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3 Stunden hinter Berlin. Briefe aus dem Vikariat

Informationen

Literaturangabe:

Seidel, Heinrich W.
3 Stunden hinter Berlin, hrsg. von Ina Seidel, Göttingen 1954

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3 Stunden hinter Berlin. Briefe aus dem Vikariat

3 Stunden hinter Berlin. Briefe aus dem Vikariat

Den 21. Januar 1902
(...) Heut früh wurde es schon um halb acht hell, die ganze Nacht lag der Mondschein auf den Dielen und eine schwarze Katze kobolzte auf dem Boden rum und fing sich Mäuse. Bei Tag hatten wir schönes sonniges Frostwetter ohne Schnee. Ich ging durchs Dorf und schon, als ich noch auf dem Kirchberg stand, konnte ich mich über die Veränderung draußen freuen: kein Lüftchen regte sich, die Ziegeldächer flammten dunkelrot, dahinter ein smaragdgrünes Feld und auf diesem Feld zog sich eine Reihe von Bäumen hin, deren Zweige sich scharf und fein von dem blauen Himmel abhoben. Alles war so hell und blank wie in einem holländischen Dorfe. Nie hätte ich geglaubt, daß Taubengrau eine heitere Farbe sein könnte: aber als ich an den Dorfhäusern vorbeiging, sahen sie aus, als ob Sonntag sei. Der geweißte Schulkasten, das Ziel meines amtlichen Spazierganges, erinnerte an ein Tanzhaus, mir war, als müßte alsbald der Herr Kantor heraustreten mit der Geige am Kinn und hinter ihm die bekränzten Schulkinder, aber es war wohl nicht seine Stunde. Ich klopfte an die Schultür - wie der Vertreter des Kreisschulinspektors an die Tür klopft - und trat dann ein, etwas überrascht durch die Aussicht, die sich mir zunächst bot: denn ich sah nur etwas Riesengroßes, Schwarzes und hielt es mit Recht für die Hinterseite der Schultafel. Inzwischen war der Herr Kantor mit wehendem Schopf bereits herbeigeeilt und die Kinder schossen in die Höhe - links die Mädchen und rechts die Jungs - und ich zog meine Haushaltungs- und Schulanschlagsliste aus der Tasche. Hierauf spielten wir beide eine kleine Komödie, beugten uns tief über das Papier, murmelten furchtbare Zahlen und ließen vor den Schülern durchblicken, daß dies Papier für die Regierung bestimmt sei. Dabei war der Kantor von oben bis unten mit Kreide eingeschmiert, während mir ein Handschuh nach dem andern aus der Tasche herauspurzelte, als ich etwas suche. Aber derartige Kleinigkeiten taten dem historischen Moment keinen Abbruch. Der große Schulmann begleitete mich noch bis auf die Straße, und als wir auseinandergingen, konnte Uhlenburg wieder für eine gewisse Zeit beruhigt sein.

