Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Gregor Dotzauer
Copyright: Doris Klaas

Gregor Dotzauer

Gregor Dotzauer, 1962 in Bayreuth geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft in Würzburg und Frankfurt am Main. Sein Magisterexamen legte er 1987 mit einer Arbeit über Walter Benjamins Sprachphilosophie ab. Ab Mitte der achtziger Jahre schrieb er für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“  und die „Zeit“, dann auch für die „Süddeutsche Zeitung“  über Literatur und Film. Seit 1999 ist er Literaturredakteur des Berliner „Tagesspiegel“, wo er eine monatliche Zeitschriftenkolumne unterhält. 2004 war er Critic-in-Residence an der Washington University in St. Louis, Missouri. 2009 erhielt er den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik. Im Herbst 2014 war er Writer-in-Residence des Goethe-Instituts Peking.

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Gregor Dotzauer

Der Begriff Literatur ist für Literaturzeitschriften schon lange nicht mehr selbstverständlich. Wo er Verwendung findet, dient er, wie bei den Berliner „Metamorphosen“ (Magazin für Literatur und Kultur), der reinen Rubrizierung. Er kommt, wie bei den Münchner „Akzenten“ (Zeitschrift für Literatur), mit prononciertem Understatement daher. Oder er flüchtet sich in ein sehr viel neutraler klingendes Wort, das, wie bei der Leipziger „Edit“ (Papier für neue Texte), vordergründig jeden höheren Anspruch leugnet, in anderen Zusammenhängen jedoch seit Jahrzehnten als gar nicht so harmlose Universalmetapher für die Lesbarkeit der Welt dient.

Einen eigenen Akzent setzt das Wiener „Wespennest“, das im Untertitel (Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder) die Spreu so ausdrücklich vom Weizen trennt, dass sich die Frage nach dem Nützlichen und dem Unnützen, dem Maßgeblichen und dem Unmaßgeblichen, dem Literarischen, dem Literaturimitatorischen und dem Nichtliterarischen, nur unter anderen Vorzeichen stellt - im Novemberheft (Nr. 186) sogar verschärft. Denn der Schwerpunkt stellt die anthropozentrische Perspektive in Frage. „Mensch und Maschine“ beschäftigt sich damit, ob literarischer Sinn künftig auch mit Hilfe Künstlicher Intelligenz hergestellt werden kann. 

Frank Rieger, zusammen mit Constanze Kurz Verfasser des Buches „Arbeitsfrei“, wagt im Gespräch mit Ilija Trojanow die Prognose: „Die Erstellung belletristischer Texte ist noch für die nächsten zehn Jahre als sicherer Beruf zu betrachten. Für die Zeit danach würde ich mich nicht festlegen wollen.“ Wer die Produktion von Erzählungen und Romanen auf algorithmischer Grundlage für pure Fantasterei hält, muss nicht einmal auf die zweifelhaften Ergebnisse computergenerierter Poesie verweisen. Einen Vorschein des Möglichen liefert der aus Sportergebnissen und Kursverläufen automatisch erzeugte Journalismus des US-Unternehmens Narrative Science.

Andrea Zederbauer, die Herausgeberin des „Wespennests“, zitiert in ihrem Editorial den britischen Schriftsteller John Lanchaster, der wiederum in der „London Review of Books“ unter dem Titel „The Robots Are Coming“ über die so entstandenen Börsennachrichten neidvoll gestehen musste: „Es hat nicht die Qualitäten von Updike, aber es ist besser als E.L. James, und es erledigt seine Aufgabe mit Anstand.“ Gehört es nicht zu den Standardeinwänden gegen die Hildesheimer und Leipziger Kreativwirtschaft, dass sie auf nichts anderen als Formeln beruht? Und hat nicht zumindest der Leser von Genreliteratur die berechtigte Aussicht, eines Tages von intelligenten Maschinen besser bedient zu werden als von lieblosen und schlampigen Erzählern? Eine Gegenrede hält der Zürcher Wissenschaftshistoriker Michael Hagner, der die Idee individueller Autorschaft trotz aller Fehlschläge verteidigt.

Wozu Künstliche Intelligenz in der Lage ist, wird am Ende wohl praktisch entschieden. Kein Philosoph konnte es bisher zufriedenstellend klären. Bis auf Weiteres muss man ohnehin mit den Hervorbringungen menschlicher Intelligenz vorliebnehmen, auch in einer Erzählform, der sich die „Akzente“ (4/2015) widmen: dem „Witz“. Jo Lendle und Monika Rinck haben eine Wundertüte zusammengestellt, die von kuriosen Anwendungsfällen (Bov Bjerg) über den soliden literaturwissenschaftlichen Essay (Bettine Menke) bis zu den herrlich absurden Bild-Text-Montagen von Grit Hachmeister und Claudia Gülzow reicht.

