Flucht vor seiner Zukunft?
Hier markierten auch unsere Hunde Revier; der gemeinnützige Gebrauch privater Liegenschaften und Latifundien schien mir vollkommen selbstverständlich. Wie es, wenn man mit „Rappelkiste“-Liedern aufwuchs („Willste übern Rasen laufen, musste dir ’n Grundstück kaufen“) ohnehin außer Frage stand, dass Adel und Reichtum verpflichten, nämlich mindestens dazu, öffentlichen Raum zu erschaffen und zu erhalten.

Hamann erreicht Welbergen schon in einem kranken Zustand und bleibt dann für mehrere Wochen ans Bett gefesselt: „Heute ist der 27te Tag, daß ich bettlägerig bin, und 8 Tage vorher hatte ich bereits meinen Schlaf verloren, der sich noch nicht wieder finden will. Besonders ist diese Nacht eine der unruhigsten für mich gewesen. Mit genauer Noth kann ich des Tages eine Stunde aufbleiben,“ hält er am 11. Januar 1788 fest.
Sein Arzt diagnostiziert ein „schleimichtes Faulfieber“, er bekommt Ausschlag an Rücken und Händen, die Zunge „war beynahe kohlschwarz und zotigt“, immer wieder quälen ihn dicke Füße, vor allem aber Magen- und Darmleiden. Er nimmt kaum etwas zu sich. Die Arzneien gleichen eher Rosskuren. Spanische Fliegenpflaster werden ihm verordnet, die aus dem giftigen Pulver getrockneter und zerstoßener südeuropäischer Ölkäfer stammen, die auch als Blasen-, Reiz- und Pflasterkäfer bekannt sind. Die Haut wirft Blasen an der Stelle, wo man sie klebt, mit dem Austritt der Blasenflüssigkeit sollen auch Schlacken und Körpergifte austreten. Cantharidenpflaster werden bis heute in der Alternativmedizin eingesetzt, ihre Wirkung bleibt umstritten. Auch werden Hamann nicht unbedingt förderliche, aber zur Genesung damals üblicherweise eingesetzte Alkoholika in nicht geringen Mengen gereicht, die er mit einem auch nicht gerade für empfindliche Mägen gebackenen Dominicaner verzehrt. „Man nennt hier Dominicaner ein Butterbrodt von Pumpernickel mit Weißbrodt beleget.“ Pumpernickel, jenes haltbare Schwarzbrot, das aus ganzen Schrot- und Roggenkörnern besteht, die erst eingeweicht und dann wenigstens 16 Stunden gebacken werden, soll durch Napoleons Soldaten zu seinem Namen gekommen sein. Diese stuften es als gerade noch gut genug für Napoleons Pferd Nickel ein: „Bon pour Nickel“.
Dazu kommen immer wieder beschriebene „Oefnungen“, die Hamann mal Erleichterungen verschaffen und ihn mal völlig entkräften. Damit dürften Aderlässe gemeint sein. Er kann sich manchmal kaum aufrichten. Versucht es schließlich mit Opium: „Meine Neugierde einen Versuch mit Opium zu machen, wurde auch einmal befriedigt, aber vornehmlich in der Absicht den Ausschlag zu befördern. Ich habe aber einen Abscheu vor dem Gebrauch dieses Mittels durch die einzige Probe, die ich in meinem Leben gemacht, bekommen; es ist dem ganzen Geschmack meiner Natur zuwider, und ich werde mich nach keinem zweiten Versuch mehr sehnen – Die Crisis währt fort – meine Entkräftung geht fast bis zur Ohnmacht“.
Hamann, ein gläubiger Sprachbekehrter und -bekehrer – der Salon der Fürstin von Gallitzin, die durch seine Einwirkung zum Katholizismus übertrat, nannte sich „Familia Sacra“ – , versucht seiner Lage durchaus pragmatische Seligkeiten abzugewinnen: „Gott hat mir Feyerabend gegeben, mich aus dem Gang öffentl. Geschäfte ausgespannt, zu denen ich so wenig tauge als zum Umgang mit der Welt.“

