Hier führen Sie Schriftsteller und Schriftstellerinnen in Text und Bild durch ihr persönliches Ruhrgebiet. Zehn der Touren sind 2010 entstanden. Zwei weitere kamen 2011 hinzu.

Die Literatouren Ruhrgebiet wurden durch die RWE Stiftung Stiftung ermöglicht.

Fritz Eckenga

Runter in den Norden und ein Stück in Richtung Meer …

Philipp Wente
ca. 6 Stunden ca. 34 km

Entlang des Wassers auf der Suche nach Ruhe. Die Sonne scheint. Der Strukturwandel als abgegriffene Phrase, um unverstandene ökonomische und kulturelle Umwälzungsprozesse zu erklären. Der Rudersport auf dem Dortmund-Ems-Kanal eine dagegen wenig beachtete Konstante der Region, die dem Wandel trotzt.

Als Hör-Tour

Gelesen von Fritz Eckenga

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Fritz Eckenga

»Runter in den Norden und ein Stück in Richtung Meer …«

Fotos: Philipp Wente



Angler, Grillwürste, Möbellager, Enten, Industriedenkmäler, Zottelrinder, Hochleistungssportler und jederzeit die Ahnung, dass am Ende des Weges das Meer wartet. Die Frachtschiffe fahren aus dem Dortmunder Hafen über den Dortmund-Ems-Kanal zu den Westhäfen der Nordsee, nach Antwerpen, Rotterdam und Amsterdam. Man kann ihrer Route folgen. In aller Ruhe. Immer am Wasser entlang. Das Schöne an diesem Weg: Er ist überhaupt nicht rund. Er hat eigentlich kein Ende, aber bis dahin jedes, das man will. Mal sehen, wie weit ich heute komme …

Dortmunder Hafen
Speicherstrasse 23
44147 Dortmund




Am Dortmunder Hafen

 

 

 


Gern fahr ich aus freien Stücken
fort von mir, und zwar geschwind.
Manchmal pfeift in meinem Rücken
leise etwas Heimatwind.

 


Ich bin „runter“ in den Dortmunder Norden gefahren, in die Nähe des Hafens. Er liegt im nicht nur topographisch abfallenden Teil der Stadt.

Hier ist es wie in vielen Ruhrgebietsstädten, die tatsächlich Berührung mit der Ruhr haben. Je besser es den Menschen wirtschaftlich geht, desto weiter „oben“ wohnen sie. Die Ruhr fließt im Süden. Wenn man in den Norden will, muss man nach unten.

Vom Parkplatz aus bin ich nach links gegangen. Andere Menschen gingen nach rechts. Sie trugen besorgte Gesichter und große Taschen. Darin waren wohl die eigenen Sachen oder die für die Angehörigen. Wer nach rechts geht, muss meistens ins Krankenhaus, ins Klinikum Nord, einer Filiale der Städtischen Kliniken Dortmund, dem größten Krankenhaus Nordrhein-Westfalens. Dort war ich schon häufiger, um Krankenbesuche zu machen. Heute hatte ich zum Glück keinen Anlass. Also ging ich nach links. Richtung Meer.


Schäfchenwolken sausen südwärts,
Sonne saugt sie sengend ein,
Ozean grüßt blautürkisisch,
Möwen kehren keuchend heim.


Hallo wach, Spaziergänger! Ja, das da oben sind Schäfchenwolken. Ja, die Sonne gibt ihr Bestes. Und ja, die lärmenden Vögel sind Möwen. Das Wasser da vorne ist aber ganz offensichtlich kein Ozean! Seit wann haben Ozeane Spundwände?

Hier kann man ganz gut stehen bleiben und kucken. Mein Vater sagt immer: „Es gibt nur eins, das langweiliger ist als angeln. Angler bekucken.“ Der Alte hat zwar oft Recht, aber nicht immer. Ich schaue den Anglern gerne zu. Es gibt stumme Angler, die auf Köderfisch gehen; Angler, die lateinisieren, das Hafen- und Kanalgebiet sei ein hervorragendes Barsch-, Hecht- und Zander-Revier; und es gibt Angler, die überhaupt nicht angeln, sondern einfach nur ein paar Würmer am Haken baden.

