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Veränderungen in der Mark

Informationen

Literaturangabe:

Fontane, Theodor
Sämtliche Werke, Band 20, hg. von E. Groß und K. Schreinert, München 1962

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Veränderungen in der Mark

Veränderungen in der Mark
(Anno 390 und 1890)

Waren?s Germanen, waren?s Teutonen, -
Spreeaufwärts saßen die Semnonen,
Schopfhaarige, hohe Menschengebilde,
Sechs Fuß sie selber und sieben die Schilde.

Neben ihnen, in Höfen und Harden,
Saßen elbwärts die Longobarden,
Saßen von Laub und Kränzen umwunden
Oderwärts die blonden Burgunden,
Saßen am Bober in Kotten und Kralen
Zechend und streitend die Vandalen,
Saßen am Saalfluß, auf Wiesen und Fluren,
Den Kreis abschließend, die Hermunduren.

Aber Semnonen, Burgunden, Vandalen,
Alle mußten der Zeitlichkeit zahlen,
Longobarden und Hermunduren,
Alle nach Walhall aufwärts fuhren, -
Bis hin vor die Weltenesche sie zieh?n,
Da lagern sie sich um Vater Odin!

Tick, tick,
Tausend Jahre sind ein Augenblick! -

Und als nun Bismarck den Abschied nahm,
Eine Sehnsucht über die Märkischen kam,
Und sie sprachen: ?Herr, laß uns auf Urlaub geh?n;
Wir möchten die Spree noch einmal wieder seh?n,
Die Spree, die Havel, die Notte, die Nuthe,
Den ,kranken Heinrich?, die Räuberkute,
Wir sind unsrer fünf, und haben wir Glück,
Bis Donnerstag sind wir wieder zurück.?
Odin hat huldvoll sich verneigt, -
Alles zur Erde niedersteigt.

Und zunächst in der Neumark, in Nähe von Bentschen,
landen sie. ?Himmel, was sind das für Menschen!?
Und als sie kopfschüttelnd sich weiterschleppen,
Bis Landsberg, Zielenzig, bis Schwiebus und Reppen,
Spricht einer: ?Laßt uns mehr westwärts zieh?n.?
Und so westwärts kommen sie nach Berlin.
Am Tore rücken sie sich stramm,
Erst Neuer Markt, die Börse, Mühlendamm,
Dann Spandauer und dann Tiergartenstraße, -
Wohin sie kommen, dieselbe Rasse.

Sie kürzen freiwillig den Urlaub ab,
In wilde Karriere fällt ihr Rückzugstrab.
Ihr Rücktritt ist ein verzweifeltes Flieh?n.
?Wie war es?? fragt teilnahmsvoll Odin,
Und der Hermundure stottert beklommen:
?Gott, ist die Gegend runtergekommen!?


[Das Gedicht ist nach dem Zeugnis von Paul Meyer, dem juristischen Beirat Fontanes, wenige Tage nach dessen 75. Geburtstag, also zur Jahreswende 1894/95, entstanden. Erschienen ist es zuerst in Heft 1/2 der Zeitschrift Pan (Mai bis November 1899).]

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