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Deutschlandtagebuch

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Deutschlandtagebuch

Mori Ôgai (1862-1022) gilt als passionierter Tagebuchschreiber. Sein Leben und Schaffen sind ohne die nahezu täglichen Reflexionen und die unermüdlichen Akte des Bewahrens nicht denkbar. Im Laufe seines Lebens hat er zahlreiche Tagebücher verfasst. Sein frühestes stammt aus dem Jahr 1882. Unmittelbar vor dem Deutschlandtagebuch / Doitsu Nikki schrieb er während der Schiffsreise nach Europa das Tagebuch einer Überfahrt in den Westen/Kôsei Nikki, in dem er erwartungsvoll bei der Abreise nach Deutschland, festhält: Stolz und ungebrochen, mein Ziel verfolgend reise ich in weite Ferne.
Ôgai hatte in Japan an der kaiserlichen Universität sein Medizinstudium bei deutschen Ärzten abgeschlossen, die deutsche Sprache war ihm dank seines Fleißes und einer außerordentlichen Sprachbegabung nicht nur vertraut, er beherrschte sie wie kein anderer Japaner seiner Zeit. Wenn ihm bei der Ankunft in Marseille wegen der Sprachbarriere Europa noch fremd vorkam, so hält er in Berlin angekommen erleichtert fest: 11. (Okt.) morgens 7 Uhr. Ankunft in Köln. Ich verstehe die deutsche Sprache! Komme hierher und werde von meiner Taubstummheit befreit - muss man das nicht als Freude bezeichnen? Abends 8.30 Uhr Ankunft in Berlin.
Sein Aufenthalt ist mit dem Deutschlandtagebuch dokumentierten wichtigsten Abschnitt noch nicht beendet. Am 10. März 1888 erhielt Mori Ôgai den Befehl zu einem medizinischen Praktikum im 2. Garderegiment zu Fuß des deutschen Heeres. Die Kasernen befanden sich in unmittelbarer Nähe der Berliner Mori-Ôgai-Gedenkstätte in der heutigen Reinhardtstraße, damals noch Karlstraße, bzw. in der Friedrichstraße.
In Töpfers Hotel in er Karlstraße aß er regelmäßig zu Mittag.
Über dieses Praktikum gibt sein Tagebuch des Armeedienstes/Taimu Nikki Auskunft. Die Stationen seiner Rückkehr über London und Paris beschreibt er im Tagebuch der Rückkehr in den Osten/ Tôkan Nikki. Neben seinen Tagebüchern führte Ôgai bis 1907 Notizbücher Persönliche Notizen/Jiki zairyô, die die Tagebücher ergänzen oder zuweilen auch im Widerspruch zu ihnen stehen.
Die Tatsache, dass Ôgai einigen seiner Tagebücher Titel gegeben hat, lässt trotz der überwiegenden Sachlichkeit, Kürze und Prägnanz der Eintragungen auf einen literarischen Ansatz schließen, eben auf die in Japan auf eine lange Tradition verweisende Tagebuch-Literatur, deren vorrangige Intention nicht das Nachschlagewerk zum persönlichen Gebrauch oder zur eigenen Erinnerung war. Seine Tagebücher waren von vornherein als persönliche Mitteilung und Weltsicht nicht nur für die Zeitgenossen, sondern auch für die nachfolgenden Generationen gedacht. Wenngleich diese Tagebücher also schon mit dem Gedanken an eine spätere Publikation verfasst wurden, fällt auf, dass Ôgai die Veröffentlichung gerade des Deutschlandtagebuches lange hinausgezögert hat. Erst in der Zeit seiner Strafversetzung nach Kokura (1899-1902) überarbeitet er das Tagebuch und schickt es seiner Mutter nach Tokyo, die das nunmehr von allen für die Nachwelt schädlichen Elementen befreite Manuskript sauber abschreiben lässt. Entgegen der brieflich an seine Mutter bekundeten Absicht und seiner sonstigen Gewohnheit, Tagebücher bereits nach Ablauf eines Jahres zu publizieren, ist das Deutschlandtagebuch zu Ôgais Lebzeiten nicht veröffentlicht worden. Es ist erstmalig Shôwa 12, also 1937 beim Iwanami-Verlag Tokyo erschienen. Vor dieser Publikation haben Ôgais Kinder Oto und Annu das Manuskript noch einmal überarbeitet und offensichtliche Fehler korrigiert. Als Taschenbuch erschien es erstmals 1948 im Januar, herausgegeben von Mori Oto.

Die Ab- bzw. Schönschrift stammt aus derselben Feder wie die Abschriften des Kôsei nikki und des Hokuyû nichijô. In der nun im Archiv der Hongo-Bibliothek im Bezirk Bunkyo, Tokyo, verwahrten Abschrift des Deutschlandtagebuches finden sich noch die roten Korrekturen Ôgais. Das Original gilt als verschollen. Ursprünglich hieß das Deutschlandtagebuch Zaidoku-ki/ Aufzeichnungen aus Deutschland. Ôgai selbst hat den Titel in Doitsu nikki/Deutschlandtagebuch geändert.