Angler sind Allwettermenschen. Die sind immer da. Sobald das Jahr aber in die wärmeren Monate vordringt, verändert und vermehrt sich die Uferpopulation stetig. Spaziergänger, Gassigeher, Jogger, Rad- und Bötchenfahrer, Kanalschwimmer und Pilstrinker bereichern das Landschaftsbild. Nach und nach wird es bunter, lauter und geruchsintensiver.


Wurst und Rippe, fettdurchzogen,
bluten in die Glut,
Feuerzungen lecken eifrig
nach gegrilltem Gut.


Ab einer stabilen Außentemperatur von 20 Grad aufwärts kehren hohe Aufkommen von grillwilligen Aufrechtsäugern an den Kanal zurück wie andernorts Lachse zu Laichgründen. Rauchzeichen künden schon von weitem von ihrer Ankunft. Die Kanalgriller ziehen sich so viel wie möglich nichts an und werden Wurst für Wurst ihrem Hauptnahrungsmittel ähnlicher. Dringend mahnt schon bald das sinnenbetäubende Gepränge den Wanderer zum Aufbruch, doch für ein wenig Lyrik reicht die Zeit ja immer.


Ich saß am Dortmund-Ems-Kanal
und sah, wie Mensch in großer Zahl,
Moment, ich saß gar nicht, ich stand,
und wo noch mal? Ach ja, an Land.
Ich stand an Land und sah mir an,
was Gott, der Schöpfer alles kann.
Ich sah wie Mensch als Wurst entsteht,
als außen Brand und innen Brät.
Ich sah am Dortmund-Ems-Kanal,
wie früher schon beim Abendmahl,
die Wandlung – und dann ging ich mal.


Macht’s gut und danke für die Wurst. Und jetzt den Daumen raus und per Anhalter bis zum Meer? Auf einem der Lastkähne, die über den Dortmund-Ems-Kanal aus dem Hafen herausfahren? 

Altes Hafenamt, Dortmund
Sunderweg 130
44147 Dortmund

































Industriemuseum Schiffshebewerk Henrichenburg

Am Hebewerk 2
45731 Waltrop

Webseite

(Rad-) Route der Industriekultur

Webseite

Das wirtschaftliche Fieberthermometer

Ende des 19. Jahrhunderts wurde im heute größten Kanalhafen Europas die erste Fracht gelöscht. Wilhelm II., der letzte Kaiser, kam zur Einweihung, hatte an dem Tag aber wohl noch was anderes vor. Die Untertanen hatten zu Ehren der Durchlaucht extra ein „Kaiserzimmer“ eingerichtet. Der später wegen erwiesener Unfähigkeit in Kriegsangelegenheiten in den Niederlanden endgelagerte Preußenkönig hat es aber nie betreten. Wer möchte, kann es jetzt im Alten Hafenamt besichtigen. Weniger wilhelminisch veranlagte Menschen sollten trotzdem mal rein-, oder es sich wenigstens von außen anschauen. Die einstige Hafenverwaltung beherbergt heute ein Museum. Der restaurierte Renaissancebau thront auf einer Brücke hoch über dem Hafen, fällt schön ins Auge und muss nicht lange gesucht werden.

Unter der Brücke des Alten Hafenamts dieseln die Frachtschiffe. Ihre Ladung spricht Bände. Wenn Politiker, leitendes Wirtschaftspersonal und Journalisten ökonomisch verursachte Umwälzprozesse und die durch sie entstehenden Nöte nicht erklären wollen oder können, fällt ihnen gerne und oft das Wort „Strukturwandel“ aus dem Mund. Hätten sie in Dortmund in den letzten 20 Jahren für jedes gedankenlos dahergeplapperte und hingedruckte „Strukturwandel“ eine D-Mark oder einen Euro in das Phrasenschwein des Stadtkämmerers zahlen müssen, wäre es bestimmt nie zum jetzigen „Nothaushalt“,  also der Zwangsverwaltung des städtischen Etats gekommen.

