Hier führen Sie Schriftsteller und Schriftstellerinnen in Text und Bild durch ihr persönliches Ruhrgebiet. Zehn der Touren sind 2010 entstanden. Zwei weitere kamen 2011 hinzu.

Die Literatouren Ruhrgebiet wurden durch die RWE Stiftung Stiftung ermöglicht.

Judith Kuckart

Kulisse Heimat

Stephan Wetzel, Privat
ca. 4 Stunden ca. 90 km Eine autobiografische Reise.

Eine autobiografische Reise. Stationen, die auf dem persönlichen Lebensweg eine wichtige Rolle gespielt haben und von den sich manche in den literarischen Texten wiederfinden lassen.

Als Hör-Tour

Gelesen von Judith Kuckart

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Judith Kuckart

»Kulisse Heimat«

Fotos: Stephan Wetzel, Privat


Zu den meisten Orten, an die ich Sie mitnehme, erzähle ich eine Geschichte, für die der Ort eine Kulisse ist: Dies ist also keine richtige Führung für Touristen. Zuerst gehen wir nach Schwelm, das liegt am Rand des Ruhrgebiets, ich bin dort geboren. Schwelm ist eine Kleinstadt, in der es oft regnet, und die auch auf den zweiten Blick keine echte Sensation ist. Oder doch? Degenhardt hat hier in der Oberstadt sein Lied von den Schmuddelkindern geschrieben, und diese Oberstadt ist mittlerweile eine kurze Straße lang zur schönen Altstadt geworden, die sich eigentlich keine Mühe gibt, schön zu sein.  
Danach sind wir in Dortmund Hörde.

Das Haus „Winterberg 72“, liegt in einer ehemaligen Bergarbeitersiedlung, die so schön sein könnte wie die Arbeitersiedlung Dresden/ Hellerau, es aber leider nicht ist. Im Haus Nr. 72, wo ein Teil meiner Familie gewohnt hat, sind die  Zimmer klein wie Fischdosen. Dieser Ort spielt eine wichtige Rolle in meinem Roman „Der Bibliothekar“. Er ist eine der besten realen Kulissen, die ich mir für eine erfundene Geschichte (Liebesgeschichte) vorstellen kann.

Dann führe ich Sie nach Bochum ins Theater. Wenn Ihnen meine Geschichte über die Rückseite des Theaters nicht gefällt, kaufen Sie sich einfach an der Kasse vorn eine Karte oder zwei, setzen sich  in den Zuschauerraum und lassen sich im Dunkeln etwas ganz anderes erzählen.

Zum Essen gehen wir später nach Essen, in die „Heimlichen Liebe“, ein Restaurant auf dem Drosselanger, am höchsten Punkt der Stadt, von wo aus Sie beim Sauerbraten durch das Panaromafenster die „Villa Krupp“ sehen können. Und hier erzähle ich Ihnen wieder eine Geschichte: die von einer heimlichen Liebe. Diese Geschichte hat sich einen Platz in meinem Roman „Kaiserstraße“ erobert.

Danach fahren wir nicht mehr weit. Das Ende der Reise ist die Antoniuskirche in Essen-Frohnhausen. Dort überlasse ich Sie sich selbst, aber an einem guten, magischen Ort, an dem Sie sich Ihre eigenen Geschichten ausdenken können.