Es könnte sich um eine Form der Malaria gehandelt haben, an der er litt. Noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein kam diese in Europa in sumpfigen Regionen vor. Auch die Pest käme vielleicht in Frage, die klimatischen und hygienischen Bedingungen waren dementsprechend. Typhus und Fleckfieber besiegten nicht zuletzt noch Napoleons Truppen. Kleiderläuse, Flöhe, Bakterien, Ernährung und verunreinigtes Trinkwasser rafften ja oft mehr Menschen dahin, als es die Kriege selbst taten.
Nicht weit von Haus Welbergen, man fährt die B54 Richtung Langenhorst-Ochtrup, führt ein schmaler Feldweg rechter Hand in einen kleinen Wald zwischen Äckern zu einem der wenigen noch bekannten Pestfriedhöfe Europas. Hier begrub man vor den Toren der Stadt die Seuchenopfer. Die Pest hielt in vielen westfälischen Landstrichen mit der katastrophalen körperlichen Verfassung der Soldaten des Dreißigjährigen Krieges Einzug, forderte in Ochtrup, Langenhorst und Welbergen die meisten Opfer. Dies aber erst 1666, eine ganze Weile nach dem Westfälischen Frieden also.
Das Ochtruper Kirchenbuch weiß: „Im Jahre 1666 nahm hier die schreckliche Pest ihren Anfang, sobald der Oberst Wallpott mit seinen übriggebliebenen Soldaten hier Nachtquartier gehalten hatte. Wenn Gott nicht den Leuten in den Sinn gegeben hätte, aus der Stadt zu flüchten, so wäre vielleicht kein Mensch übriggeblieben.“

„Die Witterung ist sehr niederschlagend. Freytags habe ich zum erstenmal aus dem Hause gehen können, und heute wieder einen kleinen Spaziergang nach dem Wiesenbusche gethan, und dem Blick nach der Welberger Kirche und der Abtey Langenhorst ein paar Minuten genossen. Die Luft ist aber so schwül, daß alles davon ermattet“, notiert Hamann am 10. Dezember 1787.

Wer sich die Üppigkeit der Bewuchse, die Moose, Flechten und Farne beschaut, ahnt, dass feuchte und nasse Tage hier eher die Regel als die Ausnahme bilden.
Das liegt an der besonderen geographischen Lage, der sogenannten westfälischen Bucht: „Die Temperaturen sind gemäßigt, die Niederschläge relativ hoch (...) Das hängt wahrscheinlich mit einer Art Luftstau zusammen: die Bucht gleicht nämlich einem Sack, in den die Luftmassen hinein- und übereinandergeschoben werden.“
Klimazonen bildeten nicht selten auch die Ländergrenzen zum nicht mehr fernen Niedersachsen und zu den Niederlanden. Wenn man heute also behauptet, die geographischen Kriege seien zurück, frage ich mich, ob sie denn je fort waren. Gewalttätige Landnahmen erfolgten schon immer nach der Maßgabe ihrer möglichen Nutzungsvorteile, sei es, was Bodenschätze und ihre Zugänglichkeit anging, sei es, was das günstige Klima betraf, das Ernteerträge und damit eine gute Versorgung sicherstellte.
Landstriche, die von alledem nicht viel vorzuweisen hatten und haben und nur mühselig urbar zu machen waren, sind heutzutage zumeist davon bedroht, dass man ihnen gerne unterjubelt, was Energie- und Rohstoffgewinnung an Restmüll und Lagerrisiko so mit sich bringen. Der jüngste Vorfall um den Ölaustritt aus einer der Salzkavernen im Naturschutzgebiet Amtsvenn bei Epe, bei dem 200.000 Liter Erdöl austraten, führt es eben so deutlich vor Augen, wie das nahe gelegene Atommüll-Zwischenlager bei Ahaus.
Gegen die Castor-Transporte saß ich schon als Schülerin auf den Schienen. Das strukturschwache Gebiet ist, seit ich denken kann, immer wieder dafür benutzt worden, um eine Politik des Hui-Pfui zu betreiben. Der Deal ist recht simpel, man schafft Rockmuseen, Bundesgartenschauen, hübschere Innenstädte, bessere Verkehrsanbindungen, neue Arbeitsplätze und erklärt sich im Gegenzug dazu bereit, die Restrisiken der Welt zu beherbergen, von denen man ja nicht zuletzt selbst profitiert hat. Das Ölleck im grenznahen Gronau-Epe macht es im Jahre 2014 wieder einmal deutlich: Über der Erde wirbt man für Baumfalke, Krickente und Ziegenmelker und der Flamingo-Radwanderweg lädt zur Ressourcen schonenden Landpartie ein, während unter der Erde die strategischen Bundesreserven unzeitgemäßer fossiler Energien als Bedrohung schlummern, Kühe verenden und der Kiebitz schreit.
Ironie des Schicksals am Ausgang einer selbst gewählten Unmündigkeit: Die Dächer der Eper Bauernhöfe schmücken inzwischen Solarpanel und auch die ungezählten Windräder des Münsterlandes scheinen dem Wiesengrund kundigen Adorno Recht zu geben: „Nur, wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles.“