Strukturwandel ist Frachtwandel

Hier im Hafen aber kann jeder mit bloßen Augen sehen, was Strukturwandel tatsächlich ist. In den Bäuchen und auf den Decks der Schiffe stellt er sich dar. Vor den Zechenschließungen fuhren die Schiffe die Steinkohle aus der Stadt heraus, heute fahren sie sie hinein. Die Kraftwerke müssen weiter gefüttert werden, den in preiswerteren Gegenden der Welt geförderten Brennstoff muss man importieren.
Vor der Schließung der Hoesch-, Krupp- und Thyssen-Hochöfen lieferten die Schiffe das Eisenerz zum Stahlkochen, im Jahr 1997 noch über 2,5 Millionen Tonnen. Ende 2001 betrug das Frachtaufkommen null Gramm –  Erz für die Hütten wird hier nicht mehr gebraucht. Das ist für immer vorbei. Die Öfen sind zwar nicht aus, aber sie rauchen woanders. Sie wurden umgezogen, nach China. Hundertschaften chinesischer Arbeiter haben die einst in unmittelbarer Nachbarschaft des Hafens gelegene Westfalenhütte in Endlos-Schichten demontiert. Anschließend hat das Hüttenwerk, in dem mal bis zu 25.000 Menschen gearbeitet haben, bis auf die letzte rostige Unterlegscheibe Dortmund für immer verlassen. Selbstverständlich auf dem günstigen Wasserweg, via Dortmunder Stadthafen hin zu den großen Westhäfen der Nordsee. Das Kanalwasser-Straßennetz zieht sich vom östlichen Ruhrgebiet über die Rheinanbindung bis Antwerpen, Rotterdam und Amsterdam.

 

Kommen Sie doch auch mal her
und bestaunen den Verkehr
zwischen Dortmund und dem Meer.


In den Umschlags-Statistiken der Hafen-AG wird sichtbar, wann es der Stadt wie gegangen ist. Der ursprünglich zugunsten der Montanindustrie gebaute Hafen ist ein wirtschaftliches Fieberthermometer. Aktuell sinken die Frachtraten bei den Investitionsgütern, dafür steigen sie bei den Konsumartikeln. Neue Container-Terminals entstehen. Unter anderem, weil der Weltmöbelkonzern Ikea in der Nähe ein riesiges Europa-Zentrallager bauen ließ. Es ist eine gigantische Landmarke der neuen Art. Die Industriearchitekten des dritten Jahrtausends entwerfen abwaschbare, rostfreie, fensterlose Hallen. Ob darin Flugzeuge, Bücher
oder Billy-Regale geparkt werden, sieht man ihnen von außen nicht an. Von außen sieht man nur die glatten Fassaden der übergroßen Allzweckgaragen, vor denen rotierende Windräder Umweltverträglichkeit verheißen.
 
Ganz gleich, auf welcher Route ich mich hier jemals bewegt habe, irgendwann stand mir immer das seltsame Elchcontainer-Strompropeller-Ensemble vor den Augen rum. Wenn ich jetzt weiter nördlich in Richtung Meer gehe, wird es sich nach zwei, drei Kilometern links ins Blickfeld schieben.

Doch erst mal hat es den Anschein, als böte sich die Chance, den auf Grill-Irrwegen stimulierten Appetit in gastronomisch ansprechender Umgebung zu stillen. Die Terrasse des Vereinshauses des Dortmunder Ruderclubs Hansa von 1898 liegt erhöht am Ufer. Jetzt hinsetzen, um sitzen zu bleiben? Gute Luft am Wasser atmen, gutes Pils vom Fass trinken? Dem Graureiher applaudieren, weil er wie von der Regie bestellt einen eleganten Kunstflug hinlegt? Gerade noch rechtzeitig, bevor tief im Westen die rote Sonne im Kitsch versinkt. Dabei etwa noch ein Gedicht schreiben? Kann man hier alles machen, ist hier alles im Angebot. Aber heute nicht. Heute steht das Restaurant nur den Sportlern und Vereinsgästen zur Verfügung.