(...)
Wieder einen merkwürdigen Krankenbesuch habe ich hinter mir. Ein alter Kutscher der Morbachs sollte irgendwo in einem Bett zu finden sein - und es war später Abend, kein Stern am Himmel, grundlose Wege, Sturm und tröpfelnder, melancholischer Regen. Wir gingen in ein Haus und stießen an eine Frau, die sogleich anfing zu jammern, als sie den Pastor spürte, und getröstet sein wollte. Und wir sahen eigentlich nichts und sprachen ihr zu durch die Dunkelheit und erfuhren schließlich, daß jener alte Mann nebenan wohne. Doch werde er wohl eingeschlossen liegen, da seine Frau zum Melken gegangen sei.
Also ein Haus weiter. Wir tasteten auf dem Steinflur herum, fanden eine Tür und traten in ein Zimmer - die Tür ging wie von selbst wieder zu. Wir riefen - kein Laut. Der Chef hatte in seinem Gehirn die Idee eines Bettes in einer gewissen Ecke und machte sich in jene Gegend auf. Aha, sagte er, da is es. Nun krabbelte er eifrig dran rum, aber das Bett setzte ihm beharrlichen Widerstand entgegen, stieß ihn mit dem Eckposten, schleuderte Kopfkissen herunter und beunruhigte an den Beinen; mal stieß er an einen Stuhl und es klapperte - aber das Ende der Untersuchung war doch negativ. Pfarrer Gers kam also wieder zurück und nach kurzem Kriegsrat steckte er ein Streichholz an.
Es puffte, ein Schatten spukte durch die Stube und eine ungewisse flackernde Helle umgab uns. Wir sahen das zerwühlte Bett, den Stuhl, auf dem der pot de chambre sich breitmachte wie eine Punschbowle, und ein großes Sofa.
Da saß er. Lang und uralt, blaue, grelle Augen, in der Hand eine Lampenglocke. Während wir uns abquälten, hatte er, ohne einen Ton zu sagen, die Lampe anzünden wollen, war aber nicht weit damit gekommen. Wir ließen ihn wieder auf seinen Platz runter - er hatte sich beim Aufrichten etwas festgeklemmt - machten Feuer an und holten uns Stühle. Draußen tobte der Wind, bei uns war es um so stiller und wärmer. Keiner sagte was.
Aber nun fing der Pastor an und bald taute der Alte auf. Ich wunderte mich im stillen, was für ein vornehmes Herrengesicht er habe. Später fragte mich der Chef, ob er nicht ein ?Morbachsches Gesicht? habe, - das also war es. Aber das alles, was geschehen ist, ist lange, lange her.
Der alte Mann erinnerte sich, daß er in der Mitte des vorigen Jahrhundert viere lang den Minister kutschiert habe. Der Minister war eine Natur wie Friedrich Wilhelm IV., rastlos, tätig, geistvoll - und er endete auch so. In jener Zeit hatte ihm Dubbicke - er mag auch anders heißen - gedient und seltsame Sachen miterlebt. Da war eine Geschichte von einer rasenden Fahrt auf der Chaussee, so daß das Vordergespann beinahe stürzte, und die Sonne schien auf den grünen Wald an beiden Seiten. Auf einmal befiehlt der Kranke, zu halten: er hat zwei Handwerksburschen erblickt, die in einer Lichtung Erdbeeren suchten. Der alte Kutscher, damals noch jung und kräftig, springt herab und holt die beiden Kerle an den Wagenschlag. Der Minister aber streckt seine dünne, blaugeäderte Hand aus dem Fenster und sagt: ?Linie ziehen, das für euch, aber nicht weiter als so und so; dort dürft ihr Erdbeeren suchen; das andre gehört mir und das ist für die Frau und das ist für die Kinder (...)? Und sie fahren viere lang weiter, durch Dörfer und an Felder vorbei und der Chausseewärter verneigt sich tief, die Hunde bellen, und die zwei Handwerksburschen stehen verdutzt da, schauen der Karosse lange nach und essen ganz langsam ihre Erdbeeren auf, die sie in ihre alten Hüte gesammelt haben.
Allmählich verstummte der alte Mann, nachdem sich schon vorher seine Erinnerungen verwirrt hatten; ich sehe ihn noch, wie wir uns schon verabschiedet haben und er sich erhebt und mit der Hand winkt und sich bedankt, - worauf eine unbekannte Frau erscheint, nicht seine Frau, und ihm wieder in die Sofaecke hilft, wobei sie gleichzeitig einige schwungvolle Knickse dem Herrn Pastor nachsendet. Alle diese alten Leute bringen die Hauptzeit ihres Lebens im Bett zu, von zwei bis fünf etwa wohnen sie auf einem Sofa oder in einem Lehnstuhl, und wenn es ihnen ganz besonders gut geht, steht dieser Lehnstuhl am Fenster, wo sie die Dorfstraße übersehen können. Und dann drücken sie auch wohl ihr Gesicht an die Scheiben und rufen mit ihren dünnen Stimmen einen Vorübergehenden an: worauf dieser meist eintritt und sie durch muntere Erzählungen aus der Welt aufheitert. Ich denke mir, daß sie dann in der langen Einsamkeit wieder eine Weile ganz vergnügt sind und mit listiger Miene den Ofen anstarren; denn alles, alles kommt allmählich zu ihnen, das Wort des Haushofmeisters, jede Bemerkung Mademoiselles; sie wissen, daß der Pastor einen Frischling gekauft hat, daß der Katholik, Herr Lindner, in der Fastenzeit nicht auf die Ressource geht; sie sind aufs beste unterrichtet über die Damen des neulich stattfindenden Jagddiners, über das mit Veilchen gestickte Kleid der Gräfin, über den Reisekoffer des neuen Lehrers, der noch gar nicht da ist, und über die Lieblingsspeisen der Diakonisse, die uns neulich verlassen hat. Ich glaube, es ist ihnen des Montags nicht unbekannt, wer im Schach gewonnen hat, - der Amtmann oder der Pastor - und ganz sicher werden sie wissen, was alles am Donnerstag im Herrenzimmer vor sich gegangen sein wird, welche Gebote Schüler-Malmitz gemacht hat und mit welchen Nebengedanken der Bauer von Hilden auf das Pfarrgut spekuliert haben wird. Sie besetzen die Pfarre in Wasdorf und sind später vermutlich indigniert, wenn der Graf ihren Intentionen nicht nachkommt. Es sind sehr viele treffliche, fromme und in Ehren grau gewordene Leute darunter -, aber es sind auch einige, die ein doppeltes Gesicht haben und mit äußerer Lieblichkeit eine bösartige Lästerzunge führen. Der Pastor, der schon vor vielen Jahren als Hauslehrer in Uhlenburg war - er hat den jetzigen Grafen erzogen - ...kennt seine Leute natürlich aus dem ff und irrt sich selten in ihnen. Aber ich war nach manchem Besuch doch verwundert, wenn er mir nähere Mitteilungen über diesen und jenen machte.
(...)

