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Leo Goldammer. Heinrich Smidt. Hugo von Blomberg. Schulrat Methfessel

Informationen

Literaturangabe:

Fontane, Theodor
Von Zwanzig bis Dreißig, Berlin 1898

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Leo Goldammer. Heinrich Smidt. Hugo von Blomberg. Schulrat Methfessel

Leo Goldammer. Heinrich Smidt. Hugo von Blomberg. Schulrat Methfessel

Leo Goldammer

Leo Goldammer (Hans Sachs) kam, wie so viele Vereinsgenossen, um 1848 in den Tunnel und fand dort schon einen Goldammer vor. Dieser ältere Goldammer war ein Obertribunalsrat und hatte für den Neuhinzukommenden, der Bäcker war, nicht allzuviel übrig. Wäre dieser Neuhinzukommende bloß ein Namensvetter gewesen, so hätte sich über das "heitere Spiel des Zufalls" lachen lassen, aber der neue Goldammer war kein Namensvetter, sondern ein richtiger Vetter, Großvaters-Brudersohn. Und das störte denn doch.[Seitens der Familie des Obertribunalsrats ist diese Verwandtschaft in einem an mich gerichteten Briefe bestritten worden, was mich bestimmt hat, in dieser an und für sich gleichgültigen Sache, lediglich um eines gewissen gesellschaftlichen und kulturhistorischen Interesses willen, zu recherchieren. Nach diesen Recherchen bleibt es so, wie vorstehend im Text erzählt; mindestens steht Meinung gegen Meinung. Wenn ich eine davon, und zwar mit voller Überzeugung bevorzugt habe, so zwingen mich dazu die sich im Leben in ähnlicher Lage beständig wiederholenden Beobachtungen bzw. Empfindlichkeiten. Ein Beispiel nur. In meinem Romane "Effi Briest" spreche ich in einer halben Briefzeile von einem Tapezier Madelung, der, in Abwesenheit Effis das Zimmer der jungen Frau neu tapeziert habe. Bald nach Erscheinen des Romans erhielt ich von einem in der Provinz lebenden Madelung eine Zuschrift, in der er mir mitteilte, "daß seines Wissens niemals ein Madelung Tapezier gewesen sei". Schade. Tapezier ist etwas ganz Hübsches.]

Namentlich unsrem Leo Goldammer waren die, wie sich denken läßt, nicht gut zu vermeidenden allsonntäglichen Begegnungen mit dem von Standesbewußtsein getragenen und von Natur etwas feierlichen Obertribunalsrat anfänglich ziemlich peinlich; der Verein indes, den die ganze Situation erheiterte, ließ es an einer dem Schwächeren zugute kommenden moralischen Unterstützung nicht fehlen und zeigte, daß er den Bäcker mehr oder weniger bevorzuge. Wieviel Recht dazu vorlag, mag ununtersucht bleiben, aber daß der von uns Bevorzugte, der sich besonders liebevoll an Scherenberg anschloß und von diesem wiedergeliebt wurde, von einer sehr gewinnenden Eigenart war, das stand fest. Er hatte manches, was an den Handwerksmeister erinnerte, ja, wenn man´s erst wußte, konnte man sogar die Belege für sein spezielles Gewerbe herausfinden; aber das war in nichts ein Hindernis, im Gegenteil, es schien mir immer, als ob sein Auftreten dadurch nur gewonnen hätte. Seine dann und wann schelmisch aufblitzenden Augen hatten für gewöhnlich etwas Schwermütiges, und ein leiser Leidenszug war unverkennbar. Er besaß das eigentümlich Anziehende, das alle Menschen haben, die durch viele Kämpfe gegangen sind. Und die hatten ihm denn auch wirklich nicht gefehlt. Er war weich und männlich zugleich, bescheiden und selbstbewußt, klug-nachgiebig und charaktervoll - und all das schuf dann ebenjenen Reiz, den er auf jedermann ausübte. Kugler war es, der ihn um die angegebene Zeit in den Tunnel brachte, seinen Arbeiten ein einführendes Lob lieh und überhaupt - auch draußen im Leben - für ihn sorgte. Dazu war nun freilich reiflich Gelegenheit gegeben, denn gerade die Jahre, die seinem Eintritt in unseren Kreis folgten, waren, auf seine bürgerlichen Verhältnisse hin angesehen, die denkbar traurigsten. Er hatte sich - ihn über das Dogma vom "goldenen Boden des Handwerks" (und speziell der Bäckerei) sprechen zu hören, war ein Hochgenuß - in seinem bürgerlichen Berufe nicht halten können und suchte sich nun durch einen kleinen, in einem losen Zusammenhange mit seinem Gewerbe stehenden Zwischenhandel durchzuschlagen. Aber es kam nicht viel dabei heraus und noch weniger bei dem, was er in seinen Mußestunden an novellistischen und dramatischen Arbeiten entstehen ließ. Die Zeiten, wo sich davon leben ließ, waren noch nicht da. Sein höchstes Glück, und zeitweilig auch wohl sein einziges, war, daß seine Frau ihm eine von Anfang an entgegengebrachte schwärmerische Liebe durch alle Zeit hin treu bewahrte und - was vielleicht ebensoviel bedeutete - inmitten aller Trübsal unentwegt an bessere Tage glaubte.

