Hier finden Sie alles rund
um die Literatur Berlins
und Brandenburgs:
Institutionen, Archive,
Bibliotheken, Gedenkstätten,
aber auch heimische Sagen,
Eindrücke klassischer Autoren,
und einen kleinen literatur-
geschichtlichen Überblick.

Wilhelm Hensel

Informationen

Literaturangabe:

Fontane, Theodor
Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Spreeland. Beeskow-Storkow und Barnim-Teltow, Berlin 1882

zurück

Wilhelm Hensel

Wilhelm Hensel

Wenn zwei Lose vor uns legt ein Beschluß der Zeit
Schwer ist´s, wirklichem Ruf folgen und falschen fliehn!...

Sieh, dich lockten indes heimische Triebe bald
Fernhin (wo in des Nords Winter ein edler Fürst
Aussät ein Athen des Geistes)
An die skythische, kalte Spree.
Platen



Wilhelm Hensel wurde den 6. Juli 1794 zu Trebbin geboren, wo sein Vater an der dortigen Marienkirche Geistlicher war. Schon einige Monate später übersiedelte man von Trebbin nach Linum, in dessen Pfarrhause wir denn auch unsern Wilhelm Hensel während seiner Knabenjahre zu suchen haben. Allen erforderlichen Unterricht gab ihm der Vater und bracht ihn, gut vorbereitet, auf die Bergakademie. Das war 1809. Dem schon damals geäußerten Wunsche des Sohnes, sich der Kunst widmen zu dürfen, hatte der Vater nicht nachgeben wollen.

Das Talent W. Hensels war aber zu ausgesprochen, als daß die Laufbahn, auf die seine Natur ihn anwies, ihm dauernd hätte verschlossen bleiben können. Seine eigenen Vorgesetzten ermunterten ihn, in seiner Beschäftigung mit den Künsten auszuharren, und als er bei bestimmter Gelegenheit ein Blatt in Wasserfarben ausführte, das innerhalb weniger Stunden eine ganze tropische Landschaft vor aller Augen hinzauberte, drang der Direktor des Instituts in ihn, das Bergfach aufzugeben und Maler zu werden.

Den Widerstand des Vaters, der auch jetzt noch fortdauerte, brach endlich der Tod. Pastor Hensel starb 1811, und unser Wilhelm Hensel war nun Maler. Er studierte Anatomie und Perspektive, zeichnete nach der Antike und dem lebenden Modell und bewährte sich als so tüchtig, daß er schon 1812 die Kunstausstellung (die erste, die in Berlin überhaupt stattfand) beschicken konnte.

Der Frühling 1813 unterbrach die kaum begonnene Laufbahn. Von Jugend auf voll patriotischen Eifers, folgte er dem "Aufruf" und trat in das eben damals errichtete Garde-Kosaken-Regiment ein. Ein kleines Gouachebild, im Besitz der Familie, stellt ihn blondlockig unter einem schwarzen Barett in dieser phantastischen Uniform dar. Er machte in dem genannten Truppenteile, der sehr bald in Namen und Erscheinung sich borussifizierte, die Schlachten bei Lützen und Bautzen mit, trat dann zu den Freiwilligen Jägern über, nahm teil an den Kämpfen des Yorckschen Corps und war unter denen, die zweimal in Paris einzogen. 1815 als Offizier. Hier war es auch, wo er in den Bildersälen des Louvre die Bekanntschaft des Grafen Blankensee machte und den Grund zu einem Freundschaftsverhältnis legte, das bis zum Tode fortbestand.

Nach dem Friedensschlusse kehrte W. Hensel zu seiner Kunst zurück, freilich auch zu seinen Bedrängnissen. Seit dem Tode des Vaters war es ihm eine Ehrenpflicht gewesen, für Mutter und Geschwister zu schaffen und zu sorgen; in diese Pflicht trat er jetzt wieder ein. Er malte Bildnisse, radierte Blätter, fertigte Zeichnungen für Almanache und Kalender und sah sich durch Arbeiten dieser und ähnlicher Art in seinem Studium allerdings gehemmt; sein Fleiß indes und sein Vertrauen halfen über alles hinweg.