Im Sport existiert Dortmund in der öffentlichen Wahrnehmung eigentlich nur als Borussia. Der BVB 09 ist Massen- und Kassenmagnet und damit die Werbemarke der Stadt. Im großen Schatten der Dortmunder Bundesliga-Fußballtribünen sehen andere Sportarten und Vereine wenig Licht und fristen, wenn überhaupt, ein verkümmertes Dasein in unteren Ligen.
Nicht so der RC Hansa. Er ist einer der erfolgreichsten Rudervereine des
Landes und hat viele nationale und internationale Meister hervorgebracht. Sein Trainingsrevier, der Dortmund-Ems-Kanal, ist außergewöhnlich weitläufig, vor allem ist es im Gegensatz zu anderen Regattastrecken sehr lang. Die Ruderer haben, wenn sie nicht gerade Frachtschiffen ausweichen müssen, fast 13 Kilometer freie Fahrt. Sie endet erst am Schiffshebewerk Henrichenburg in Waltrop.

Der Niveauunterschied des Geländes beträgt hier 14 Meter. Um diese hohe Kanalstufe zu überwinden, fahren die Schiffe heute durch einen modernen Schleusenpark. Davor benutzten die Frachter den gigantischen Wasser-Aufzug. Ohne das mittlerweile als ein Standort des Westfälischen Industriemuseums genutzte Hebewerk hätten die Schiffe früher nie bis zum Dortmunder Hafen fahren können. Es war also eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Die prosperierende Montanindustrie brauchte den Wasserweg unbedingt, denn die Frachtmengen waren per Schienenverkehr nicht mehr zu bewältigen.

Wilhelm II. muss an dieser Stelle noch einmal erwähnt werden. Er wird dann aber, Ehrenwort, zum letzten Mal vorgekommen sein. Seine kaiserliche Hoheit ließen sich die persönliche Einweihung des einzigartigen Gebäudes im August 1899 nicht nehmen. Das Hebewerk ist das größte und spektakulärste Bauwerk im Verlauf des alten Dortmund-Ems-Kanals, ein technischer Geniestreich. Die Eisenfachwerkkonstruktion wurde 1969 geschlossen und durch ein neues Hebewerk ersetzt. Es ist heute ebenfalls stillgelegt. Wenn der emsige Förderverein aber so weiterbaggert wie bisher, wird das Ensemble eines nicht mehr fernen Tages wieder in Betrieb genommen, vielleicht sogar als Weltkulturerbe.

Wer jetzt schon wissen will, wie man mit nur 110 Kilowatt Stromleistung 70 Meter lange Schiffe und 3.600 Tonnen Gewicht 14 Meter hochhebt, muss einfach immer am Wasser weitergehen. Nach etwa drei Stunden wird er angekommen sein und kann sich eine Eintrittkarte kaufen. Ich empfehle allerdings, die Strecke mit dem Rad zu fahren, sie ist Teil der (Rad-) Route der Industriekultur.

In aller Ruhe
Kein Ende und jedes, das ich will


Ich werde heute eine Weile in die Richtung gehen. Wo ich aufhöre, weiß ich noch nicht. Das ist das Gute an diesem Weg. Sein Ende ist so weit entfernt, dass er eigentlich keins hat. Und bis dahin hat er jedes, das ich will.     

Je weiter ich mich vom Dortmunder Hafen entferne, desto weniger habe ich um die Ohren. Da drüben auf der Weide schweigt eine Herde Zottelrinder im Gras, kaut hin und wieder und hin und wieder und erteilt so kostenlosen Anschauungsunterricht in Sachen Slow Food. Ab und zu brummt rechts ein Kahn vorbei, von links räuspert gelegentlich der Wind in den Pappeln. Der Mensch kommt nur noch sehr vereinzelt vor und wenn, dann meistens von hinten auf zwei Rädern. Er klingelt, damit man ihm Platz macht und fährt bald vorne aus dem Bild. Manchmal ist es für lange Zeit so still, als hätte genau die segensreiche Seuche für Ruhe gesorgt, um die ich vor kurzem mal nachgesucht hatte.

 

Nichts dringt ans Ohr.
Null akustischer Müll.
Kein Schwafel, kein Brüll.
Das stille Idyll.
Kam noch nirgends nicht vor,
meines Wissens nie.
Wär’ aber mal höchste Zeit für diese Pandemie:
Weltweit keine einzige labernde Lippe
dank Schweigegrippe.