Die kamen denn auch. Aber das war vorläufig noch weit im Felde. Was Zunächst kam, war einfach ein Martyrium. Alle Versuche, sich durchzuschlagen, scheiterten, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Stadtbehörden um irgendwelche Verwendung anzugehen. Auch das Kleinste sei gut genug. Und so wurde er denn einem Magistratsbureau zugewiesen, in dem er Steuerzettel zu schreiben hatte, deren im Laufe der Jahre viele Hunderttausende von seinem Schreibtisch aus in die Berliner Häuser wanderten. Als es ihm von dieser Schreiberei zuviel wurde, ward er statt Bureaugehülfe Stadtwachtmeister, eine Stellung, die seiner Art und seinem Wesen vielleicht noch weniger entsprach, aber an die Stelle der Stubenluft doch wenigstens eine frische Brise setzte. Das ging so wohl durch zwei Jahrzehnte, bis ganz zuletzt nicht sein dichterisches Talent - von dessen Heilswirkung seine liebenswürdige Frau beständig geträumt hatte -, sondern eine ganz triviale, trotzdem aber freilich sehr angenehme Erbschaft einen Wechsel der Dinge herbeiführte. Eine für seine Verhältnisse nicht unbedeutende Summe kam ins Haus, und sorglosere Tage brachen an. Zu Scherenberg, der sein Ideal blieb, stand er ununterbrochen in freundschaftlichen Beziehungen, rechnete sich´s nach wie vor zur Ehre, sich ihm, seinem Meister, durch kleine literarische Dienste nützlich machen zu können, und übersandte, wenn Geburtstag war, Blumen und Verse. Die Produktion seiner späteren Jahre, darunter eine "Schlacht bei Sadowa", verlor mehr und mehr an Natürlichkeit und Eigenart, und der Hippogryph, den er noch sattelte, war das Scherenberg-Pferd von Hohenfriedberg und Ligny. Seines Meisters Tod überlebte er nicht lange; bald nach ihm starb er selbst und wurde auf dem Parochialkirchhof vor dem Landsbergertor, wo wahrscheinlich ein Erbbegräbnis der Familie seiner Frau war, begraben.

Seine Tunnel-Tage, wie schon hervorgehoben, waren seine sorgenvollsten, aber inmitten aller Sorge doch auch wohl seine schönsten. Er war seiner Natur nach in einer Idealwelt zu Hause, und was zu dieser paßte, fand er, wenn er unter uns erschien. Es ward ihm auch viel Anerkennung, im ganzen vielleicht zu viel, im einzelnen zu wenig. Er versuchte sich auf allen Gebieten, aber mit sehr ungleichem Erfolg. Als Lyriker war er Null, schwerfällig und unverständlich, und im Drama, worauf ihn seine Berater irrtümlich hin verwiesen, kam er über ein halbes Können nicht hinaus. In der Erzählung aber, wo sich´s nicht um Geschultheit, sondern um Darstellung von allerhand Erlebnissen handelte, war er vortrefflich.

Sein Debüt im Tunnel war die Vorlesung seines vaterländischen Schauspiels "Der Große Kurfürst bei Fehrbellin". Kugler machte viel davon, in und außerhalb des Tunnels, und setzte beim Minister - Raumer - sogar eine Pension, und wenn nicht das, so doch wenigstens eine einmalige Unterstützung durch. Ja, dies vaterländische Schauspiel kam sogar auf einem recht guten Vorstadts- oder Volkstheater zur Aufführung, welches Ereignis dann als leuchtender Stern über des Dichters fernerem Leben stand. Denn nicht nur, daß er das große Publikum mit fortgerissen hatte, jener Abend mit seinem nicht wegzuleugnenden Siege gewann ihm auch die Herzen seiner Angehörigen wieder, die sich bis dahin, mit alleiniger Ausnahme seiner Frau, hart und unwirsch von dem "verdrehten Verseschmierer" abgewandt hatten. Unter diesen Angehörigen war auch ein älterer Bruder von ihm, der ihm bis dahin ganz besonders unliebsam begegnet war. An jenem Abend aber umarmte er den armen Dichter und bat ihn um Verzeihung, ihn durch Jahre hin verkannt und verletzt zu haben. Als er - Leo Goldammer - mir davon erzählte, strahlte er. Kuglers Eintreten für ihn, ganz besonders nach jener geglückten Aufführung, hatte zur Voraussetzung, daß Goldammer mit anderen patriotischen Stücken folgen würde. Das unterblieb aber, und ich muß hinzusetzen, ein Glück, daß es unterblieb. Ich glaube, Kugler stand damals noch auf dem Standpunkte, daß sich aus einem patriotischen Stoff immer was machen lasse, wenn nicht was Gutes, so doch was Mittelgutes, und unter allen Umständen ein Etwas, das, schon um des Stückchens vaterländischer Geschichte willen, vor im übrigen gleichwertigen Arbeiten den Vorzug verdiene. Woraus sich dann in weiterer Folge wie von selbst ergibt, daß auch der patriotische Dichter vor dem nichtpatriotischen immer einen Pas voraus habe. Durch den Stoff getragen, findet er von vornherein offenere Herzen. Diese weitverbreitete Meinung ist aber meiner Erfahrung nach grundfalsch. Von manch anderem, was sich gegen patriotische Stoffe sagen läßt, ganz abgesehen, ist auch vom persönlich-egoistischen Dichterstandpunkte aus nichts gefährlicher zu behandeln als das "Patriotische". Glückt es, nun so gibt es einen großen Erfolg, gewiß; glückt es aber nicht, was doch immer die Mehrheit der Fälle bleibt, so ist der Sturz auch gleich klaftertief. Denn der Unglückliche wird nun nicht bloß um seiner dichterischen Mängel, sondern recht eigentlich auch um seiner patriotischen Stoffwahl willen angeklagt, weil das Publikum, wenn´s fehlschlägt, hinter all dergleichen immer nur Streberei, Liebedienerei, Servilismus, im günstigsten Falle Bequemlichkeit vermutet. Und unser guter Leo Goldammer, all sein Talent in Ehren, war nicht der Mann, dem der Sieg garantiert gewesen wäre.