So vergingen Jahre, bis der Winter 1821 plötzlich Wandel schaffte.

Um die genannte Zeit (Januar 1821) war das russische Thronfolgerpaar, der spätere Kaiser Nikolaus und seine Gemahlin, zum Besuch in Berlin eingetroffen. Ein großes Fest sollte die Gegenwart beider feiern, und man beschloß, den eigentlichen Festesinhalt dem eben damals erschienenen und von aller Welt bewunderten Gedichte Thomas Moores: "Lalla Rookh", zu entnehmen. Es war eine gute Wahl: der Gegenstand neu, die Situationen fesselnd, die Kostüme voll orientalischer Pracht. Und so schritt man sofort zur Ausführung.

Bei dem großen Interesse, das der Gegenstand damals erregte, mag es gestattet sein, bei dieser Lalla-Rookh-Feier rückblickend einen Augenblick zu verweilen.

Was zunächst die Dichtung selber angeht, die bereits wieder vom Schauplatz abgetreten ist (jede Zeit hat ihre Lieblinge), so ist der Rahmen derselben der folgende:

Abdallah, König der Kleinen Bucharei, kommt auf einer Pilgerreise, die er nach dem Grabe des Propheten unternimmt, auch nach Delhi in Indien. Hier nimmt ihn Aurengzeb, Beherrscher von Delhi, mit großer Gastfreundschaft auf. Die Vermählung ihrer ältesten Kinder: des bucharischen Prinzen Aliris und der indischen Prinzessin Lalla Rookh, wird beschlossen und soll demnächst in Kaschmir, wo Prinz Aliris zurückgeblieben ist, vollzogen werden. Lalla Rookh verläßt deshalb Delhi und begibt sich mit großem Gefolge nach Kaschmir. Unterwegs wird sie durch die poetischen Erzählungen eines jungen Dichters namens Feramors unterhalten, der sich unter den Personen befindet, die Prinz Aliris, von Kaschmir aus, zu ihrem Empfang ihr entgegengesandt hat. Vier Erzählungen sind es nun, die ganz besonders die Teilnahme der Prinzessin wecken: "Der verschleierte Prophet von Khorasan", "Paradies und Peri", die Geschichte "von den Ghebern" und "Nurmahal und Dschehangir". Zuletzt fällt die Maske, und Feramors erweist sich als Prinz Aliris selbst.

So der Rahmen. Es ist bekannt, daß die vier poetischen Erzählungen, die wir eben nannten, den eigentlichen Inhalt der Dichtung bilden. Es wurde nun beschlossen, die Aufführung dahin zu regeln, daß das Erscheinen Abdallahs am Hofe Aurengzebs durch einen großen, aus Bucharen und Indern bestehenden Festzug, der Inhalt der vier Erzählungen aber durch lebende Bilder, unter Vortrag eines angepaßten musikalischen Textes, dargestellt werden solle. Und so geschah es.

Unter den Klängen eines eigens für diese Feier komponierten Marsches setzte sich der aus 168 Personen bestehende Festzug in Bewegung, durchschritt die bekannten Paradekammern des Schlosses, trat in den Weißen Saal ein und nahm hier vor der errichteten Bühne Platz. Nun ging der Vorhang auf, und in rascher Reihenfolge folgte Bild auf Bild, im ganzen zwölf. Der Erfolg war der glänzendsten wie bei den Kräften, die mitgewirkt hatten, nicht anders zu erwarten stand. Die Dekorationen waren das Werk Schinkels, die Musikstücke waren von Spontini komponiert; bei Feststellung der Kostüme waren die großen Werke von Forbes und Elphinstone benutzt worden. Alles, was Berlin an glänzenden Namen und bekannten Persönlichkeiten aufzuweisen hatte, war geladen. 4000 Gäste nahmen am Feste teil.