Schwelm Oberstadt
Kölnerstraße 1 bis 21
58332 Schwelm















Moltkestraße 29
58332 Schwelm











Schwelm

Geboren bin ich in Schwelm, in einer kleinen Stadt am Rand des Ruhrgebiets. Franz Joseph Degenhardt kommt auch von hier, wo er 1965 das Lied von den Schmuddelkindern schrieb, für die die Oberstadt tabu war. Diese Oberstadt ist mittlerweile eine kleine, nicht sehr schicke, aber richtig gute Altstadt geworden, die ist, was sie ist, ohne Kulisse für Touristen sein zu wollen. Die Anwohner der Kölner Straße stellen im Sommer ihr halbes Wohnzimmer vor die Tür und leben dort, als seien sie fast schon in Italien. Zum Heimatfest an jedem ersten Septemberwochenende im Jahr hängen sie ihre Weißwäsche quer über die Straße, wie in Neapel, und fahren im Heimatfestzug, der früher einmal der traditionelle Umzug von Leinenwebern und Färbern oder auch Bergarbeitern war, genau weiß das keiner mehr, in Badewannen auf Rädern durch die Stadt. Oder man lässt sich etwas anderes einfallen. Dafür, dass wir in Westfalen sind, geht es wild her.

In der Schule habe ich die Namen der Zechen auswendig lernen müssen, die seit Ende des 18. Jahrhunderts im Umkreis von Schwelm amtlich verzeichnet waren: „Zeche Herzkamp“, „Zeche Glückauf“, „Zeche Schelle“, „Zeche Frosch“, „Zeche Nachtigall“, „Zeche Frischgewagt“… Die Namen kannte ich, bevor ich das Wort „Kohlenflöz“ richtig schreiben konnte.  
Ich bin in einem Haus aufgewachsen, das am Rand dieser kleinen Stadt liegt, die früher einmal fünf metallverarbeitende Fabriken hatte. Heute hat sie keine mehr. Ich bin am Rand eines solchen Fabrikgeländes groß geworden, das langsam verfiel, während ich groß wurde. Ich bin in einem Haus mit der Nummer 29 aufgewachsen. Im Hof des Hauses, der direkt an eine Fabrikmauer grenzte, haben wir gespielt: Rainer, Heinzi, Bärbel, Ralf, Rafaela, Simone und ich. Von uns, den Kindern damals, leben heute noch drei. Simone, Ralf und ich, die anderen sind schon lange tot.

 Jenes Haus Nummer 29, Anfang des letzten Jahrhunderts gebaut und rosa gestrichen, ist einmal die Villa eines Fabrikanten gewesen, aber gehörte ihm schon längst nicht mehr, als wir 1960 dort einziehen, Vater, Mutter, Oma und ich. Ich bin 1960 noch zahnlos glücklich. Über uns, auf der Belle Etage mit Erker vorn und Wintergarten hinten raus, residieren Herr und Frau Dr. Küster mit der unverheirateten Tochter im Alter meiner Mutter und dem Dienstmädchen Helene, die mit ihren vierzig Jahren in keinem eigenen Zimmer untergebracht ist, sondern  auf dem Feldbett im Arbeitszimmer von Herrn Dr. Küster schläft. In dem Sommer, in dem ich zwölf werde, sind Helene und ich gleich groß, 1, 53 Meter. Helene fährt in ihrem Sommerurlaub nach Bayreuth. Die, die im obersten Stock der Nummer 29 unter der Dachschräge wohnen,  wissen nicht mal, wie sich Bayreuth schreibt. Dort, über der Belle Etage, wie Helene ihr Reich als Dienstmädchen nennt, beginnt die Bronx. Drei Familien leben unter der Dachschräge und müssen sich die 120 Quadratmeter zu zwölft teilen. Es gibt kein Bad und nur ein Waschbecken hinter dem einzigen Klo.

Die Stadt am Rand der Ruhrgebiets, aus der ich komme, hat sich verändert – das Ruhrgebiet noch mehr. „Wir brauchen Kunst und kluge Köpfte statt Kohle“, heißt es jetzt. Das Haus Nummer 29 steht  noch, aber wo die Fabrik war, ist eine nicht sehr hohe Hochhausreihe entstanden. Von dort aus ist man in zehn Minuten im Wald, am Stadtrand West, in zwanzig am Stadtrand Ost beim Friedhof und hat alles in der Stadt gesehen: zwei Kirchen, den Pizza-Service des Türken, ein Kino, die Wäscherei, die alte Klavierfabrik Ibach bei den Bahngleisen, die gleich gegenüber dem leerstehenden Eisenwerk liegt, wo früher die Tanksäulen für ganz Deutschland hergestellt wurden.

