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Der Eiersegen

Informationen

Literaturangabe:

Seidel, Heinrich
Glockenspiel, Stuttgart 1889

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Der Eiersegen

Der Eiersegen

Im Sommer war?s, vor langer Zeit,
Da trat mit weißbestaubtem Kleid
Ein Wanderbursche müd? genug
Einst zu Semlin in einen Krug.
Doch niemand war in dieser Schenke,
Zu reichen Speisen und Getränke -
Nur Fliegen, die vom Tisch aufsummten,
Und Brummer, die am Fenster brummten.
Die Sonne kam hereingeflossen
Und malte still die Fenstersprossen
Hin auf den sandbestreuten Grund.
Es regte sich kein Mensch, kein Hund;
Es waren ganz für sich allein
Die Fliegen und der Sonnenschein.
Der Wandrer auf die Bank sich streckte
Und seine müden Glieder reckte
Und dacht?: ?Die Ruhe soll mir frommen!
Am Ende wird schon jemand kommen!?
Und als er nun so um sich sah,
Fand er ein Häufchen Krumen da,
Das man vom Tisch zusammenfegte,
Und da der Hunger sehr sich regte,
Begann er eifrig unterdessen
Von diesen Krümlein Brots zu essen.
Dem guten Burschen war nicht kund,
Daß sich auf Hexerei verstund
Des Krügers Frau. Sie wollte eben
Die Krümchen ihren Hühnern geben,
Und da sie abgerufen ward,
Sprach sie darob nach Hexenart,
Bevor sie ging, den Eiersegen,
Wonach die Hühner mächtig legen. -
Und als der Bursche also nippte
Und mit den Fingern Krumen tippte,
Da ward ihm gar so wunderlich
Im Leibe, so absunderlich,
Bis daß auf einmal wundersam
Der Zauberspruch zur Wirkung kam.
Er fühlte sich als wie besessen.
Und soviel Krumen er gegessen,
So viele Eier mußt? er legen!
Als wirkte dieser Hexensegen!
Er mochte wollen oder nicht,
Das war das Ende der Geschicht?:
Er legte eindunddreißig Eier,
Und danach fühlte er sich freier.
Dann war ihm so mirakelig,
So kikelig, so kakelig, -
Und ehe er sich recht besann,
Da fing er auch das Kakeln an!
Er konnte diesen Trieb nicht zügeln,
Schlug mit den Armen wie mit Flügeln,
Ging um die Eier in die Runde
Und scharrte kräftig auf dem Grunde
Und kakelte so furchtbarlich,
Daß alles rings entsatzte sich:
Zusammen lief Weib, Kind und Mann
Und schauten das Mirakel an.
Doch endlich ließ der Zauber nach;
Dem armen Burschen war ganz schwach.
Er fühlte ganz elendiglich
Und mußte stärken sein Gebein
Mit Käse Brot und Branntewein!
Ließ sich den Stock herüberlangen
Und ist beschämt davongegangen.

Nach langer Zeit, in späten Jahren,
Hab? ich?s aus seinem Mund erfahren.
Da hat er oftmals mir erzählt,
Wie ihn das Hühnerbrot gequält,
Und wie das Ding sich zugetragen.
Zum Schlusse pflegte er zu sagen:
?Das legen, das ist leicht getan!
Das Kakeln aber, das greift an!?

[Die Sage vom Eiersegen in Semlin (Havelland) wird in unterschiedlichen Varianten erzählt. Am weitesten verbreitet ist eine Fassung, wonach sich der Gastwirt mit einem üblen Scherz an vorlauten Gästen rächt: wenn sie wie Hunde bellen, um ihn zur Eile anzutreiben, verzaubert er sie, daß sie nicht mehr sprechen, sondern nur noch bellen können. Ein Handwerksbursche, der sich über das warme Getränk und das harte Brot beschwert, die höchstens einen Hühnermagen zufriedenstellen könnten, kann nur noch wie eine Henne gackern und muß darüber hinaus ein Ei legen. Die Geschichte endet damit, daß Gäste, die dem Wirt auf die Schliche gekommen sind, das Wirtshaus überschwemmen. Heinrich Seidel (1842-1906), der Vater des Schriftsteller Heinrich W. Seidel, gibt eine harmlosere Variante wieder.]

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