Wir kehren nun zu unserem W. Hensel zurück. Ihm war die Aufgabe zugefallen, die lebenden Bilder zu stellen, und das Geschick, das er dabei an den Tag legte, die Virtuosität vor allem, mit der er jeden Hauptmoment, über die Dauer des Festes hinaus, in Aquarellbildern festzuhalten wußte, verschafften ihm so viel Huld und Wohlwollen, daß man, von jenem Lalla-Rookh-Feste an, einen Wendepunkt in seinem äußern Leben datieren muß. Der König, in Betätigung seines Dankes, gab ihm die Möglichkeit, eine mehrjährige Reise nach Italien unternehmen zu können; was aber mehr als alles andere bedeutsam und entscheidend für ihn wurde, war, daß Fanny Mendelssohn im Kreise der Ihrigen der Aufführung des Festes beigewohnt und dadurch unserem Hensel Gelegenheit zu näherer Bekanntschaft mit dem Mendelssohnschen Hause geboten hatte. Hensel, alsbald eingeführt und mit dem Bruder (Felix) befreundet, glaubte schon im Sommer 1822 um die Hand Fanny M.s anhalten zu dürfen; die Familie jedoch, mit Rücksicht auf die bereits feststehende Reise Hensels nach Italien, hielt es für besser, beide Teile vorläufig nicht zu binden, und vertagte die Entscheidung. Die Neigung des Paares überdauerte die Trennung. 1828 kehrte Hensel nach fünfjähriger Abwesenheit zurück, und das Jahr darauf vermählte er sich mit seiner von ihm gefeierten Fanny.

Die nun folgenden achtzehn Jahre seiner Ehe, einschließlich der ihnen voraufgegangenen fünf Jahre in Rom, wie es die Tage seines Glückes waren, so auch die seiner künstlerischen Produktion. Alles Vorhergehende war Vorbereitung, alles Folgende Nachklang, halb virtuoses, halb geselliges Spiel. Alle seine größeren Arbeiten gehören der eben erwähnten Epoche seines Lebens an. Es sind die folgenden:

"Transfiguration". Kopie nach Raffael. In Rom 1824-1828 gemalt. Befindet sich im Raffael-Saal in Sanssouci.

"Christus und die Samariterin". Rom, 1827. Ehemals im Besitze Fr. W.s IV. Wahrscheinlich in Schloß Bellevue.

"Vittoria von Albano". Berlin, 1829-1830.

"Die Genzaneserin". Berlin, 1829-1830.

"Christus vor Pilatus". Berlin, 1832-1838. Altarbild in der Berliner Garnisonkirche.

"Mirjam". Berlin, 1836. Im Besitze der Königin Victoria von England.

"Christus in der Wüste". Berlin, 1837-1838. Im Besitze König Fr. W.s IV.

"Der Herzog von Braunschweig auf dem Balle in Brüssel" (vor dem Treffen bei Quatre-Bras). Berlin. Im Besitze des Lord Egerton.

"Hirtin im Lande Gosen", Motiv einer Figur aus der "Mirjam". Berlin, 1839. Im Besitze der Herzogin von Sutherland.

Lebensgroßes Portrait des Prinzen von Wales. 1843. Zweimal gemalt. Das eine im Besitze König Fr. W.s IV., das andere im Besitze der Königin Victoria.

"König Wenzel". Berlin, 1844. Befindet sich im Kaisersaale des Römer, Frankfurt a. M.

"Römische Frauen am Brunnen". Rom, 1845. Für den Berliner Kunstverein gemalt.

"Betende Römerinnen". Rom, 1845. Im Besitze von Paul Mendelssohn Bartholdy.

"Felix Mendelssohn". Berlin, 1845. Lebensgroßes Kniestück. Im Besitze von Sebastian Hensel. Öfter kopiert.

"Bivouac des Herzogs von Braunschweig auf seinem berühmten Zuge nach der Nordsee, vor dem von den Franzosen besetzten Braunschweig. Die Bürger huldigen ihm." ? Kolossalbild, für den Thronsaal in Braunschweig bestimmt gewesen. Unvollendet.