„Es ist wirklich eine Wohltat für diese feuchte und sumpfige Gegend, daß der Grund sandig ist, und sich das Wasser ebenso schnell verliert als sammelt.“ behauptet Hamann.
Für die Bauern bedeutete dieser Boden aber immer harte Arbeit und begrenzte Anbaumöglichkeiten.
So ist das Nordwestmünsterland vor allem für Futtermittel bekannt, für Hackfrüchte wie Mais und Rüben und Getreide wie Roggen, Hafer und Wintergerste.
Die Sandböden ließen sich nur mit gestochenen Plaggen, mit denen sie über die Jahrhunderte hinweg belegt wurden, allmählich zu fruchtbarem Humus wandeln. Und die Kleieböden mussten häufiger und unter größerem Kraftaufwand, man brauchte mehr Gespanne dafür, umgebrochen werden. In Trockenzeiten wurden sie schnell rissig und klutig, in Regenzeiten schmierig und klebrig, wovon schon Hamann eingangs auf der Fahrt von Wettringen nach Welbergen zu berichten wusste.

Und nicht zuletzt die Droste hat den feuchten Boden des Münsterlandes mit der Ballade vom Knaben im Moor zum Protagonisten einer ganzen Region gemacht.

O schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt! –
O schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!


Weniger die Düfte einer in Tee getauchten Madeleine kommen mir zur wiedergefundenen Zeit in den Sinn, als vielmehr die jahreszeitlichen Gerüche von Gülle und reifendem Getreide, matschigen Waldwegen, gärenden Tümpeln und die von Kiefernadeln und -zapfen berieselten Sandböden des Gildehauser Venns, in denen Ameisenlöwen ihre Fangtrichter aushoben und Kreuzottern sich auf Sandhügeln wärmten, dort, wo ich winters Schlittschuh lief und sommers in moorigen Gewässern zwischen Sonnentau, Schilfrohr und Wollgras badete.
Eine Kindheit und Jugend wie aus einem Arno-Schmidt-Roman, so erscheint es mir und Seelandschaften mit Pocahontas sind mir genau so abrufbar wie Kühe in Halbtrauer.






Fahrrad/Auto: Vom Pestfriedhof/Welbergen aus zurück zur Bundesstraße und dieser folgen Richtung Westen nach Ochtrup. Sie gelangen zuerst durch den Ort Langenhorst, dessen alte Stiftskirche eine Besichtigung lohnt. Gegenüber der Stiftskirche (an der ersten Kreuzung links) finden Sie nahe der Vechte das empfehlenswerte Landgasthaus „Althoff“. Zurück entlang der Bundesstraße 54 gelangen Sie nun durch einen Kreisverkehr bevor Sie Ochtrup erreichen. Sie folgen der Straße weiter, bis Sie auf der rechten Seite das imposante neobarocke Verwaltungsgebäude der ehemaligen Textilfabrik Laurenz erblicken. Sie haben das Ziel erreicht.















Fashion Outlet Center
Laurenzstr. 51-55
48607 Ochtrup
Website

Café Laurenz
Laurenzstr. 53
48607 Ochtrup
Website

Ochtrup, Apokalyptische Reiter von Hubertus Brouwer

Man könnte meinen, der Boden selbst erschuf die ganze Region und mit ihr das Handwerk. Ochtrup, mein Geburtsort, entwickelte sich erst zur Töpfer- und dann zur Textilstadt. Mit dem gestochenen Torf der angrenzenden Moore betrieb man Ziegelbrennereien; Lehmgruben und Bleichen werden neben 23 Töpfereien um 1800 urkundlich erwähnt.

