Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Cornelia Geißler
Copyright: Berliner Zeitung

Cornelia Geißler

Geboren 1965 in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und Moskau, arbeitet als Redakteurin bei der Berliner Zeitung, zuständig u.a. für Literatur, Mitglied der SWR-Bestenliste seit 1994, war in der Alfred-Döblin-Preis-Jury 2019.

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Cornelia Geißler

Sie schauen nach vorn und zurück. Aktualität im Sinne von Tagesbezogenheit wollen Literaturzeitschriften nicht liefern, sondern sie spüren die Stimmen und die in der Sprache artikulierte Stimmung der Zeit auf. Da macht diesmal das wespennest seinem sommerlich unangenehmen Titel alle Ehre. Auf nassgeschwitzter blasser Haut steht das Thema „Klima“ in Versalien; das M erscheint als Abweichung von der Norm, steigt in einem Börsenkurven-Zickzack nach oben und stürzt ab.

Von den vier Zeitschriften, die hier betrachtet werden, steht das wespennest der Publizistik am nächsten. In diesem Sinne gibt es im Heft einen Artikel der Wissenschaftsjournalisten Maximilian Probst und Daniel Pelletier, der „Die sieben Todsünden des Journalismus“ anprangert. Die Autoren sehen die Klimakrise von einer „Kommunikationskrise“ begleitet. So werde Klimaschutz meist mit Verlust gleichgesetzt; ignoriere man den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Gesellschaftsstruktur, bekämen Leugner der Katastrophe zu viel Raum in den Medien – in der guten Absicht „ausgewogen zu berichten“. Dazu passt ein Interview, das der Schriftsteller Ilija Trojanow mit dem Wiener Politikprofessor Ulrich Brand führte, denn es kreist darum, mit welchen politischen Perspektiven das Thema besprochen wird. Brand sagt: „Zurzeit werden weltweit etwa vierhundert neue Flughäfen gebaut oder geplant, dazu viele Kohlekraftwerke – und wo wird Stopp gesagt?“ Schade nur, dass dieses Gespräch wie auch ein weiteres, literaturzeitschriftstypisch einfach so anfängt, ohne Hinführung zum Dialogpartner und seiner Kompetenz.

Mein schönstes Leseerlebnis im wespennest war Valeska Bertoncinis Aufbereitung der Wetterbücher aus dem Nachlass von Hans Jürgen von der Wense (1894-1966). Dieser Mann bildete sich in vielen Wissenschaften, komponierte, übersetzte, schrieb und wandte sich der Natur zu. Über Jahre gilt seine Sammel- und Registrierungswut dem Wetter. Seine Begeisterung hat etwas Rührendes heute, da man so misstrauisch auf die Veränderungen blickt. Und was hat die Meteorologie mit Literatur zu tun? „Wenses Interesse an der Meteorologie ist ein sprachliches“, schreibt Bertoncini. Er versucht zu übersetzen, was er misst und sieht und hört. 88 Farbnamen erfindet er, das Meer kann quadrantenblau, irish blue, astralin, perlmutter- oder sogar perlvaterblau sein. 

1920, vor knapp hundert Jahren also, ist von der Wense nach Warnemünde übergesiedelt. Es ist anzunehmen, dass er die von Kurt Pinthus im Herbst 1919 herausgegebene Anthologie Menschheitsdämmerung mindestens kannte, wenn nicht im Gepäck hatte. Diese Sammlung expressionistischer Lyrik von 23 Autoren verkaufte sich höchst erfolgreich und erlebte etliche Neuauflagen. Zum 100. Geburtstag hat der Schriftsteller Konstantin Ames für das Schreibheft Kollegen von heute angestiftet, sich mit der Anthologie auseinanderzusetzen. Dankbar fasst er zusammen, was er bekam: „vom harschen Verdammungsurteil, der Appropriation, der profunden Interpretation bis hin zur schrillen Persiflage, anarchoiden Anti-Interpretation, zur atmosphärischen Skizze und zur offenen Diskussion“. Er verspricht nicht zu viel. Der Furor, mit dem sich Marcel Beyer auf Johannes R. Becher stürzt, ist beispiellos in der Lyrik-Kritik und am konkreten Falle, dem Gedicht Vorbereitung, gut begründet. Es reizt zum Becher-Wiederlesen, wenn er schreibt: „Unter Tausenden Becher-Reimen kein einziger, der Sprache zum Klingen bringt.“ Marcel Beyer übertreibt hinreißend: „Unter Tausenden Becher-Neologismen kein einziger, der aufhorchen lässt.“ Denn so viele Worte hat der spätere Kulturminister der DDR auch in seiner expressionistischen Zeit nicht erfunden. Naturgemäß, nein sprachgemäß ganz anders geht Kerstin Preiwuß mit Else Lasker-Schüler um. Sie sucht die Kunst der einzigen Frau in der Sammlung auch biografisch zu erkunden, sie weiß: „Würde man Else Lasker-Schülers Gedichte nachahmen, glitte man in den Kitsch, den sie nicht enthalten.“ Gründlicher geht Michael Lentz vor; Sein Essay zur Wortkunst August Stramms zeugt von konzentrierter Beschäftigung mit Werk und Umfeld. Und Friedrich Christian Delius, der sich die Rowohlt-Ausgabe der Menschheitsdämmerung 1962 als Schüler gekauft hatte, liest den Protest gegen Repression und Militär aus Ludwig Rubiners Gedicht „Denke“, zieht damit eine beunruhigende Linie in die Gegenwart.