Des näheren auf diese Bilder einzugehen, müssen wir uns versagen. Nur wenige Worte. "Christus vor Pilatus" pflegt als seine beste Arbeit angesehen zu werden und wird in der Tat, in Stil und Komposition, von keinem andern seiner Bilder übertroffen; wir dürften indessen kaum fehlgreifen, wenn wir, unter voller Würdigung eines großen, ihm gewordenen Aneignungstalentes (dies Wort im besten Sinne genommen), dennoch der Ansicht sind, daß seine vorzüglichste Begabung nach einer andern Seite hin lag. In eine spätere Zeit gestellt, die, wenigstens in vielen ihrer besten Schöpfungen, idealisierend an das reale Leben herantrat, würd er ein geeigneteres Feld für seine Tätigkeit gefunden haben. Wir kommen weiterhin auf diesen Punkt zurück.

Den 14. Mai 1847 starb ihm die geliebte Frau, an der er, vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an, in schwärmerischer, immer wachsender Neigung gehangen hatte. Hiermit war ein neuer Wendepunkt in seinem Leben gegeben. Er nahm Abschied von jenem heiteren Reiche der Kunst, in das die Lalla-Rookh-Tage ihn eingeführt, in welchem die römischen Tage ihn befestigt und die dreißiger Jahre ihn zu Ruhm und Ansehn erhoben hatten; er nahm Abschied von diesem heiteren Reiche, sag ich, wobei nur einzufügen bleibt, daß dieses Scheiden ein allmählich vorbereitetes Ereignis war. Cornelius´ Erscheinen in Berlin, die gewaltige Tätigkeit desselben und vor allem die großartigen Entwürfe zum Camposanto, die gerade damals entstanden, hatten ihn bereits um die Mitte der vierziger Jahre fühlen lassen, daß es vergeblich sei, neben diesem Riesen zu ringen. Ein andres Gebiet sich untertan zu machen, dazu war es zu spät. Den Zeichenstift behielt er in der Hand, aber die Palette tat er beiseite.

Die bald eintretenden achtundvierziger Vorgänge, schmerzlich, wie sie für sein loyales, ganz an dem alten Preußen hängendes Herz waren, erleichterten ihm andrerseits in der Aufregung, die sie schufen, den Übergang aus einem Lebensabschnitt in den andern: aus seinem künstlerischen Schaffen in ein künstlerisches Farniente. Die Märztage sahen ihn in Waffen, der alte Jägeroffizier lebte wieder auf, und als Kommandierender stand er an der Spitze des "Berliner Künstler-Corps".

Keiner war dazu berufener als er. Royalist und alter Militär auf der einen Seite, kannt er doch andererseits auch die Künstlernatur genau genug, um mit diesem Faktor zu rechnen. So gelang es ihm, dem ganzen Corps, das sich aus disparaten und zum Teil auch wohl desperaten Elementen zusammensetzte, einen preußisch-loyalen Charakter zu geben und eine Truppe heranzubilden, die wenigstens so zuverlässig war, wie´s ein solches Freicorps überhaupt zu sein vermag.

Die politische Erregung Hensels überdauerte den Sommer 48, ja sie steigerte sich während des Reaktionsfiebers und schwand erst, als auch dieses geschwunden war. Es kehrten ihm nun ruhigere Tage zurück, und an dieselbe Wand, an der die Büchse des Freiwilligen Jägers und die Palette des Malers bereits hingen, hing er nun auch das Rüstzeug des Parteikämpfers: die politische Broschüre, den Aufruf und das Wahlprogramm. Er war jetzt über sechzig, und die Zeit war da, wo man nicht mehr vorwärts und kaum noch um sich, sondern nur noch rückwärts blickt.