Ruderclub Hansa von 1898 Dortmund/Bundesleistungszentrum Rudern

Westerholz 87
44147 Dortmund

Webseite

Deutschland-Achter

Webseite

Rast an der Entstörungsstelle

Nein, ich muss nicht bis ans Meer gehen, um meine Ruhe zu haben. Ein anderes Mal vielleicht. Heute nicht. Heute, hier, genau an dieser Stelle ist die Welt genau in diesem Moment so vorbildlich entstört, dass jede weitere Fortbewegung falsch wäre. Das finden auch die beiden Enten, die sich gerade im Ufergras zur Ruhe gesetzt haben. Hinsetzen, gute Idee. Der gusseiserne Poller neben den Damen ist frei. Guten Tag, Verzeihung, darf ich? Keine Antwort ist auch eine Antwort. Danke, sehr freundlich. Eine kleine Welle platscht an die Spundwand.

Ja, kommen Sie ruhig mal vorbei. Ich kann das nur empfehlen. Die machen hier wirklich viel für die Touristen. Manchmal simulieren sie sogar naturidentische Brandung. Schwipp, schwapp …

Ich folge dem Blick der beiden Enten. Sie haben die Köpfe lässig seitwärts gedreht und fixieren den Verursacher der Welle. Sie scheinen nicht sonderlich beeindruckt. Ich bin es schon, denn der Wellenmacher ist eine echte Berühmtheit. Nahezu geräuschlos schneidet das bekannteste Ruderboot Deutschlands eine schnurgerade Linie durch das Wasser des Kanals. Im Schatten der Spundwände duckt sich der so genannte „Deutschland-Achter“ unter den Seitenwind. Er war in Henrichenburg. Jetzt hat er seine Trainingseineinheit fast beendet und kehrt zurück zum Vereinsgelände des RC Hansa. Dort ist seit Mitte der 1980er-Jahre auch
das Leistungszentrum des Deutschen Ruderverbandes (DRV) untergebracht. (Zurzeit trainieren hier außer dem Paradeboot noch vier weitere Riemenboote des Verbandes.)

Berühmte Wellenmacher

Noch etwa ein Kilometer liegt vor ihnen, dann werden die acht Ruderer und ihr Steuermann anlegen und das siebzehneinhalb Meter lange Boot aus dem Wasser heben. Wenn man diesen Zeitpunkt abpasst, hat man manchmal die Gelegenheit, ein paar Worte mit dem Trainer Ralf Holtmeyer zu wechseln. Mehr als ein paar werden es allerdings nicht werden.

Der Bundestrainer ist ein freundlicher Mann, aber eindeutig das Gegenteil von einer Schwatzbacke. Er wurde in Osnabrück geboren und trägt eine wahrscheinlich genetisch bedingte Portion westfälischer Friedlichkeit in sich. Sie ist von jener stillen und souveränen Sorte, die man besser nicht mit Gemütlichkeit verwechselt. Vor allem dann nicht, wenn man in einer der von ihm trainierten Mannschaften Hochleistungssport treibt.
 
Die vielen Meisterschaften und Medaillen, die seine Ruderer gewonnen, die vielen Erfolge, die er erzielt hat, haben Ralf Holtmeyer nicht aus der Ruhe gebracht. Es scheint so, als übertrage er sie auf die Athleten. Sie gehen konzentriert und wortlos ihrer Arbeit nach. Der Trainer beobachtet sie von seinem Begleitboot aus. Ab und zu greift er korrigierend ein und gibt ein Kommando über das Bordmikrofon. Auch das so leise, als wolle er weder die Ruderer noch das aus zwei Enten und einem Mann bestehende Trainingspublikum belästigen.

Rudern ist weder ein Breitensport, noch ist es im gewöhnlichen Alltag ein massenwirksames Zuschauerereignis. Zu Großveranstaltungen wie den Olympischen Spielen aber muss es regelmäßig für die Medien-Schrei-Hälse zum Medaillenzählen herhalten. Wer jemals die Radio- oder Fernsehreportage eines olympischen Achter-Endlaufs oder eines Weltmeisterschaft-Finales erlebt hat, hat vielleicht noch das ejakulierende Organ des patriotisch aufgeladenen Reporters im Ohr. „Gooooooold für Deutschland! Das ist därrr Sieg für das Flaggschiff des Deutschen Rudärrrvärbandes! Das ist Goooooold für den Deutschland-Achtärrrrr!“