Vortrefflich, um es zu wiederholen, war er als Erzähler. Ich erinnere mich einer Novelle, deren Schauplatz das Kurische Haff und deren Ausgang ein in den Dünen der Kurischen Nehrung auftretender Sandwirbelsturm war, in dem die Helden der Erzählung untergehen. Wir waren alle von der Macht der Schilderung hingerissen. Eine zweite Novelle, die die 54er "Argo" unter dem Titel "Auf Wiedersehen" brachte, liegt mir vor, und ich habe sie, nach nun länger als vierzig Jahren, wieder durchgelesen. Ich war ganz überrascht. Es ist offenbar eine Herbergsgeschichte, die Leo Goldammer irgendwo mal gehört haben muß. Zwei Bäckergesellen, ein guter und ein schlimmer, ermorden 1812 einen alten Juden, der in einer kleinen polnischen Stadt ein Geschäft treibt; der eine - der gute - hilft bloß so nebenher mit, hat aber doch schließlich den ganzen Vorteil von der Sache. Und nun ist ein Menschenalter und mehr darüber vergangen, und der, der nur so "nebenher mit geholfen", ist inzwischen ein reicher Berliner Bäcker geworden und hält 48er Volksreden. Da mit einem Male ist der andere auch da, ganz heruntergekommen, erkennt seinen Mitschuldigen von ehedem und weiß nun: "Jetzt ist dir geholfen." Aber der andere weiß es auch, weiß, daß es jetzt heißt: "Er oder ich", und in der klaren Erkenntnis davon stößt er den alten und morsch gewordenen Komplizen von der Brüstung eines hart an den Eisenbahnschienen gelegenen Gartenhauses hinunter, und zwar in demselben Augenblicke, wo der Zug heranbraust. All dies ist mit einer wirklichen Vehemenz geschildert und derartig packend, daß ich, als ich fertig war, ausrief: "Klein-Zola". Viele Szenen hatten mich an "La bête humaine" erinnert.

Heinrich Smidt

Von sehr andrem Gepräge war der, von dem ich jetzt erzählen will, Heinrich Smidt. Er führte den Beinamen der "deutsche Marryat", übrigens ohne von seinem Namenspaten - den Schauplatz seiner Erzählungen: das Meer, abgerechnet - viel an sich zu haben. In Deutschland ruht man nicht eher, als bis man einen Dichter oder Schriftsteller durch Aufklebung solches Zettels, wohl oder übel, untergebracht hat. Es spricht sich, wenig schmeichelhaft für uns, das Zugeständnis einer Untergeordnetheit und Abhängigkeit darin aus, sonst hätte solcher Brauch nie Mode werden können. Am meisten hat Jean Paul darunter zu leiden gehabt, dem gleich eine Gesamtähnlichkeit mit der Gruppe der englischen Humoristen des vorigen Jahrhunderts angeredet wurde. Dabei hat er fast gar keine Ähnlichkeit mit ihnen und ist - je nachdem - teils weniger, teils mehr.

Heinrich Smidt war ein Holsteiner, in Altona 1798 geboren, und wurde Seemann. Als solcher führte er ein eigenes Schiff und war wohl schon über dreißig Jahre alt, als er Veranlassung nahm, das unsichere Meer da draußen aufzugeben, um es mit einem für die meisten Sterblichen noch unsicherern Aktionsfelde zu vertauschen. Ihm aber glückte es; er fuhr nicht schlecht dabei; seine Gaben und Nicht-Gaben - diese fast noch mehr als jene - halfen ihm.

Als ich in den Tunnel eintrat, war er wohl schon zehn Jahre Mitglied und einer von denen, die mir sofort freundlich ihre Hand entgegenstreckten. Da sich´s aber um Heinrich Smidt handelt, muß ich, statt einfach von "Hand", eigentlich von einer "biederen Rechten" sprechen. Ich habe wenig Menschen kennengelernt, die so ausgesprochen Inhaber einer "biederen Rechten" gewesen wären. Alle gehörten selbstverständlich in die Kategorie der faux bonhommes, und ein wahres Musterexemplar dieser Gattung war auch Heinrich Smidt. Damals nahm ich übrigens keinen Anstoß daran, strich vielmehr umgekehrt all die Vorteile ruhig ein, die man von der Begegnung mit solchen Menschen hat, Menschen, die zunächst ganz wundervoll gemütlich sind und ihre wahre Natur erst offenbaren, wenn sie sich durch das, was man tut oder auch nicht tut, in ihrem Interesse bedroht oder geschädigt glauben. Erst in meinen späteren Jahren habe ich eine tiefe Abneigung gegen diese mehr oder weniger gefährlichen Personen ausgebildet, und wenn derartige Gefühle trotzdem hier schon zum Ausdruck kommen sollten, so sind es post festum-Gefühle; damals war ich noch ganz im Bann der "biederen Rechten". Ich muß hinzusetzen, daß Heinrich Smidts ganze Erscheinung dazu angetan war, ihm ein unbedingtes Vertrauen entgegenzubringen. Er war der typische Schiffskapitän kleinen altmodischen Stils: mittelgroß, dicker Bauch und kurze Beine, mit denen er, sei´s aus Gewohnheit, sei´s aus Berechnung - ich halte letzteres für sehr wohl möglich - den bekannten Seemannsgang, das Fallen vom rechten aufs linke Bein, virtuos ausführte. Dazu Treuherzigkeitsmienen und vor allem auch Treuherzigkeitssprache.