Nur in einem blieb er ganz und gar der alte: in seinen geselligen Beziehungen. Nicht mehr die Kämpfe der großen Stadt, auch nicht eigentlich ihre Bestrebungen bewegten ihn, aber dem Leben und Geplauder der mannigfachsten ihm befreundeten Kreise blieb er mit Vorliebe zugewandt. Er war nun ganz das geworden, was man eine "Figur" nennt. Jeder kannt ihn, jeder wußte dies und das von ihm zu erzählen: Guttaten und Schwänke, Bonmots und Impromptus. Er war in gewissem Grade "der alte Wrangel in Zivil". Dies Gefühl der Zugehörigkeit zu Berlin, in dem er ein volles halbes Jahrhundert gelebt hatte, überkam ihn mit immer steigender Gewalt und nahm schließlich fast die Form einer Krankheit an. Der Aufenthalt bei den liebsten Personen, wenn diese nicht dem hauptstädtischen Verbande zugehörten, begann ihm nach wenig Tagen schon ängstlich und bedrücklich zu werden, und durch all seine Heiterkeit hindurch erkannte man dann eine Unruhe, die nichts anderes war als Heimweh. Ein Gefühl, das manchem ein Lächeln abnötigen wird. Aber es war so. Der Gedanke, von einem Provinzialarzt behandelt oder wohl gar auf einem ostpreußischen Dorfkirchhofe begraben zu werden, barg etwas Trostloses für ihn, und sein alter, unerkünstelter Frohsinn kam ihm erst wieder, wenn er die beiden Gensdarmentürme und die Schloßkuppel am Horizont auftauchen sah.

So erschien der Spätherbst 1861. Hensel sollt ihn nicht überdauern. Schön, wie er gelebt, so starb er. Eine menschenfreundliche Handlung wurde die mittelbare Ursache seines Todes. Ein Kind aufraffend, das in Gefahr war, von einem Omnibus überfahren zu werden, verletzte er sich selbst am Knie. Von da ab lag er darnieder. Am 26. November schloß sich sein Auge. Sein Tod weckte Trauer bei vielen, Teilnahme bei allen.

Soviel über den Gang seines Lebens. Wir werfen noch einen Blick auf seinen Charakter, seine Begabung, seine Arbeiten, immer nur bei dem Bemerkenswertesten verweilend.

Wilhelm Hensel gehörte ganz zu jener Gruppe märkischer Männer, an deren Spitze, als ausgeprägteste Type, der alte Schadow stand. Naturen, die man als doppellebig, als eine Verquickung von Derbheit und Schönheit, von Gamaschentum und Faltenwurf, von preußischem Militarismus und klassischem Idealismus ansehen kann. Die Seele griechisch, der Geist altenfritzig, der Charakter märkisch. Dem Charakter entsprach dann meist auch die äußere Erscheinung. Das Eigentümliche dieser mehr und mehr aussterbenden Schadow-Typen war, daß sich die Züge und Gegensätze ihres Charakters nebeneinander in Gleichkraft erhielten, während beispielsweise bei Schinkel und Winckelmann das Griechische über das Märkische beinah vollständig siegte. Bei Hensel blieb alles in Balance; keines dieser heterogenen Elemente drückte oder beherrschte das andre, und die Neuuniformierung eines Garderegiments oder ein Witzwort des Professor Gans interessierten ihn ebenso lebhaft wie der Ankauf eines Raffael.

Seine Begabung, wie schon hervorgehoben, war eine eminent gesellschaftliche. Das bewies sein Leben bis zuletzt. Er exzellierte am Festtisch, war ein immer gern gesehener Gast, heiter, gesprächig, jedem Scherze zugeneigt und zugleich doch voll jenes feinen Ehrgefühls, das, während es selber die Grenzlinie wahrt die Linie des Schicklichen stillschweigend auch von anderen gewahrt zu wissen verlangt. So schrieb er, als er bei bestimmter Gelegenheit sich verletzt glaubte, folgendes an Graf B.:

"Gesellschaftliche Demütigungen sind das verletzendste, was es gibt! Du weißt, daß ich Standesunterschiede ehre und liebe, ihnen auch gern die äußere Anerkennung zolle; allein der Höhere, der mich durch Annäherung ehrt, muß auch die Überzeugung fühlen, daß ich meine eigene unantastbare Ehre habe. Nur diesem festen Gange meines Lebens, nie andringend, aber auch nie schmiegsam zurückweichend, hab ich wohl das reiche Maß von Huld und Güte zu danken, welches mir bisher geworden ist. Und wie ich war, werd ich bleiben."