Ich sitze am Kanalufer, schaue auf das Boot und frage mich, wie man über so etwas ausgesprochen Schönes so hässlich sprechen kann. Wer das so macht, beweist damit nicht nur seine Unzuständigkeit, er hat ein behandlungswürdiges Problem. Es ist keine neue Erkenntnis, dass die medial inszenierte Wirklichkeit mit der tatsächlichen selten übereinstimmt. Ab und zu tut aber eine Auffrischung ganz gut. Jetzt, in diesem wirklichen Moment am Dortmund-Ems-Kanal, ist die Verzerrung und Verfälschung in einer sehr großen Klarheit zu erleben.

Sechzehn Hände, die nicht an Riemen reißen, eher  –  so scheint es  –  ziehen sie das Boot in einer sich fließend wiederholenden, perfekt koordinierten Bewegung über das Wasser. Die Zugkraft beträgt pro Person und Schlag 80 bis 100 kg und kann den Achter bis auf eine Maximalgeschwindigkeit von 25 km/Std. beschleunigen. Die ruhige, elegante und geradezu erhabene Vorbeifahrt des Bootes lässt einen nur entfernt ahnen, wie viel Zeit die Sportler und Trainer investieren müssen, bis sie diesen gemeinsamen Rhythmus gefunden haben. Die scheinbar lautlose Fahrt wirkt überhaupt nicht wie von Kraft, sondern wie von Leichtigkeit getragen.
Beschreibt man Ralf Holtmeyer diese Eindrücke, hört er geduldig zu und redet einem nicht rein. Es ist sehr wahrscheinlich, dass den Mann momentan etwas ganz anderes interessiert als die laienhafte, etwas verklärte Sicht eines zufälligen Zuschauers. Der Trainer bereitet seine Mannschaft auf die Weltmeisterschaften vor, die im November 2010 in Neuseeland stattfinden. Holtmeyer schmunzelt, als ich zu Ende geschwärmt habe. Freut er sich etwa sogar darüber, dass da mal einer mit etwas anderen Augen auf seinen Sport schaut? Könnte sein, seine Antwort jedenfalls lässt diesen Schluss zu: „Wir Ruderer merken das ja gar nicht mehr.“

Jetzt schmunzele ich, denn seine Antwort lässt den Schluss zu, dass er „das“ gelegentlich durchaus schon mal gemerkt hat. Ich bin sicher, dass er zurzeit nur nicht dazu kommt. Der Zeitplan ist eng. Training um Training bewegt sich sein Boot via Dortmund-Ems-Kanal ein Stück in Richtung Neuseeland. Dort soll es einen Weltmeister-Titel verteidigen. Der wäre eine schöne Zugabe zum 50. Jubiläumsjahr der Institution.

Am 4. September 1960, bei den Olympischen Spielen in Rom, wurde der Mythos des Achters begründet. „Der Sportler erschließt sich durch das Erlernen und Beherrschen sportlicher Bewegungen die Welt und den eigenen Leib. Er erarbeitet sich neue Varianten des Selbstausdrucks, der Welt- und Selbstbewältigung sowie der Selbstbewährung.“ Geschrieben hat das Hans Lenk. Lenk ist kein grauer Theoretiker, sondern weiß sehr genau, was das, worüber er schreibt, praktisch bedeutet. 1960 gewann er mit dem legendären, von Karl Adam trainierten Achter die Goldmedaille.

50 Jahre später trägt die aktuelle Mannschaft das Boot ins Clubhaus, Holtmeyer windet seins aus dem Wasser. „Kennen Sie eigentlich Hans Lenk?“, frage ich ihn zum Abschied. „Ja sicher“, antwortet Holtmeyer und fügt hinzu, „Professor Hans Lenk, Philosoph“.

Langsam gehe ich zurück zum Ausgangspunkt meines Spazierganges, zum Parkplatz des Klinikums Nord.

Gern bin ich aus freien Stücken
außer Haus und außer mir.
Gleich hab’ ich den Wind im Rücken
und der pfeift mich weg von hier.


Am Meer war ich heute nicht. Macht aber gar nichts. Da, wo ich heute war, war es für mich mehr als genug.