Tagebuch oder Mythos? In jedem Fall ist es nicht das Original, auf dessen Wiederfinden ganze Generationen von Ôgai-Forschern und Ôgai-Fans warten in der Hoffnung auf eine endgültige Antwort auf die leidige, mir in der Gedenkstätte immer wieder gestellte Frage: Wer war Ôgais Elise? Trotz aller Hypothesen, die dazu bereits verfasst worden sind, wird diese Frage wohl ein ewiges Rätsel bleiben, denn die eindeutigen Beweise in Form von Fotos oder Briefen scheint es nicht mehr zu geben. Ôgai hat das Bündel mit originalen Elise-Erinnerungen von seiner zweiten Frau Shige vor seinen Augen kurz vor seinem Tod verbrennen lassen; das Original des Deutschlandtagebuches gilt als verschollen. Sein fast mystisch erhofftes Wiederauftauchen ist von einem bis heute nicht versiegten Entdeckerfieber begleitet, das an die Suche nach den Diamanten der Titanic erinnert, oder einfach der Tatsache zuzuschreiben ist, dass sich eben die ewige Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, gerade in Liebesangelegenheiten, zu allen Zeiten stets neu rekreiert.

Das Klare und Offenbare erklärt sich selbst, Geheimnis aber wirkt schöpferisch. Immer werden darum jene Gestalten und Geschehnisse der Geschichte nach abermaliger Deutung und Dichtung verlangen, die ein Schleier von Ungewissheit umschattet.

Fast vier Jahre umfasst dieses Tagebuch, vom 12. Oktober 1882 bis zum 14. Mai 1888. Von keinem Japaner, der während der Meiji-Zeit im Ausland weilte, sind uns so ausführliche Aufzeichnungen überliefert.
Ereignisse, die anfangs erwähnenswert und aufregend schienen, wie die so andersartige Kirschblüte in Deutschland, deren exotische Früchte man dann im Juli sogar essen kann, oder das sonntägliche Glockenläuten, sind später kaum noch einer Erwähnung wert. Ôgai, der erst in Deutschland den Auftrag Hygiene und Heeressanitätswesen zu studieren erhalten hatte, lernt alle deutschen Koryphäen der Medizin seiner Zeit kennen: Robert Koch, Max von Pettenkofer, Rudolf Virchow, Franz Hoffmann, Wilhelm Roth. Er veröffentlicht eine beachtliche Reihe wissenschaftlicher Artikel in deutscher Sprache, experimentiert tagsüber im Labor und besichtigt Krankenhäuser und Klärwerke, trifft abends Freunde und Kollegen, besucht Theater, Konzerte, liebt Spaziergänge, dolmetscht für Vorgesetzte. Nachts, im sparsamen Licht des Studierstübchens widmet er sich der Literatur. Nach drei Monaten in Leipzig hat er schon den 24bändigen deutschen Novellenschatz von Heyse/Kurz fast verschlungen. Insgesamt soll er während seines Aufenthaltes etwa 450 Bücher zur deutschen und europäischen Literatur und Kultur besessen und gelesen haben.
Ôgai ist ebenso stolz wie zurückhaltend. Seine Aufzeichnungen sind mal stichpunktartig, mal epigrammatisch verknappt, geschwätzig auch bezüglich der japanischen Gemeinde, gelegentlich wieder einer medizinischen bzw. psychologischen Diagnose gleich äußerst präzise beobachtet, poetisch wiedergegeben oder entspannt naturverbunden. Er hinterlässt als Anhang sogar ?Sieben Gedichte auf Berliner Frauen?.
Das letzte Jahr seines Aufenthaltes wird auch als ?Dreikaiserjahr? bezeichnet. Abgesehen davon, dass die Titelblätter der deutschen Zeitungen über Monate hinweg dem Gesundheitszustand des deutschen Kaisers Wilhelm I. und dem Verlauf der Geschwulsterkrankung des Kronprinzen, die von dem englischen Arzt Mackenzie behandelt wurde, vorbehalten waren, ist Ôgais engstes Umfeld in die Diagnose und Behandlung der Krankheit involviert: angefangen mit Rudolf Virchow, den Ôgai am 14. Mai 1888 besucht - letzte Tagebucheintragung - bis zum Hofarzt der kaiserlichen Familie, Generalstabsarzt Wegener, dessen ermüdenden Vortrag Ôgai am 21. Oktober 1887 erträgt und der mehr Fragen offen lässt, als er dem wissbegierigen jungen Japaner zu der heftig geführten Diskussion beantworten kann. Ôgais knappe Aufzeichnungen zu diesem medizinisch wie politisch interessanten Fall stehen in nahezu umgekehrtem Verhältnis zu der überwältigenden Aufmerksamkeit, die die Erkrankungen im Kaiserhaus damals in der Presse und der Öffentlichkeit einnahmen. Hier lässt das Tagebuch als solches die Sachlichkeit und Objektivität eines Geschichtswerkes vermissen, dessen kontrastive Lektüre als Hintergrundinformation zu den ganz persönlichen Wahrnehmungen und Reflexionen des jungen Ôgai unbedingt zu empfehlen ist.

8. Mai 2004 Beate Wonde

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