Er war heiter und gesprächig, so sagt ich. Die Anekdote, der Toast, der Versebrief, das Gelegenheitsgedicht ? alles war ihm untertan. Seine eigentlichste Meisterschaft aber, zugleich seine vollste Eigenart, zeigte er auf dem Gebiete des Impromptu. Hier feierte er seine größten und entschiedensten Triumphe. "Bin Onkel Bonbonkel...", "Da kommt Abeken im Trabeken" ? in solchen plötzlich aufschießenden Reimen war er groß, und das geschickte Operieren mit einem epigrammatisch zugespitzten Calembour verstand er besser als einer. Er war kein Dichter, aber man hätt ihn "Wilhelm den Reimer" nennen können. Eine Sammlung dieser "geflügelten Worte", wenn es möglich wär, eine solche noch nachträglich zu veranstalten, würd ein Witz- und Anekdotenbuch und zugleich eine Personen- und Charakterschilderung aus dem zweiten Viertel dieses Jahrhunderts sein.

Von gesellschaftlicher Bedeutung war auch seine Kunstweise, zumal wenn wir von der Zeit absehen, wo er noch unmittelbar unter dem Einfluß Italiens und der großen Meister stand. Was er in der Gesellschaft und für die Gesellschaft schuf, das wird unter allem, was er künstlerisch geleistet, das Dauerndste sein. Es sind dies seine während eines Zeitraums von vierzig Jahren entstandenen Portraits, die, soweit meine Kenntnis reicht, eine in ihrer Art einzig dastehende Sammlung bilden.

Diese Sammlung, in Händen seines Sohnes Sebastian H. befindlich, besteht aus siebenundvierzig Jahresmappen, die in einem alten Schildpatt- oder Boulle-Schranke aufbewahrt werden und die ganze obere Hälfte desselben füllen. Schon die bloßen Mappendeckel bilden eine Sehenswürdigkeit. Bekanntlich gab es in früheren Jahrhunderten auch eine Buchbindekunst, und einer solchen halb untergegangenen Kunstepoche scheinen diese Mappen anzugehören. Sie sind alle verschieden in Farbe wie Stoff; Samt, Seide, Maroquin wechseln ab; das Vergilbte und Verschossene kleidet ihnen gut; die Goldverzierungen sind schön erhalten; einzelne tragen auf dem oberen Deckel ein Mosaikbild oder eine Gemme. Darunter ein geschnittener Onyx von der Größe einer Damenuhr, die Entführung der Europa darstellend. Ebenso schön wie wertvoll.

Diese siebenundvierzig Mappen nun, die von 1815 bis 1861 reichen und je nach der Jahresausbeute dünn oder voluminös sind, enthalten nicht weniger als 1027 Portraitköpfe. Man darf sagen, alles oder doch fast alles, was in diesem langen Zeitabschnitt in ganz Mitteleuropa zu Ruhm und Ansehen gelangte, das gibt sich hier ein Rendezvous. Gruppieren wir den Gesamtinhalt nach den Nationalitäten, so finden wir, außer ungezählten Deutschen, 52 Engländer, 43 Italiener, 31 Franzosen, 17 Russen und Polen, und in Einzelexemplaren gesellen sich ihnen zu: Griechen, Fanarioten, Rumänier, Montenegriner, selbst ein indischer Fürst und ein Mexikaner. Lassen wir die Scheidung nach Nationalitäten fallen und gruppieren statt dessen nach Beruf und Lebensstellung, so geben die Mappen, unter Ausschluß der Fürstlichkeiten, die das stärkste Kontingent stellen, folgendes an Ausbeute: Dichter, Gelehrte, Schriftsteller 89; Architekten, Maler, Bildhauer, Komponisten 62; Staatsmänner und Generale 51; Schauspieler und Sänger 21.