Der Tunnel, der sich sonst nicht gerade durch Scharfblick auszeichnete, hatte doch, mir weit voraus, längst weg, was es mit der Bonhommeschaft dieses deutschen Marryat eigentlich auf sich habe, und wies ihm genau die Stellung an, die ihm zukam. "Es lag nichts gegen ihn vor", und danach wurde er behandelt, artig und schmunzelnd, aber doch immer reserviert. Man nahm ihn nicht für voll und konnte ihn nicht dafür nehmen, denn ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß in den zehn Jahren unseres gesellschaftlichen Verkehrs auch nicht ein einziger selbständiger Gedanke über seine Lippen gekommen ist. Er war im höchsten Grade trivial, dabei seine Gemeinplätze, selbstverständlich, wie Offenbarungen vortragend. Witz absolut ausgeschlossen. Aber auch das, was er als Altonaer Kind, als dickbäuchiger Kapitän und Mann des steifen Grog eigentlich hätte haben müssen: einen gewissen Teerjackenhumor, auch von diesem keine Spur. Er vermochte sich nicht einmal zu einer Anekdote aufzuraffen, und wenn er es tat, verdarb er sie. Seine Produktion war stupend; er konnte in einem fort schreiben, ohne ein Wort auszustreichen; sein Schaffen, wenn man´s überhaupt so nennen durfte, hatte was Ehernes, Unerbittliches. Immer waren Massen auf Lager, und so kam es, daß man ihn im Tunnel als ein "Füllsel" betrachtete, das, wenn alles andere fehlte, jederzeit eingestopft werden konnte. Das bedeutete nicht viel, aber umschloß doch immer noch eine gewisse Schätzung, und in dieser Schätzung, so klein sie war, blieb er auch, solang er ein freier Schriftsteller blieb. Als er aber in der sogenannten Reaktionszeit als ein ganz kleiner Beamter in die Kriegsministerialbibliothek einrückte - Scherenberg, der mit Grausen daran zurückdachte, war da sein Untergebener -, kam etwas zum Vorschein, was man bis dahin nicht an ihm gekannt hatte: Servilismus. Er sah nur noch nach dem Auge "hoher Vorgesetzter". Keiner derselben, die eben Besseres zu tun hatten, kümmerte sich um ihn und seinen ganzen Kram, aber er setzte Mienen auf, als ob das Kriegsministerium ein Etwas sei, das mit der Kriegsministerialbibliothek stehe und falle. Dem schloß er sich auch in seinen Redewendungen an und geriet in jene Sprache hinein, in der der "Drache der Revolution", "Einstehn für die höchsten Güter der Menschheit", "sichrer als auf den Schultern des Atlas" - herkömmliche Wendung für die preußische Armee - wie Alltagsworte herumflogen.

Ich habe so viel Grog in seinem Hause getrunken, daß es eigentlich schlecht ist, so viel Anzügliches hier von ihm zu sagen. Aber ich nehme es schließlich auf mich. Es war noch in den fünfziger Jahren, als ich mich in sein Haus eingeführt sah, und zwar durch Hesekiel, der im Hause Smidt der "Pascha von drei Roßschweifen" war, dabei den Küchenzettel schrieb und von Mutter und Tochter gleich abgöttisch verehrt wurde. Nicht zu verwundern! Wer an Heinrich Smidts Seite dreißig Jahre verlebt hatte, dem mußte jedesmal eine neue Welt aufgehn, wenn sich Hesekiel auf seine "goldnen Rücksichtslosigkeiten" stimmte. Starke Sachen liefen dabei freilich mit unter, aber nur desto besser; wo Langeweile durch ein Menschenalter hin grausam geherrscht hatte, waren Zynismen das erlösende Wort. Ich habe diesen Bacchanalen, die nach ihrem materiellen und geistigen Gehalt halb Bauernhochzeit, halb Kunst- und Literaturkneipe waren, manch liebes Mal beigewohnt und denke mit diabolischem Vergnügen daran zurück. Schauplatz war ein altes interessantes Haus in der Krausenstraße, dicht an der Mauerstraße; Wirt ein Bäcker, unten Laden und Backraum, darüber ein erster Stock, den Heinrich Smidt bewohnte. Dann kam ein hohes Dach mit einer unter einem Holzvorbau steckenden Winde, daran die feisten Mehlsäcke in die Höhe gewunden wurden. Mitunter hing solch ein Mehlsack schräg neben dem Fenster des Zimmers unseres Tuns gelten. Denn wir standen recht eigentlich im Zeichen des Mehlsacks: ungeheuere Schüsseln voll Makkaroni - Hesekiels Lieblingsspeise - erdrückten fast die Tafeln. Indessen siegreich über alles blieben doch die zwei Punschbowlen, die sich untereinander ablösten. Alles lachte, strahlte. Denn Hesekiel hatte gerade das Wort, und mit jenen Redederbheiten, auf die er sich wie selten einer verstand, ging er nun vor, nicht etwa um politische oder literarische Feinde abzuschlachten, das hätten andere auch gekonnt, sondern um seine Schwadronshiebe gegen die Tunnel-Freunde, gegen den "aufgesteiften Kugler", gegen den "überschätzten und politisch zweideutigen Scherenberg", gegen den "großmäuligen Widmann und den noch großmäuligeren Orelli", ganz zuletzt aber, wenn er mit dem Tunnel fertig war, seine Hauptkeulenschläge gegen seine Kollegen von der Kreuzzeitung zu führen, von denen ihm der eine zu ledern, der andere zu leisetretrig, ein dritter zu fromm und ein vierter zu schustrig war. Ich hörte beglückt zu und stieß mit ihm an, wobei sich jeder denken konnte, was er wollte.