Das Schreibheft beginnt, das muss noch erwähnt werden, mit Gedichten aus dem Nachlass von Inger Christensen (mein Favorit: Gefaxtes Sonett), entdeckt wird der schwedische Dramatiker, Pop-Artist und konkrete Poet Öyvind Fahlström (1928-1976). Es lohnt sich, ihn laut zu lesen: „Aaaaaah! Dadadadaa! Am Toooor!“

Die Gestalt vorn auf dem Akzente-Heft muss schon vor mehr als hundert Jahren das Zeitliche gesegnet zu haben. Es handelt sich um ein Gespenst. Jonathan Penca lässt es innen noch über fünf Seiten tanzen. Zum Thema Wunder haben Theresia und Hans Magnus Enzensberger Beiträge gesammelt, vorwiegend von in den 80er-Jahren geborenen Autoren, aber wundersamerweise vermag das Heft nicht recht zu fesseln. Viele Texte schweben so beiläufig umher wie das Gespenst. Tochter und Vater Enzensberger rätseln über den Wonderbra, einen Push-up-BH. Margarete Stokowski bringt Wonder Woman und Hannah Arendt zusammen. Während Hans Magnus Enzensberger anekdotisch knapp von einem katholisch inszenierten Wunder schreibt, erkundet Leon Dische Becker ausführlich die Entstehung des Rastafari aus einer „religiösen Lücke“ in Jamaika. Der FAZ-Redakteur Simon Strauß hat eine 24-Stunden-Schicht in einem Krankenhaus zugebracht und ist nun demütig für die Arbeit an dem Ort „in dem jeder von uns eines Tages liegen wird.“ Es ist eine Langfassung seines Zeitungstextes.

Meeralgengrün ist die Juni-Ausgabe der Sprache im technischen Zeitalter, jede Menge Tiere, vom Hamster über Fuchs und Wiesel bis zur Spreewaldunke, bevölkern Ulf Stolterfoths Gedichtzyklus rückkehr von krähe am Anfang der Zeitschrift, doch Naturlyrik ist das nicht. Zeilenspringend pocht raues Menschenleben, mit witzigen Wendungen und Endungen, à la „nächstes ziel: kiel“ – ein Versprechen zum Weiterlesen. Im Schreibheft übrigens antwortet Stolterfoth auf Georg Trakl mit einem Gedicht „(„20 botschaften an den Knaben elis“). Das SpritZ-Thema Abschied von der Fiktion greift einen Trend auf. Eröffnet wird es durch die Übersetzerinnen Claudia Hamm und Sonja Finck. Sie übertragen zwei herausragende Vertreter des autofiktionalen Schreibens, Emmanuel Carrère (Hamm) und Annie Ernaux (Finck) ins Deutsche. Ihr Dialog funktioniert essayistisch, beide begründen überblicksartig und im Detail jeweils über Seiten, was sie meinen. Claudia Hamm legt dar – deshalb ist das Gespräch so passend als Auftakt –, woher der Begriff Autofiktion kommt, von Serge Doubrovsky (1928-2017) nämlich, dem die Psychoanalyse das autobiografische Schreiben verdarb. Und Sonja Finck erklärt, warum sie bei Autofiktion „als Übersetzerin stärker in Erscheinung“ trete. Das von der Autorin gebrauchte „je“ oder „moi“ ließe sich zwar als „ich“ darstellen, aber das sprechende „Ich“ könne nicht mehr die Autorin allein sein.

Als beglückte Leserin des autobiografischen Romans Chelsea Girls von Eileen Myles zeigt sich in einem anderen Beitrag die Kulturwissenschaftlerin Hanna Engelmeier. Sie schildert auch die Grenzen: Wenn man einem Autor durch sein Schreiben so nahe kommt, stellt sich eine Frage, die Myles selbst formuliert: „Can I love the art but hate the artist?“ Die New Yorkerin erzählt vom Leben in den 70ern mit Warhol, Ginsberg und Mapplethorpe. Sie präsentiert sich auf Twitter als Anhängerin des israelkritischen BDS. Im September ist sie übrigens Gast des Literaturfestivals in Berlin.

Andere Probleme der Gegenwart wirft Kathrin Röggla auf, vom Herausgeber der SpritZ Thomas Geiger und seinem Kollegen Vincent Sauer interviewt: Röggla recherchierte für ihre Prosa und die Theatertexte etwa bei Nichtregierungsorgansationen und bei Unternehmensberatern. Beim NSU-Prozess führte sie Gespräche mit Anwälten, Journalisten, zivilen Beobachtern – und ist jedes Mal mit einer spezifischen Blickweise konfrontiert. Sie ordnet die Eindrücke, so wie Annie Ernaux oder Eileen Myles ihre Erinnerungsstücke ordnen. Rögglas Schlusssatz steht prima für den ganzen Komplex: „Für die Literatur liegt die Herausforderung darin, das Material nicht zu verraten.“