Aus der Gruppe der Dichter, Gelehrten und Schriftsteller stehe hier etwa die Hälfte der Namen. Es sind: Bettina von Arnim; Maxe, Armgard, Gisela von Arnim; Boeckh; Clemens Brentano; Geheimer Rat Bunsen; Michael Beer; Dr. Carl Blum; Professor Droysen; Ehrenberg; La Motte Fouqué; Professor Gans; Goethe; Jacob Grimm; Paul Heyse; Henriette Herz; E. T. A. Hoffmann; Alexander von Humboldt; Klingemann; Th. Körner; Adam Müller; Wilhelm Müller; Müllner; Frau von Paalzow; Fürst Pückler; Leopold von Ranke; Oskar von Redwitz; Ernst Schulze (Dichter der "Bezauberten Rose"); Steffens; Tieck; Tiedge; Varnhagen und die Rahel. Wer unser Berliner Leben seit fünfzig Jahren verfolgt hat, wird hier so ziemlich jeden Namen wiederfinden, der, auf schönwissenschaftlichem Gebiet, auf längere oder kürzere Zeit in den Vordergrund getreten ist. Man beachte: Fouqué, Müllner, Hoffmann, Pückler, Dr. Carl Blum, Frau von Paalzow, Redwitz, Paul Heyse.1)

Noch einige kurze Bemerkungen. Hensel hatte keine Feinde, aber er hatte, gerade was diese Portraits anging, Zweifler. Diese haben durch Schelmereien und übermütige Witzworte (der alte Humboldt sei für den schönen Karlowa gehalten worden) die Bedeutung dieser Sammlung hinwegspötteln wollen. Aber sehr mit Unrecht. Alle diese Portraitköpfe sind nicht Phantasieschöpfungen, laufen auch nicht auf ein bequemes "corriger la nature" hinaus; sie verraten vielmehr, abgesehen von einer meisterhaften, unserem Hensel ganz eigentümlichen Technik, vor allem auch eine eminente Begabung für das Charakteristische. Sonderbarerweise haben wir uns neuerdings daran gewöhnt das Charakteristische vorwiegend im Häßlichen zu suchen, anstatt uns zuzugestehen, daß das Übertreiben nach der einen Seite hin, also das Karikieren und Transponieren en laid, doch mindestens ebenso verwerflich ist als ein Zuviel en beau. Richtig geübt, ist dies eben nichts anderes als der ideale Zug in der Kunst, der doch immer der siegreiche bleiben wird.

Die neueste Kunst- und Weltepoche, die "lichtbildnerische", ist dem Ruhme der Henselschen siebenundvierzig Mappen allerdings nicht allzu günstig geworden. Aber wie immer dem sein möge, der größte Teil dieser Sammlung gibt doch Aufschluß über eine vor-lichtbildliche Zeit und wird über kurz oder lang einen Wert repräsentieren, ähnlich den Initialenbüchern des Mittelalters, aus denen oft Städte, Stände, Persönlichkeiten allein noch zu uns sprechen. Die Mappen Wilhelm Hensels werden dann ein Bibliothekenschatz sein trotz einem, eine Quelle voll historischer Bedeutung, und der Name des Predigersohns aus Trebbin wird zu neuen Ehren erblühen.



Am 26. November 1861 war W. Hensel gestorben, und am 30. trugen ihn seine Freunde hinaus. Auf dem alten Dreifaltigkeitskirchhof, unmittelbar links vom Halleschen Tore, bereitete man ihm an der Seite Fanny Mendelssohns, deren Andenken er fast einen Kultus gewidmet hatte, die letzte Ruhestätte.