Angekommen beim Waldschwimmbad am Stadtrand Ost mit Blick auf einen wüsten, leeren Parkplatz bei der Sauna, welche seit drei Jahren vorübergehend geschlossen hat, ist man am Rand einer Welt angelangt, die sich erst mal nach nichts anfühlt. Aber wer hier lebt, dem macht das wenig aus. Der denkt: alle leben so.
 
Trotzdem: Wenn man einen halben Tag Zeit hat, lohnt es sich, in Schwelm an einem trocknen Sommerabend anzuhalten. Das hätte ich vor zehn Jahren noch nicht gesagt.

Dortmund Hörde
Winterberg 72
44263  Dortmund










































Quelle:
Dortmund-Hoerder Hüttenverein Aktiengesellschaft Dortmund (Hrsg.),
Die Geschichte der Dortmund-Hoerder
Hüttenvereins A.-G., [Dortmund] 1937, S. 42.
Druck: Stahldruck Dortmund
Es können keine Angaben
zum Urheber des Bildes gemacht werden.

Dortmund Hörde

Als ich Mädchen bin, ist die Welt im Ruhrgebiet noch so wie in einem alten Merian-Heft. Da regnet es Briketts, da kann man nicht atmen, da ist Weiß nur ein Traum. Aber das war einmal…
Ich habe aus irgendwelchen familiären Gründen eine Menge Sommer und Winter in Dortmund Hörde verbracht. Die Siedlung ist Ende der Zwanziger Jahre entstanden. Ein Teil meiner Familie ist aus der Ukraine, aus Paralovka oder Paralivka oder irgendwas mit –pivka nach Dortmund gekommen. Mit dem Motorrad und mit Bergen von Plumeaus und Kindern im Beiwagen, sagt man. Ich bezweifle das.
 
Hörde liegt im finstersten Süden von Dortmund. Die Häuser mit den winzigen Veranden, wo früher einmal das Leben und die Liebe stattfanden, wenn es anfing zu regnen, haben eine Grundfläche von fünf mal sieben Metern, auf denen oft ein halbes Dutzend Menschen lebten, meistens noch mit Besuch vom Land, und manchmal auch mit einem Schwein im Koben oder drei Kaninchen in der Gartenecke.  

Die da „mit die polnischen Farben“, denn für Hörde lag auch die Ukraine in Polen, galten als ungebildet, religiös, bedürfnislos und hatten eine große Assimilationsbereitschaft, obwohl ihre Frauen am Winterberg in Morgenmänteln auf der Straße herumliefen, die Kinder ihre eigenen Gangs bildeten, die Mädchen früh schwanger wurden und die Männer die Fußballvereine aufmischten. Die Männer aus meiner Familie, von Beruf Maurer, haben in den Hochöfen/ Thomasbirnen bei der Firma Hösch gearbeitet und in jener unglaublichen Hitze, Risse im Innern der Hölle repariert.

Jahre später habe ich über jene Zeit geschrieben: Die Männer tranken, und der Himmel hing tief bis auf die Wä¬sche im Garten hinab an manchen Tagen. Die Kinder liefen mit Nasenbluten zur Tür hinein und hinaus, bis sie auch Männer und Frauen waren. Sie zogen in ein gleiches Haus, gleich nebenan, mit Zimmern klein wie Fischdosen. Zwischen Ehebett und Kleiderschrank schlängelten sie sich im Seitwärtsschritt zur Liebe. Selten bogen Autos in den Winterberg ein. „Texas, Te¬xas” riefen die Kinder in dem einen Jahr und liefen hinterher. Im nächsten Jahr riefen sie etwas anderes aus dem Fernsehprogramm und liefen schneller. Ein Rudel kleinerer Kinder wuchs nach. Wer nicht mehr mitlief, ging mit einer Freundin, die am besten hässlich war, über die Wiese, die den Winterberg von der Siedlung der englischen Soldaten trennte. Dort spielten die deutschen Jungen aus der Siedlung Fußball mit den englischen Jungen und manchmal fuhr die Hafenbahn vorbei, die Kohle, Koks und flüssigen Stahl transportierte vom Hafen zum „Werk Phönix“.