Was war nun aber Heinrich Smidt als Schriftsteller? Hier muß ich schließlich doch Besseres von ihm sagen, als ich bis dahin konnte. So langweilig und unbedeutend er war, er war doch ein Talent, beinah ein großes. Natürlich auf seine Art, alles in allem ein wundervoller Fadenspinner. Zwischen Unbedeutendheit und altweiberhafter, rein äußerlicher Erzählergabe bestehen von alters her geheimnisvolle Zusammenhänge. Wer bloß am Rocken sitzt und den Faden näßt, ist als Mensch allemal langweilig; andererseits, wer mehr auf der Pfanne hat, läßt sich auf solch bloßes Fadenspinnen gar nicht ein. Heinrich Smidts Dramen und Gedichte sind weit unter Durchschnitt, aber wenn er sich seine Blätter zurechtschob und nun seine Feder in zierlicher Handschrift darüberhin gleiten ließ, so gab das gelegentlich doch unterhaltliche Dinge, deren man sich freuen konnte. Beachtung, ja freundlichste Zustimmung haben unter anderen seine Devrient-Novellen gefunden; aber diese waren weitaus nicht sein Eigentlichstes und Bestes, denn über Devrient zu schreiben, dazu war er schon deshalb nicht geeignet, weil ihm nichts so sehr fehlte wie das Devrientsche. Sein in bestimmter Richtung großes Talent zeigte sich, wenn er irgendeine Hansische Chronik unter Händen gehabt hatte, denn, in Wiedererzählung dessen, was er dem Buch entnommen, war er auf seiner Höhe. So hab´ ich ihn mal die Erstürmung von Bergen durch die Lübischen vorlesen hören und war ganz bewältigt von der lebendig gestalteten Szene. Natürlich war die Sache, wie jeder historische Hergang, zu dessen Darstellung man schreitet, irgendeiner Überlieferung entnommen, aber es war doch in seine Sprache transponiert, was immerhin etwas bedeutet, und jedenfalls verbleibt ihm das Verdienst, gerade den Stoff und keinen anderen gewählt zu haben. Das Wort Spielhagens: "Finden, nicht erfinden" enthält eine nicht genug zu beherzigende Wahrheit; in der Erzählungskunst bedeutet es beinah alles.

Gewiß, Heinrich Smidt war kein großer Schriftsteller, kaum ein Schriftsteller überhaupt; aber er war, ich muß das Wort noch einmal wiederholen, ein virtuoser "Fadenspinner", und als solcher hat er vielen Tausenden viele frohe Stunden verschafft.

Als, kurz vor Weihnachten 1853, jedes der Kinder im Kuglerschen Hause seinen Weihnachtszettel zu schreiben hatte, schrieb der jüngere Sohn, Hans Kugler, auf seinen Wunschzettel: "Wünsche mir ein Buch von Heinrich Smidt", und des weiteren gefragt: "Welches Buch?" antwortete er beinah unwirsch: "Ach was; von Herrn Smidten ist alles schön."

Hugo von Blomberg

Hugo von Blomberg, etwa ums Jahr so als "Maler Müller" in den Tunnel eingetreten, war nie sehr beliebt. Unter den Baronen Maler und Dichter, unter den Malern und Dichtern Baron. Man weiß, was dabei herauskommt. Also er war nicht sehr beliebt; aber er war außerordentlich geachtet, worauf er denn auch, wie selten einer, Anspruch hatte. Das mit den "Edelsten der Nation" ist nur zu oft angetan, Widerspruch zu wecken; aber er - Blomberg - durfte wirklich als ein solcher "Edelster" gelten. Er war ganz Idealist, nicht in Redensarten, sondern in Wirklichkeit. Nebenher sei bemerkt, daß er ein Neffe oder Großneffe jenes Alexander von Blomberg war, der 1813, beim Erscheinen der russischen Vorhut, sich dieser als Führer anschloß und beim Eindringen in Berlin, in Nähe des Königstors, durch eine französische Kugel seinen Tod fand. Ein Denkstein zeigt bis diesen Tag die Stelle, wo der erste Preuße der Befreiungskriege fiel.

Unser Blomberg war unbemittelt. Daß er es war, war, wenn ich recht berichtet bin, eine Folge seiner ihn auszeichnenden Großherzigkeit. Es existierte noch ein Familienbesitz in Kurland, und der Nächstberechtigte dazu war eben unser Hugo von Blomberg. Dieser aber, als es sich um Übernahme des Erbes handelte, fand, daß ein Bruder oder ein andrer naher Verwandter in noch minder glücklicher Lage sei als er selbst, und so trat er diesem, seinerseits nur einen ganz bescheidenen Gewinnanteil fordernd, das Gut ab. Auch mit diesem Gewinnanteil, wenn er ausblieb, nahm er´s nicht genau. "Er zahlt nicht, weil er nicht kann." Damit war die Sache erledigt. Nun hätte dies, unter Verhältnissen, wie sie gewöhnlich bei jungen Adligen liegen, immer noch nicht allzuviel bedeutet - eine Stellung in der Verwaltung, in der Armee kann helfen und nötigenfalls eine gute Partie. Aber Blomberg setzte die Pflege seines Idealismus mit ungeschwächten Kräften fort, nichts von Verwaltung, nichts von Armee, nichts von "guter Partie", er wurde vielmehr Maler und Dichter und nahm eine arme Frau. Diese war eine ganz entzückende Dame, Potsdamerin, Tochter des alten Generals von Eberhardt, der in der Schlacht bei Jena, damals dreizehnjährig, als alles schon wankte, sich an die Spitze einer Grenadierkompagnie gestellt und, im Vorgehen gegen eine Batterie, das Bein durch eine Kanonenkugel verloren hatte. Er erhielt den Pour le mérite, die einzige Ordensauszeichnung, die für den Tag von Jena erteilt wurde, und stand, bis an sein Lebensende, beim ganzen Hause Hohenzollern in hohem Ansehen.

