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Aus einem Tagebuch

Informationen

Literaturangabe:

Varnhagen, Rahel
Briefe und Aufzeichnungen, Leipzig, Weimar 1985

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Aus einem Tagebuch

Aus einem Tagebuch

Montag, den 19. September 1808
Kamen wir gegen 5 in Potsdam an: der Weg dahin schöner, als man es je sagt, und wie auch ich es immer wieder vergesse; in Schöneberg sprachen wir bei Mad. Eph(raim) an, die an den Wagen kam; in Potsdam kauften wir Früchte. Potsdam war lange nicht so öde, als ich?s dachte; keine Zerstörung, lebhafter in den Straßen, als sonst. Viel von den Pocken blinde Kinder. Viel und gutes Obst! Die Menschen bei weitem dienstfertiger als sonst. - Gleich hinter Potsdam ungemein und wie nicht zu vermuten schön. Besonders Artischockenfelder, die, sähe man sie in anderen Ländern oder Klima, ganz bedruckt wären: alles verrät Anbau dort. Wie angenehm ist Chaussée! Welch Gefühl von Sicherheit; welcher Trost, daß sie das Land schaffen kann. Die Havel überrascht einen von Viertelstunde zu Viertelstunde in ganz ansehnlichen großen Seen rechts und links, und häufig findet man sie grade vor sich. Es ist schön, daß sie so krumm herumläuft, wie die arme Spree, die auch ihr Möglichstes tut. Man reist ordentlich ganz angenehm diesen Weg: sonnen-orange mit spike-farbenen Abendwolken mit glattabgeschnittenem Umriß war der liebe Himmel; so blieb es hell und lange ohne Sterne; sie traten auch hervor, und so kamen wir sicher, daß heißt behaglich und mit dem geliebten preußischen Sicherheitsgefühl, mit ihnen nach Großenkreuz, einem Bauernhause in einem Dorfe in Buschwald gelegen. So nenne ich einen Wald, nicht größer als ein Busch. In einer Stube saßen von den Dragonern zurückgebliebene Mädchen - wie die Wirtin sie erklärte - und eine Societät Krob! Wie eitel waren sie, wie vergnügt, wie redselig, wie ennuyiert und wollend; einer mit schnarrender Sprache nahm das Wort, und erzählte ihnen mit Gewalt Anekdoten; sie hörten sie nur mit Geduld. Kurz, wie in einem Salon: nur mit Schmutz überzogen. Wir aßen in einer zweiten Stube; Braten, Kuchen, Bier. Ich trank Kaffee vorher. Die Wirtin schien vernünftig, ein sehr hübsches Mädchen wartete auf, blond mit kurzer Nase; und sonderbar stach ihre Traurigkeit zu dieser überaus muntern Bildung ab. Sie sagte mir, sie sei nicht traurig. Aber blieb so. Sehr guter Kaffee; und gutes Bier. - Auch in diesem kleinen Hause bemerkte ich mehr Wohlstand und Aufwartung als sonst: die Wirtin schien sehr zufrieden mit ihrem Unglück. Um halb 9 fuhren wir bei den schönsten Sternen auf der weißen Chaussee im stärksten Trabe ab, und so blieb´s, und war durchaus nicht finster. Gemachter Weg ist der größte Landessegen, er leuchtet sogar. - Als wir so viel gefahren waren, daß ich dachte, wir hätten bald eine Meile zurückgelegt, sah der Postillon nach dem Hinterrade; ich frug gleich. ?Das ist weg!? sagte er, alle Speichen waren zerbrochen. - Nach eine Viertelstunde kam uns ein leerer Postwagen entgegen, wir beide stiegen in Heu, denn es war ein kompletter lieber Bauerwagen; und fuhren voraus nach Brandenburg. Schade! daß es nicht länger dauerte, denn nun war es erst schön. Das Heu roch nach allen guten Kräutern und nach Peffermünze, wir lagen beinah darin, wie frei, wie schön, wie nächtlich, wie bequem. Wir kamen in einer Viertelstunde nach dem heimatlichen Brandenburg, so ist die preußische Stadt. Schwer kam ein Hausknecht ohne Licht: noch schwerer das Licht; und ärger ein Mädchen. Wir nahmen nichts mehr; unser Wagen kam, und wir endlich ins Bette. Hier hat sich die alte Saumseligkeit und Unvernunft erhalten, als ob die Reisenden für die Wirte kämen, und dafür bezahlt würden. Unterwegs war es zu meinem Erstaunen umgekehrt. Alle Menschen, und der Postillon an der Spitze, glaubten sich für uns geschaffen; mich ängstigte es ordentlich. Das Volk hat sich sehr verändert.

[Rahel Levin (1799-1833), Tochter eines jüdischen Kaufmanns, stand seit den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts im Mittelpunkt des geistigen Lebens in Berlin. 1800 scheiterte die Liebesbeziehung zu Karl Graf von Finckenstein endgültig, nachdem alle Versuche Rahels, Karl zu einem Bekenntnis seiner Liebe in einer standesübergreifende Ehe zu bewegen, erfolglos geblieben waren. Im Jahr des Tagebucheintrags, 1808, beginnt die Beziehung Rahel Levins zu Karl August Varnhagen von Ense, den sie 1814 heiratet.]

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