Wer als Mädchen aber dort nach Einbruch der Dunkelheit herging, hatte bald ein Messer zwischen den Beinen. Ja?
Ich erinnere mich. Ich sitze mit meiner Freundin, genannt Brillenbarbie, am Ausgang der Wiese auf der rot-weißen Schranke. Wir sind dreizehn und schaukeln mit bloßen Beinen und essen Petersilie. „Besatzer”, sagte Brillenbarbie, “ihre Frauen nähen den ganzen Tag einen Besatz aus Spitze an die Tischdecken. Die schicken sie dann nach England”. Ich sage, “Quatsch!“, nähen können sie auch in England, dafür sind die nicht hier. Die passen auf uns auf. “Warum?“, fragt Brillenbarbie.  „Weiß ich doch nicht, vielleicht sind wir noch nicht groß genug“, sage ich. Es ist das Jahr 1973, wir tragen Papierkleider und hinter unseren Rücken laufen Ratten durch Brennesseln und wildgekippten Müll. Ein Junge in Lederjacke geht vorbei, und Brillenbarbie setzt rasch die Brille ab. Sie sagt: “Sie schlafen in Betten ohne Bezüge, diese Engländer”. Sie kneift die Augen zusammen, “und morgens”, sagt sie, “sind ihre Fußsohlen und Bäuche blutrot”. “Ja?“, sage ich.

Bald ist es wieder ein Freitag. Die Haare riechen nach Fisch, der Hüftschwung ist neu, die Beine sind glatt und winterweiß, die Fingernägel lackiert, und die Brennesseln, selbst noch junges Gemüse, staunen. Da läuft ja eine in ihrem hellen Grün daher, wie eine Puppe in Geschenkpapier!  Freitag, und ich gehe in einem kurzen Papierkleid durch die Brenn¬nesseln Richtung England jenseits der Bahngleise. Am Sonntag, nach „Bonanza“, sage ich zu Brillenbarbie, sie hätten doch Bettbezüge, diese Engländer. Ich hätte nachgesehen. Neulich nachts, sage ich.

Schallacker

Eine Fußnote zu einem Ort, den es nicht mehr gibt, in den sich aber mein Freund J. verliebt hat, als ich davon erzählte. Es ist das Volksbad am „Stadion Rote Erde“, ungefähr 150 Meter vom Bahnhof Hörde entfernt. Freund J. hat sich besonders in die alte Liegewiese verliebt.

Vom Winterberg aus ging man in Badelatschen ins „Schallacker“. Nahm man den Bus, hatte man eine Kugel Eis weniger. Gymnasiasten besuchten fast nie das Hörder Freibad. Es war reserviert für Proleten. Gymnasiasten waren womöglich nicht empfänglich für den Zauber von unendlich trägen Sommernachmittagen, in denen alles, was die Menschen sonst zu Hause machten, auf einem Badetuch stattfand. Kreuzworträtsel lösen, Pickel ausdrücken, Bier trinken, hartgekochte Eiern essen, streiten und Kinder machen, Kinder wickeln, und das alles auf einer eigenen akustischen Insel, die vom Transistorradio beherrscht wurde. Das „Schallacker“ war eine Badeanlage, die mit Wasser gespeist wurde, das bei der Metallverhüttung entstand.  Die Hochofenschlacke wurde in Wasser abgeschreckt. Das Wasser nahm dabei aus der Schlacke den Schwefel und andere Mineralien an und hatte so eine ähnlich heilende Wirkung wie die heißen Quellen von Baden-Baden, einem Ort auf einem anderen Stern, von Hörde ebenso unerreichbar wie die Riviera.