In Hugo von Blomberg und dem Fräulein von Eberhardt waren zwei musterhafte Menschen zusammengekommen, und musterhaft wie die Menschen waren, war auch ihre Ehe Sie liebten sich aufs innigste, und außer seiner Kunst existierte für Blomberg nur Frau und Kind. Gesellschaften mied er, und als wir, seine näheren Freunde, dies mal tadelten, dabei von seiner "Hausunkenschaft" sprachen und ihn zu überzeugen suchten, daß er seiner Frau denn doch zu große Opfer bringe, lächelte er und sagte: "Sie irren. Ich bringe meiner Frau keine Opfer; ich liebe meine Frau." Wir machten lange Gesichter und schwiegen.

Daß wir, er und ich, so was wie Freundschaft schlossen, das datierte von einem bestimmten Vorfall her. Es war eine jener geschäftlichen Tunnel-Sitzungen, in denen über neu aufzunehmende Mitglieder verhandelt wurde. Blomberg empfahl einen jungen kurischen Edelmann, der den Wunsch ausgesprochen hatte, Mitglied zu werden. Ich sagte, das würde nicht gut gehn. Er verfärbte sich, bezwang sich aber und fragte ruhig: "Warum nicht?" - "Ich kann es hier in öffentlicher Sitzung nicht sagen; aber ich werde es Ihnen im Privatgespräch nachher mitteilen." Dies geschah. Er nickte zu meinen Mitteilungen, war aber nicht voll überzeugt und wollte sich in Dresden - wo die Dinge gespielt hatten - erst nach dem Sachverhalt erkundigen. Dies tat er denn auch, und die Angelegenheit kam nicht weiter zur Sprache. So fatal ihm der Zwischenfall war, so wußt´ er mir doch schließlich Dank, ihn vor einer Unannehmlichkeit bewahrt zu haben. Denn er war, wie in allem korrekt, so auch sehr sittenstreng.

Im Tunnel waren wir allerspeziellste Nebenbuhler, weil die Ballade sowohl seine wie meine Domäne war. Ja, wir hatten sogar die Spezialgebiete gemein und behandelten beide mit besonderer Vorliebe: das Schottische, vor allem Maria Stuart, und das Friderizianisch-Preußische. Perfekter Kavalier, der er war, konnte von Eifersüchteleien bei ihm keine Rede sein, und wie´s - hier im guten - in den Wald hineinschallte, so schallte es auch wieder heraus. Ich war stets seines Lobes voll, auch ganz aufrichtig, aber in meinem letzten Herzenswinkel doch immer mit einer kleineren oder größeren Einschränkung. Er merkte das auch und fragte mich mal danach. Es brachte mich nicht in Verlegenheit, im Gegenteil, es war mir lieb, und ich sagte: "Ja, Sie haben ganz recht. Es fehlt mir etwas in Ihren Balladen; wenn sie ein klein bißchen anders wären, so wären sie ausgezeichnet." Er lachte. "Nun gut. Aber was ist das ?kleine bißchen?, das Sie wohl anders wünschten?" Ich habe nicht mehr gegenwärtig, was ich ihm geantwortet habe; wahrscheinlich war es allerlei, was tastend und vermutend um die Sache herum ging. Jetzt nachträglich weiß ich ganz genau, was dies meiner Meinung nach Fehlende war, denn im Älterwerden beschäftigt man sich, durchaus ungesucht, auch mit der Theorie der Dinge. Blomberg las allerhand alte Bücher, fand einen geschichtlichen und anekdotischen Hergang, der ihm gefiel, und brachte diesen Hergang in Verse. Er verfuhr dabei mit großer äußerlicher Kunst, alles war vorzüglich aufgebaut, knapp und klar im Ausdruck, aber trotzdem blieb es eine gereimte Geschichte. Das ist, wie mir jetzt feststeht, ein Mangel. Es muß durchaus noch was Persönliches hinzukommen, vor allem ein eigener Stil, an dem man sofort erkennt: "Ah, das ist der." Man denke nur an Heine. So lag es aber bei Blomberg nicht. Die Sachen waren sehr gut, aber sie konnten auch von zehn anderen sein; sie hatten kein Eigenleben. Einige seiner Balladen können freilich als Ausnahmen gelten, so "Die Dame von Faverne" - zuerst in der "Argo" von 1858 erschienen -, ein sehr schönes Gedicht.

Ich glaube, daß sich Blomberg zu einem sehr guten Schriftsteller, namentlich Kunstschriftsteller - deren es damals nur erst wenige gab - hätte entwickeln können, aber die Malerei war seine unglückliche Liebe. Er mochte schon über vierzig sein, als er sich entschloß, "noch mal von vorn anzufangen", und in Ausführung dieses Entschlusses nach Weimar ging, um bei Preller oder einem anderen Meister was "Reelles" zu lernen. Ob es was geworden wäre, weiß ich nicht, möcht´ es aber fast bezweifeln; es ist damit wie mit der Akrobatik oder dem Klavierspielen, alle Gelenke müssen noch gelenk sein, wenn die Schule durchgemacht werden soll. Im Heraldischen, und darüber hinaus in phantastischer Ornamentik, hat er übrigens, schon während seiner Berliner Tage, ganz Ausgezeichnetes geleistet, das sich der lebhaften Anerkennung auch derer erfreute, die sonst von seinem Malertum nicht viel wissen wollten.