Den 10. Mai 1902
Heute sind durch Uhlenburg ein Bär, ein Kamel und drei Affen gekommen. Das Kamel wollte durchaus ins Hospital eindringen und die Affen, von Lola mit Grausen betrachtet, führten einen phantastischen Tanz auf den Spargelbeeten auf; Radatus verlor fast den Verstand. Solche Dinge kommen hier vor. Die Damen sind einstimmig für das Kamel begeistert, ich eigentlich auch, es hat so stolze Haarbüschel und konnte sein Maul ungemein malerisch aufklappen. Übrigens war es fett. Ein kleiner Affe, der sich absentiert hatte, kam noch ganz zuletzt atemlos über den Kirchberg gesaust und ließ sich an der Mauer kunstvoll herab; doch fiel er gleichwohl auf seinen Podex und machte daher ein sehr beschämtes Gesicht, denn alles Volk hatte ihm zugesehen. Er tat dann, ganz wie ein Mensch, als ob er nicht da wäre, und schwänzelte eilfertig davon.
Ich glaube, in Berlin kann man gar nicht solche Andacht für ein Kamel, einen Bären und drei Affen entwickeln; aber hier, an den Grenzen der Kultur, fällt sowas wie ein Geschenk vom Himmel. Ich saß gerade auf dem Grunde einer Dogmatik, als das Goldhähnchen herausgestürmt kam und ausrief: Herr Vikar, wollen Sie nicht das Kamel sehen? Natürlich! Rief ich, denken Sie vielleicht, ich will das Kamel nicht sehen?
Das Schrum-Schrum von einer alten Pauke, die sie mithatten, liegt mir noch jetzt im Ohr. Man wurde ordentlich vergnügt. Die Großmutter fiel vor Interesse beinahe aus dem Fenster und der Chef griff mächtig in den Beutel. Wie der Kantor seine ?Knaben? wieder eingefangen hat, weiß ich nicht zu sagen; sie schienen den Tanzbären wenigstens bis nach Neufeld begleiten zu wollen.

[Heinrich Wolfgang Seidel (1876 - 1945), der Sohn des Schriftstellers Heinrich Seidel (1842 - 1906), absolvierte 1902 sein Vikariat in Boitzenburg und schilderte Land und Leute in Briefen an seine Eltern. 1907 heiratete Heinrich Wolfgang Seidel seine Cousine, die spätere Schriftstellerin Ina Seidel (1885 - 1874), die nach dem Tod ihres Mannes die Briefe aus dem Vikariat herausgab. Deren gemeinsamer Sohn Georg Heinrich Balthasar Seidel, der unter den Pseudonymen Christian Ferber und Simon Glas als Schriftsteller bekannt wurde, veröffentlichte 1979 das Buch "Die Seidels - Geschichte einer bürgerlichen Familie".]

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