Als ich 1990 die Schule verließ, gab es gerade noch zwei Töpferwerkstätten. Heute sind auch diese beiden Relikte eines industriell überformten und unpopulär gewordenen Handwerks verschwunden. Einzig ein Töpfereimuseum bewahrt noch die irdene Geschichte: den Siebenhenkeltopf, ein Nachtgeschirr, bei dem man schlaftrunken nicht daneben greifen konnte; sowie die Ochtruper Nachtigall: ein kleines krugähnliches Tongefäß, das nach jenem Vogel klingt, wenn man es mit Wasser befüllt und durch seine Gieße bläst. Und ich erinnere mich an ungezählte, handverzierte Schmuckteller für Taubenzüchter und ihre Vereinslokale mit den Porträts ihrer luftigen Rennpferde darauf.

Die landwirtschaftlich geprägte Region hat ihre Teilhabe an der Industrialisierung erst langsam entwickelt. Die um 1900 florierende Textilwirtschaft, verbunden mit den Namen der Gebrüder Laurenz, fand ihre Produktionsorte in einer Region, die vorher nur handwerklich hergestellte Töpferei oder Leinweberei-Produkte kannte! Dieser Anschluss an das bessere Leben gefiel allerdings schon damals nicht jedem. Die Färberei brachte empfindliche Eingriffe in Natur und Landwirtschaft mit sich: “Durch einen Theil der Gemeinde Ochtrup fließt ein Bach, Holterschlatsbach genannt, welcher von uns und auch von verschiedenen andern Familien theils zur Reinigung der Wäsche, anderntheils auch zur Bewässerung und Beflößung unserer Wiesen stets benutzt worden ist. Seitdem jedoch die Herren Gebr. Laurenz bei ihrer Fabrik auch eine Färberei anlegten, wurde das Farbwasser hineingelassen und dadurch das reine Wasser des Baches gänzlich verdorben und unbrauchbar gemacht. Der Bach ist stets voller Unflat, das Wasser total schwarz und zu jedem Gebrauch und jeder Benutzung schadhaft. Keine Wäsche kann mehr vorgenommen werden, keine Beflößung der Wiesen mehr stattfinden. Im Sommer bei etwas warmer Witterung tritt nicht selten der Fall ein, daß das Wasser ohne es verhindern zu können über unsere Wiesen geht, wodurch das Gras schwarz und als Futter fürs Vieh nicht mehr gebraucht werden kann und darf!”
Der Bach ist den Ochtrupern eigentlich nur als Farbbach bekannt und noch heute steigen schwarze Farbwolken auf, tritt man in sein Sediment. Wolken, die so schwarz sind wie die wertkonservative Zentrums-Partei, die in der Weimarer Republik kreuzkatholische Paohlbüörger vertrat und es nach Gründung der CDU kaum noch auf Stimmanteile brachte. In Ochtrup stellte man sie lange unter Artenschutz. Bezeichnenderweise hat die Linke es dann auch in diesem Landstrich bis heute nicht sehr weit gebracht. Der Paohlbüörger, also der, der seine Siedlungshäuser auf Pfähle im morastigen Untergrund stellte, gilt als Besitzstandswahrer mit wenigen standesübergreifenden Visionen. Andere Deutungen kennzeichnen ihn als denjenigen, der einen Paohl vorm Haus hatte, woran er sein Pferd band und damit im Besitz eines Pferdes war, also sich schon zu den gesellschaftlichen Gewinnern rechnen durfte.

Die Gebrüder Laurenz betrieben Webereien in den angrenzenden Städten Gronau und Epe, in denen insgesamt 1850 Webstühle standen. Sie exportierten nach Übersee und führten Geschäftshäuser in Berlin und Königsberg. 300 Werkswohnungen wurden gebaut, Badehaus, Werkseisenbahn, Kindergarten, Werksfeuerwehr und Musikkapelle zählten zum Textilimperium. Verwaltet wurde dies ab 1893 vom schmucken Beltmannbau aus, einem schlossgleichen Zuckerbäckerbau, niederländischer Neorenaissance nachempfunden.
Gleich dahinter, wo lange Garne hergestellt und zu Stoffen verwebt wurden, werden seit 2014 in Niedriglohnländern produzierte textile Überschüsse billig verkauft, und dies so erfolgreich, dass diese vermeintlichen Überschüsse nun extra für den lohnenden Outlet-Verkauf hergestellt werden.
Ochtrup hat mit diesem Fashion Outlet Center an Strahlkraft gewonnen, die der Stadt meiner Kindheit und Jugend in den Siebzigern und Achtzigern fehlte. Für die angesagte Klamotte musste ich meine Kleinstadt verlassen, immer.