Sein Grab zu besuchen, zugleich auch über die Daten seiner Geburt und seines Todes volle Gewißheit zu erlangen, bog ich, in diesen letzten Maitagen, in den dunklen, kastanienüberschatteten Gang ein, der bis an das Tor des alten Kirchhofes führt.

"Ist hier der Mendelssohnsche Begräbnisplatz?" fragt ich.

Ein zwölfjähriges, klug aussehendes Kind, an das ich die Frage gerichtet, nickte mir freundlich zu, setzte dann, als ob sich´s von selbst verstünde, das ihrer Hut anvertraute Schwesterchen ins Gras nieder und sagte: "Kommen Sie nur. Es ist schwer zu finden." Dabei lief sie vor mir her, ein Gewirr von Gängen und Steigen passierend und nur von Zeit zu Zeit sich umsehend, ob ich auch folge. Wirklich, es war schwer zu finden, schwerer noch, als ich gedacht hatte, denn drei, vier Kirchhöfe schoben sich hier mit ihren auslaufenden Spitzen so dicht und eng ineinander ein wie die Finger zweier gefalteten Hände.

Schließlich hielten wir vor einer umgitterten Stelle von mäßiger Größe.

"Hier das Mittelgrab ist das Grab von Felix Mendelssohn Bartholdy." Sie gab ihm seinen vollen Namen. Daß ich Wilhelm Hensels wegen gekommen sein könne, dieser Gedanke lag ihr fern. Und danach knicksend und meinem Danke sich entziehend, lief sie wieder im Zickzack bis zu der Stelle zurück, wo ich sie gefunden hatte.

Die Mendelssohnsche Begräbnisstätte bildet einen Staat im Staat, einen Kirchhof auf dem Kirchhof. Es sind fünf Gräber, alle gleichmäßig von Efeu überwachsen. Darunter ruhen, neben andern Mitgliedern der Familie, Felix Mendelssohn, Fanny Mendelssohn (die Gattin Wilhelm Hensels) und endlich Wilhelm Hensel selbst. Dem Hause, dem er im Leben anhing, ist er auch im Tode treu geblieben.

Alle Arten von Immergrün fassen das Gitter ein: Efeu, Buchsbaum, Taxus, Lebensbaum, und eine hohe Zypresse überragt das Ganze. Die Gräber haben Marmorkreuze; nur zu Häupten Fanny Hensels steht ein zugeschrägter, schön polierter Granit, der, außer Namen und Datum, die Worte trägt:

Gedanken gehn und Lieder
Fort bis ins Himmelreich,
Fort bis ins Himmelreich.

Auch die Noten der Liedeskomposition sind in Goldschrift beigefügt, was einen sehr eigentümlichen Eindruck macht. Worin übrigens kein Tadel liegen soll. Im Gegenteil. Ich sehe nicht ein, weshalb nur Fahnen und Kanonen das Vorrecht genießen sollen, als denkmal- oder grabsteinberechtigt zu gelten. Je häufiger und konsequenter diese langweilige Tradition durchbrochen wird, desto besser.

W. H.s Grabschrift lautet: "Wilhelm Hensel, Professor und Hofmaler; geboren zu Linum den 6. Juli 1794, gestorben zu Berlin den 26. November 1861."

Geboren zu Linum. Also doch! Und so bat ich denn meinem Trebbiner Schützenmajor ab, über den großen Sohn seiner Stadt, der sich nun schließlich als ein Linumer Kind herausstellte, so schlecht unterrichtet gewesen zu sein.

Aber auch diese reumütige Stimmung hatte keine Dauer und konnte sie nicht haben. Er war eben doch ein Trebbiner. Eine sich entspannende Zeitungscontroverse ließ mir, nach Austausch einiger Pros und Contras, endlich keine Zweifel darüber, daß sich auch dieser Grabstein, in Geltendmachung traditioneller Vorrechte, geirrt habe.

Noch einmal also: W. Hensel, geboren zu Trebbin!

3

Schriftsteller mit Bezug zum Text

2

Orte mit Bezug zum Text