Und die alte Liegewiese? Im Juli 1934 begann man mit dem Bau einer Hörder Badeanstalt und dem Einsäen der Liegewiese. Nur freiwillige Arbeiter, die zum Sport- und Turnverein Hörde gehörten, waren dabei. Um die Heilkraft des Schwefelwassers noch besser nutzen zu können, wurden vier Wannenbäder mit angeschlossenen Ruheräumen errichtet, wie in Baden-Baden. Ab April und ab sechs Uhr in der Früh konnte man das „Schallacker“ besuchen. Das Wasser war lauwarm, also weniger erfrischend als entspannend.

1993 hat die Stadt Dortmund den Zuschuss für die hoescheigenen Sportanlagen gestrichen. Auch das „Schallacker“ sollte geschlossen werden, dieses etwas schäbige Paradies, an das so viele Hörder ihre prickelndsten  Erinnerungen knüpften. Und jetzt kommen wir gleich zur alten Liegewiese. Im Juli 1993 wurde ein Verein gegründet, um das Schallacker-Freibad zu retten. Freiwillige brachten es auf eigene Kosten auf Vordermann, es wurde verputzt, geschrubbt, geölt und bemalt. Trotzdem, das Bad blieb geschlossen. Die städtischen Auflagen waren nicht erfüllt worden. Dabei – wer weiß – war unter denen, die ablehnten, sogar einer, der auf der Liegewiese im „Schallacker“ entstanden ist. Auf jener Wiese, auf der noch heute mein Freund J. zu liegen glaubt, wenn ich davon erzähle. Auf jener Wiese, die mein Freund J. vermisst, ohne je dort gewesen zu sein.

Aber so ist das mit den Orten, die beim Erzählen noch schöner werden, als sie es in Wirklichkeit waren. Die Erinnerung verewigt sie in geliehener Pracht. Immer wenn ich erzähle, als sei ich selber die alte Liegewiese vom „Schallacker“ und wenn ich dann dem Freund J. Namen nenne – Irmi, Hans, der kleine Helmut und das kleine  Röschen, Petra, Gabi, Angela, Karsten, Kevin, Nadine, Kimberly und Jacqueline – dann ist mein Freund J. wieder so enttäuscht, dass er nicht als Hans oder Helmut zusammen mit Irmi oder Petra an der Produktion von Gabi, Angela oder sogar Nadine auf jeder alten Wiese beteiligt war - auf oder unter einem mal gemusterten, mal schwimmbadgrünen, mal blau-weißen Handtuch liegend, mit dem Vereinsemblem von Borussia Dortmund drauf, das sich leise mit bewegte.

Schauspielhaus Bochum
Königsallee 15
44789 Bochum



Bochum Theater

Von Schwelm nach Bochum ins Theater kann man mit dem Bus in knapp einer Stunde fahren und muss nicht einmal mehr in Hagen umsteigen, wo gleich hinter dem Bahnhof jede Nacht Busse bis nach Polen fahren. Es hat sich fast immer gelohnt, nach Bochum ins Theater zu gehen.

Wer ins Theater geht, erfährt: In jedem Leben stecken mindestens ein, wenn nicht zwei ganz andere Leben, die aber leider so nicht stattgefunden haben.
Und wer zum Theater geht? Was will der? Was wollen all diese Menschen, die zum Vorsprechen kommen? Hier die Probenaufzeichnungen einer eifrigen Assistentin:

Die ersten, die zum Vorsprechen wollen, sind schon da, umlagern den Pförtner mit ihren abwaschbaren Sporttaschen über der Schulter und den Klarsichtfolien mit ihrem Lebensläufen  in der Hand. In der Probebühne stehen die Fenster weit offen. Der Intendant malt schräge Buchstaben auf den staubigen Klavierdeckel. Die erste ist aus Darmstadt gekommen, sie ist schön und in ihren Cowboystiefeln noch größer. Sie rollt sich unter einem Bettlaken zusammen. Das hat sie von zu Hause mitgebracht, und am Fußende ist mit rotem Stich ein Nachname in den Saum gestickt. Drögemöller? Kann nicht sein! Nur die Schuhspitzen schauen unter dem Laken hervor. Da stößt sie schon den ersten Schrei aus. Der zweite Schrei geht von Bochum bis hinunter nach Darmstadt. Entsetzen und Schmerz. Die Spitze eines Plastikschwerts schiebt sich wie eine neugierige Mäuseschnauze unter dem Bettlaken hervor. Die eifrige Assistentin hinter ihrem Heft für Notizen muss lachen. Nur das Plastikschwert, im schrägen Lauf um das Klavier getragen und wieder und wieder in die staubige Luft der Bochumer Probebühne gestoßen, die zu einem Feind sich materialisieren soll, nur das Schwert kann dem Text folgen. „Küsse, Bisse“, schnappt die Assistentin auf.
„Danke, Miss Penthesilea“, sagt der Intendant. „Sie hören von uns.“ Mit gespielter Zerstreutheit malt die Assistentin ein kleines a für Absage.

Sie heiße Dagmar Dorst, sagt die nächste. Sie gibt allen Anwesenden die Hand und der Assistentin gleich zweimal. Dann trägt sie den Klavierhocker in die äußerste Ecke, kniet auf Armlänge entfernt vor ihm nieder. Nur noch ihr gereckter Rücken und die unruhigen Schuhsohlen lassen erraten, was sie da treibt. Zeit vergeht. Sie murmelt, sie seufzt. „Entschuldigen Sie, Frau Dorst, was zeigen Sie uns da?“ Sie dreht ein tränenüberströmtes Gesicht dem Intendanten zu. „Gretchens Gebet“, sie wendet sich wieder ganz dem Hocker zu und betet weiter. „Amen“, sagt der Intendant.

Die Assistentin wickelt ein Kaugummi aus dem Papier. Die Assistentin war mal ich.

Hotel, Café, Restaurant Heimliche Liebe
Baldeney 33
45134 Essen
Tel. 0201-435200



Kulturstiftung Ruhr Essen
Villa Hügel
45133 Essen
Tel. 0201 - 61 62 9 0























Essen
Gaststätte Heimliche Liebe und die Villa Krupp


Der Weg zur Gaststätte „Heimliche Liebe“  führt im Süden von Essen über die Drosselstraße bis hinauf an den Drosselanger, und an dieser Hügelstraße liegt zuoberst die Gaststätte. Hier ist der höchste Punkt von Essen, der Blick schweift frei nach allen Seiten. Als Siegfried im Alter von fünfzehn Jahren aus Xanten kommt, lernt er an diesem Hügelhang seine Feuer- und Schmiede-Kunst, und unten am Fuß des Hügel baut 1873 einer der mächtigsten der deutschen  Schmiede, Alfred Krupp, seine "Villa Hügel".

Aber da steht das Ausflugslokal  „Heimliche Liebe“ schon seit fast siebzig Jahren und schaut von seiner Terrasse auf die Villa herunter.

Was haben „Heimliche Liebe“ und „Villa Krupp“ miteinander zu tun? Genau soviel, wie eine Rosemarie Nitribitt  (wohnhaft in einem Waisenhaus in der Eifel und später in Frankfurt am Main, Stiftstraße 33) und ein Enkel von Alfred Krupp, nämlich Harald von Bohlen und Halbach (wohnhaft in einem Eliteinternat und später in Essen-Bredeney (Berenberger Markt 10)  miteinander zu tun haben. Harald von Bohlen und Halbach, eines der acht Kinder von Gustav Krupp von Bohlen und Halbach , Oberleutnant im 2. Weltkrieg, Kriegsgefangener in Moskau, dann Arbeitslager im Eisenerzbergwerk bei Swerdlowsk, kehrt 1955 aus der Gefangenschaft zurück. Zwei Jahre später tippt er Gedichte von Hafis ab, an seinem Schreibtisch in  Essen-Bredeney, der nicht mehr ganz so mächtig ist wie die Schreibtische in der „Villa Hügel“. „Bitte. Ich fleh dich an: mitunter lächle mir/ ein wenig zu. Mitunter fächle mir/ ein wenig Kühlung, dass ich nicht verbrenne./ Dann will ich gern dich alles treiben lassen/ was meiner Liebe diese Qualen schafft.“