Nicht jedes Stück Literatur entsteht im Vollbesitz geistiger Kräfte. Fortgeschrittene Absichtslosigkeit oder andere Zustände zwischen Bewusstseinserweiterung und Bewusstseinstrübung gehören zu Dispositionen, die Computerprogrammen fremd sind. Andererseits sind Hendrik Jacksons „20 Knittelverse, geschrieben aus Anlässen von Trunkenheit und Verdruss im Schwarz-Sauer zu Berlin“ nicht viel mehr als kombinatorische Fragmente: auf die Pointe reduzierte Reimereien, die in ihrer pseudoepigrammatischen Nacktheit an die Gedichte, die zwischen Peter Rühmkorf und Robert Gernhardt, Fritz Eckenga und Ror Wolf in diesen Zeiten so geschrieben werden, nicht heranreichen. Oder ist es unverstandenes Ingenium, wenn man Verse wie „dort stand / - Augen wie ein Panda - / Otto Sander“ oder „ich war früher einmal Novalis / was irgendwie auch egal ist“ allenfalls für einen Ausbund an Witzischkeit hält? 

Anzunehmen ist, dass auch die Verse des pseudonym auftretenden Christo Walross Willems in Anfällen spätabendlicher Kritzellaune entstanden sind. Sie sind jedoch in des Wortes bester Bedeutung schwachsinnig: in seinen wortverdreherischen Kapriolen mit einem ironischen Glimmen ausgestattet, das geeignet ist, so manchen Prätentionsgroßmeister armselig aussehen zu lassen. Die genaue Herkunft des 36-teiligen Zyklus unter dem schönen Titel „Pilsner Urknall!“ ist ein Rätsel. Die Spur endet bei Hamburger Designstudenten, die ihn als Material für ein typografisches Projekt nutzten. Wer immer dahintersteckt - er stammt von einem eifrigen Poesieleser. Anders lässt sich auch die Abwandlung von William Carlos Williams‘ berühmtem Pflaumen-Gedicht nicht erklären: „Ich habe die Kinder gegessen / die im Spielzimmer waren, // Du wolltest sie sicher / fürs Frühstück aufheben. // Verzeih mir sie waren herrlich, /so klein und so kalt.“

Die „Akzente“ gibt es mittlerweile im 62. Jahrgang - und zugleich im ersten der Post-Michael-Krüger-Epoche. Die „Metamorphosen“, aus einem untergegangenen Heidelberger Studentenprojekt zu neuem Leben erweckt, gehen unterdessen ins vierte Jahr. Herausgegeben von Moritz Müller-Schwefe und Michael Watzka, erscheinen sie seit 2015 im Verbrecher Verlag und haben mit der jüngsten Ausgabe (Nr. 11) von Lena Hegger und Luisa Preiß ein - trotz unterschiedlicher Schrifttypen - ansprechend schlichtes Schwarzweiß-Layout erhalten, das die überwiegend kleinteiligen Beiträge überaus lesefreundlich präsentiert. Die „Metamorphosen“ sind ein Forum der Dreißigjährigen, geprägt von einer Offenheit, die sowohl die hochkulturelle Seriosität betonen will, mit der die eigenen Altersgenossen zu Werke gehen, wie den Spieltrieb der Popahnen. Kerstin Grether blickt auf ihr Debüt „Zuckerbabys“ (2004) im zurück, während Bea Y. Höfgen mit hermeneutischer Inbrunst an Gedichten aus dem „Jahrbuch der Lyrik“ herauszuarbeiten versucht, wie haltlos der Bravheitsverdacht gegenüber der Generation Y ist - und muss sich dann doch mit dem Befund einer „Pluralität als Grundtendenz“ bescheiden. Immerhin sammelt sie einige lesenswerte Gedichte ein, darunter auch eines von Levin Westermann, der sein Luxbooks-Debüt von 2013 in „Edit 68“ um eine Auswahl unheimlicher Landschaftsgedichte ergänzt: „Über Nacht / haben sie den Wald / mit Wald ersetzt, / die Vögel / mit Vögeln, den Fuchs / mit einem Fuchs“, beginnt es. Man kann lange darüber nachdenken, ob solche Beobachtungen auch Maschinen machen könnten.