Heute trinkt man im Café Laurenz, dem imposanten ehemaligen Foyer, gepflegt seinen Kaffee unter einem wandfüllenden Mosaik von Hubertus Brouwer, das er dort 1954 aus hunderttausenden Mosaiksteinchen zusammengesetzt hat.
Brouwer (1919-1980) war ein niederländischer Künstler, der sich schlecht einordnen lässt, der zwischen zart verspielter Figuration und abstrakter Technikbegeisterung aber doch den Geist der Zeit vertrat und sein ganzes künstlerisch tätiges Nachkriegsleben in Ochtrup verbrachte.
Es ist nicht irgendein Motiv, das er für den einstmals größten Textilbetrieb des Münsterlandes wählte. Er empfing die Werktätigen mit den apokalyptischen Reitern. Kritischer konnte ein Statement 1954 kaum sein, als man wieder wer zu sein wünschte und von der Wirtschaft Wunder erwartete, die die Kriegswunden schließen sollten.

Ob Brouwer den späteren Niedergang der Textilindustrie bereits vorausahnte, als er sein Mosaik mit den apokalyptischen Reitern für die Textilmogule schuf oder die Grauen des vorangegangenen Weltkrieges noch nicht für beendet hielt, weiß ich nicht. Wohlmöglich sah er im Wirtschaftsaufschwung eine weitere Geißel der Menschheit heraufdräuen. Er hat sein Mosaik in den Farben der Reiter, wie sie in der Offenbarung des Johannes beschrieben werden, gefertigt: weiß, schwarz, rot und fahlgrau ist der erste großflächige Eindruck. Tritt man aber näher heran, sieht man die Steinchen vielfarbig funkeln.
Die vier Reiter mit ihren Attributen, Bogen, Schwert, Waage und Sense sind nicht immer leicht zu erkennen. Sie wirken eher filigran und verspielt als bedrohlich. Die ganze Textur von Mosaik und Reitern erscheint in den Binnenkonturen fadenhaft und, seinem angestammten Ort entsprechend, verwoben, einer Tapisserie oder einer Petitpoint-Stickerei nicht unähnlich, nur eben wie deren Rückseite, mit lose herabhängenden, unvernähten Fäden.
Dramatik wird durch die sich überschneidenden Farbflächen erreicht, in deren Lichtkegel und Schlagschatten die Reiter auftreten. Das Ganze erinnert in der Komposition an Picassos Guernica, aber auch an Franz Marcs Reh im Wald oder dessen Tierschicksale. Vor allem aber ist es ein gleichermaßen bedeutendes, wie in der Provinz leicht zu übersehendes und nicht nur dem Ausmaß nach großes Kunstwerk.

Wir sind am Ende meiner Literatour aus schwarzer Pädagogik, schwarzem Tod, schwarzem Moor, Schwarzbrot, schwarzen Öllecks, schwarzem Farbbach, schwarzer Politik und schwarzer Kunst angekommen, die den nicht weit entfernten Stationen einer einzigen Straße folgt und die als Bundesstraße 54 beginnt. In ihrem Verlauf durch die Ortschaften wird sie dann zur Ochtruper Straße, Haupt - und Laurenzstraße, Bült, Berg- und Gronauer Straße, bis man schon bald danach auf ihr die nächstgelegenen holländischen Städte Glanerbrug und Enschede erreicht.
Alle beschriebenen Hotspots meiner Adoleszenz sind hier aufgereiht. Es möge Sie dabei mein persönlicher Lieblingsheiliger begleiten, der Schutzpatron der Verschwiegenheit, der heilige Nepomuk. Da steht er! Auf der Brücke über dem Gauxbach vor Haus Welbergen. Some of the best saints are guitar players. So wie er das Kruzifix hält und einen ausgesprochen fröhlichen Gesichtszug trägt, ist er das wissende Mitglied einer seligen Band, dessen Zunge noch viele Geheimnisse ausplaudern könnte und die doch lieber schweigt. Und während die Wasser um ihn herum steigen, zupft er stumm: The times they’re a changin.


Ich möchte allen danken, die mir mit ihren Auskünften und Original-Quellen weitergeholfen haben:
Marianne Scho, Theresia Holtmann, Joachim Feldmann, Dr. Susanne Schulte, LWL – Landschaftsverband Westfalen Lippe, Heimatverein Ochtrup e.V., heimkinder-forum.de, watzmann1986.com und Johann Georg Hamann in seinen Briefen.