Er starb, ich glaube, Mitte der siebziger Jahre. Doch nicht von seinem eigenen Tode will ich am Schlusse dieser Skizze sprechen, sondern von einem überaus schmerzlichen Hinscheiden, das er, kurz bevor er nach Weimar übersiedelte, noch in seinem alten Berlin erleben mußte. Zärtlicher Vater, der er war, ging er auch gern mit seinen Kindern spazieren, am liebsten nach einem am Fuße des Kreuzberges gelegenen Kaffeegarten, wo gute Spielplätze waren. An einem schönen Tage war er da mit seinen zwei ältesten Kindern, seiner Tochter Eva und seinem Sohn Hans, einen reizenden, damals neunjährigen Jungen. Es wurde geturnt, gesprungen, und bei den Springübungen, die gemacht wurden, sprang der Junge über einen Tisch fort und fiel, weil er das Ziel nicht recht genommen, in einen Stachelbeerstrauch. Ein kleiner Dorn drang ihm unter dem Auge ein, genau die Stelle treffend, von der es im Volksmunde heißt: "Da sitzt das Leben". Der Vater zog den Dorn heraus, eine Verletzung war kaum zu sehen, und der Knabe spielte munter und ausgelassen weiter. Erst gegen Abend ging man heim. In der Nacht stellten sich Schmerzen ein, auch Fieber, aber nicht erheblich, und nur, um nichts zu versäumen, ging Blomberg in aller Frühe mit dem Kinde zum Arzt. Dieser streichelte den Jungen, freundliche Worte zu ihm sprechend, nahm dann aber den Vater ins Nebenzimmer und sagte: "Lieber Blomberg, Ihr Junge muß sterben. Morgen um diese Zeit ist er tot." Und so kam es. Alle Freunde waren bei dem Begräbnis, der alte Pastor Stahn, ein vorzüglicher Herr, sprach rührende Worte, und nicht oft im Leben bin ich so bewegt gewesen wie bei dieser Gelegenheit. Ich weiß nicht, woran es lag, aber der reizende Junge, der schöne Sommertag und ein anscheinendes Nichts, das doch den Tod brachte, - es erschütterte mich.

Schulrat Methfessel

Methfessel, trotzdem er Schulrat war und sich anscheinend für alles interessierte - während ihm doch ein wahres Interesse durchaus fehlte -, spielte keine besondere Rolle im Tunnel. Er gehörte zu denjenigen, denen man nicht recht traute. Seine mannigfachen Tugenden und Verdienste wurden durch ebenso viele Schwächen wieder in Frage gestellt.

Um aus der Reihe dieser Schwächen nur eine allerkleinste, freilich eine sehr charakteristische, herauszugreifen - er war ein "Uhrenzieher", und zwar einer der eifrigsten und bedrücklichsten, die mir in meinem Leben vorgekommen sind. Nun wird dieser oder jener sagen: "Uhrenzieher! Warum nicht? Uhrenzieher, das sind einfach pünktliche Leute." Gewiß. Aber Pünktlichkeit ist durchaus nicht das, was den eigentlichen Uhrenzieher ausmacht. Pünktlichkeit ist unbestritten eine Tugend, und wer pünktlich ist und nur pünktlich, ohne jeden weiteren Beigeschmack, den will ich loben, wiewohl offen gestanden mir persönlich die ganze Sache nicht viel bedeutet. Ich denke, dem Glücklichen schlägt keine Stunde, und er soll die glückliche Stunde nicht abkürzen, auch nicht auf die Gefahr hin, dabei einmal unpünktlich zu sein. Aber wenn er es zu müssen glaubt, gut. Ich habe nichts dagegen. Er wird sich dann aber aus der Schar der Glücklichen wegstehlen, ohne nach der Uhr gesehen zu haben, oder doch nur ganz still, ganz leise, ganz heimlich und diskret. Anders der eigentliche Uhrenzieher, der Uhrenzieher von Fach. Er zieht seine Uhr mit Ostentation, er zieht sie auch da noch, wo ein an der Wand befindlicher Chronometer die Stunde ganz genau zeigt, er zieht sie, weil er sie ziehen will, weil er eine mehr oder weniger unliebenswürdige Person ist, die einer ganzen Versammlung zu zeigen beabsichtigt: "Euer Gebaren hier ist gar nichts; ich habe Wichtigeres zu tun, und ich verschwinde."

So war Methfessel.