Er tippt die Gedichte persönlich ab und schickt sie nach Frankfurt, an „Rehlein“, „Rebecca“, das „Fohlen“, wie er Rosemarie Nitribitt nennt. Sie ist Prostituierte oder Edelhure, auf jeden Fall aber eine junge und sehr einsame Person, die am 1. November 1957 ermordet in ihrer Frankfurter Wohnung aufgefunden wird. Ein Kriminalbeamter schafft Liebesbriefe, Gedichte  und ein Foto im Silberrahmen, das auf der Musiktruhe steht, beiseite. Auf dem Foto ist Harald.   
Rosemarie Nitribitt ist zweiundzwanzig, als sie in ihre letzte Bleibe in Frankfurts Stiftstraße einzieht und vierundzwanzig, als ihre Leiche aus dem Haus getragen wird. Einen Spätherbsttag lang hat sie Möbel hinauf bringen lassen. Die Einrichtung bestimmt ein Mann mit viel Geld. Er entscheidet für sie, die keinen besonderen Geschmack hat, nur extravagante Einfälle. Der Wohnung soll man ansehen, wie teuer die Einrichtung ist, wünschte sie sich. Nein, sagte er, und lässt das Möbelhaus machen. Auch die Musiktruhe und eine blaue Couch gehören dazu, die Couch, auf der die junge Frau am 1. November 1957 von hinten erwürgt aufgefunden wird, die Unterschenkel im rechten Winkel auf der Sitzfläche gelagert, der Rumpf auf dem Teppich davor. Der Rock ist hoch, und ein Pantoffel vom Fuß gerutscht. Eine Leiche mit aufgedunsenem Gesicht in Stufenstellung, eine Position, die der Arzt bei Rückenschmerzen empfiehlt. Aber die Liebe? Aber der Tod? Als sie noch lebte, hat die junge Frau ein bleiches Gesicht und schielt ein wenig. Es war das Gesicht, in das Harald von Bohlen und Halbach sich heimlich verliebte.

Katholische St. Antoniuskirche/ Essen Frohnhausen

Wir bleiben in Essen, aber fahren wieder in die Stadt hinunter. Dieser Ort, dem wir uns jetzt nähern, sieht für manche von außen aus wie eine Turnhalle.  

Die Kirche St. Antonius ist von dem Schweizer Architekten Rudolf Schwarz entworfen und Mitte der fünfziger Jahre gebaut worden. Sie ist  keine Turnhalle! Im Gegenteil. Man kann sich ihrer Ausstrahlung nicht entziehen, und wer nicht gläubig ist, wird sich in das architektonische Konzept verlieben.
Es ist ein magischer Ort, an dem frühchristliche Religiosität und Rationalismus, Kubismus und inniges Gebet zueinander finden können. In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen, sagt der Raum. Wer in diese Kirche kommt, erinnert sich vielleicht, dass er früher einmal betete.

... Steine schleudern hat seine Zeit,
und Steine sammeln hat seine Zeit;
Umarmen hat seine Zeit,
und sich der Umarmung enthalten hat auch seine Zeit.
Suchen hat seine Zeit,
und Verlieren hat seine Zeit;
Aufbewahren hat seine Zeit,
und Wegwerfen hat seine Zeit.
Zerreißen hat seine Zeit,
und Flicken hat seine Zeit;
Schweigen hat seine Zeit,
und Reden hat seine Zeit.
Lieben hat seine Zeit,
und Hassen hat seine Zeit;
Krieg hat seine Zeit,
und Friede hat seine Zeit.