Er trat in den Tunnel, als dieser in dem Zeichen von "Ligny" und "Waterloo" stand, was damals alle solche heranlockte, die, nach den Vorgängen des "stürmischen Jahres", das Preußisch-Patriotische durchaus betont zu sehen wünschten. Zu diesen gehörte natürlich auch Methfessel, und zwar ebensosehr seiner Gesinnung wie seiner Lebensstellung nach. Er war geschulter preußischer Beamter mit einem Stich ins Höfische, Matthäikirchgänger, Büchsel-Mann, aber - soviel muß ich Methfessel lassen - wie sein Generalsuperintendent mit einem Beisatz, der mit der Bekenntnisstrenge wieder versöhnen konnte. Bei Büchsel selbst war es ein wundervoller, gelegentlich bis zu schlauer Eulenspiegelei sich steigernder Humor, bei Methfessel ein Stück Altliberalismus oder, wenn dies zu weit gegriffen ist, eine seinem Lehrer Diesterweg durchs Leben hin bewahrte Verehrung und Liebe. Diese nie verleugnete Liebe zu seinem alten Lehrer war sein schönster Zug, und ich muß ihm denselben um so höher anrechnen, als es, wie schon angedeutet, durchaus in seiner Natur und seinem Lebensgange lag, von den Anschauungen höchster Vorgesetzten abhängig zu sein. Geschulter preußischer Beamter, sagte ich. Ja, das war er, und in Haltung, Miene, Sprache kam dies gleichmäßig zum Ausdruck. Er hatte sich´s, um nur ein Beispiel zu geben, angewöhnt, Personen, die sich einer Titelauszeichnung erfreuten, diesen Titel immer mit einer gewissen Feierlichkeit anzuheften. Er sprach also nicht einfach von Bethmann-Hollweg, Mühler, Böckh, Schönlein, sondern gab, auch im leichtesten Gespräche, jedem sein gerütteltes und geschütteltes Titulaturmaß, und noch in diesem Augenblicke stimmt es mich zur Heiterkeit, wenn ich mir vergegenwärtige, wie etwa die Worte "Geheimer Oberregierungsrat Pehlemann" über seine Lippen rollten. Es war an Zungenvolubilität etwas ebenso Vollkommenes wie Eigenartiges und glich den jetzt modischen Harmonikazügen, bei denen man nicht recht weiß, ob man mehr die bis zur Einheit gesteigerte Koppelung oder aber die schußartige Fluggeschwindigkeit des Ganzen bewundern soll.

In seinem Amte galt Methfessel für sehr tüchtig, und ich glaube, daß er sein Ansehen verdiente. In manchen Stücken aber irrte er. So wenigstens will es mir erscheinen. Er war beispielsweise dafür, fremde Sprachen durch Deutsche lehren zu lassen, weil diese "grammatikalisch" geschulter seien. Ich halte dies, nach an mir selbst gemachten Erfahrungen, für grundfalsch und bin der Meinung, daß mir jeder beliebige Durchschnittsengländer ein verwendbareres Englisch, beibringt als ein grammatisch geschulter Deutscher. Und damals, wo noch alle die Hülfen fehlten, die jetzt da sind, galt das noch viel mehr als heute.

Methfessels eigentliche Stärke lag denn auch weniger nach der wissenschaftlichen als nach der pädagogischen Seite hin. Er hatte die "Methode" weg, wußte, wie man´s machen müsse. Was davon Diesterwegisch war, war auch gewiß vortrefflich, was aber Methfesselisch war, war wohl oft fraglich. Eine Geschichte, auf die es mir hier recht eigentlich ankommt, soll denn auch, zur Erhärtung dieser Fraglichkeit, den Schluß bilden.

Zu Methfessels amtlichen Obliegenheiten gehörten auch Inspektionen, darunter als Feinstes Inspektionen höherer Töchterschulen. Eine dieser Töchterschulen, zugleich mit einem vornehmen Pensionate verbunden, war ihm schon längst ein Dorn im Auge. Vielleicht, daß er das eine oder andere gehört hatte, was der Schul- und Pensionsvorsteherin, einer hübschen, stattlichen Dame, nachteilig war. Doch möchte ich dies andererseits bezweifeln, wenigstens die Berechtigung dazu; denn ich habe die Dame selbst noch sehr gut gekannt. Ich wohnte mit ihr in demselben Hause. Nun also, Methfessel kam, um nach dem Rechten zu sehen. Er erschien in einer der oberen Klassen, und während der Unterricht seinen Verlauf nahm, ging er von Platz zu Platz und revidierte die Hefte. Gleich auf der zweiten Reihe saß eine fünfzehnjährige Blondine, reizendes Geschöpf; Methfessel durchblätterte das Diarium, kam bis auf die letzte Seite, warf einen flüchtigen Blick auf das wie mit Blut übergossene junge Ding und steckte das Heft in die Brusttasche. Den anderen Vormittag ließ er sich bei der Mutter melden, einer vornehmen, reichen Dame, selbst noch jung. Er erzählte, was nötig war, und überreichte dann das Heft. Die junge Frau - ihre verhältnismäßige Jugend mag es entschuldigen - ließ sich zu der Unwahrheit hinreißen, "daß sie das, was da stehe, nicht verstünde", worauf Methfessel einen geordneten Rückzug antrat. Aber nicht, um die Sache dabei bewenden zu lassen. Es kam zwar zu keinem Eklat, trotzdem war ganz im stillen die Folge, daß die Schulvorsteherin, weil sie nicht aufgepaßt, an der erwähnten letzten Diariumsseite zugrunde ging. Sie starb in sehr beschränkten Verhältnissen. Die junge Blondine - und das ist das einzig Erfreuliche an der Sache - kam unangefochten darüber hin und ist längst glückliche Großmutter.

So die Geschichte. War das Verfahren richtig? Ich, wenn ich Schulrat gewesen wäre, hätte nach der Schulstunde zu dem armen, in seiner Scham und Todesangst genugsam abgestraften jungen Dinge gesägt: "Mein liebes Fräulein, wir wollen das zerreißen; das gehört nicht in Ihre Phantasie, noch weniger in Ihr Diarium." Und damit, meine ich, wäre es genug gewesen. Ich unterbreite die Geschichte nach Ablauf von mehr als vierzig Jahren dem Urteil der Pädagogen und denke, sie werden mir zustimmen, wenn ich sage: Methfessel, soweit diese Geschichte mitspricht, war ein Doktrinär und kein Menschenkenner. Oder aber - er wollte keiner sein.

Ich fürchte beinahe das letztere.

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