Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Jutta Person
Copyright: Johanna Ruebel

Jutta Person

Freie Literaturkritikerin und Kulturwissenschaftlerin, wurde 1971 in Südbaden geboren und lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Italianistik und Philosophie in Köln und Italien, 2004 Promotion an der Universität zu Köln mit einer Arbeit zur Geschichte der Physiognomik im 19. Jahrhundert. Sie schreibt für die Süddeutsche Zeitung, für Literaturen, Die Zeit und das Philosophie Magazin. Von 2004 bis 2007 war sie Sachbuchredakteurin bei Literaturen, seit 2011 betreut sie als Redakteurin das Ressort Bücher beim Philosophie Magazin. 2012 war sie Mitglied in der Jury des Deutschen Buchpreises. 2013 veröffentlichte sie in das Tierporträt „Esel“ in der Naturkunden-Reihe des Matthes & Seitz Verlags.

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Jutta Person

  Gibt es einen politischen Frühling der Literaturzeitschriften? Wenn der klassische Saison-Imperativ „Ins Freie!“ heißt, dann ist er in diesem Frühjahr solidarisch gemeint und gilt allen, die raus wollen, unterwegs sind oder festsitzen – den Gefangenen, Verfolgten und Flüchtlingen. Fluchtlinien und Fliehkräfte sind die Bewegungen der literarischen Gegenwart, und das bedeutet, dass es sowohl um sehr reale Realitäten geht als auch um Gedankenexperimente zum Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit.

         Ein Altmeister macht den Anfang: Mit „14 Geschichten zum Stichwort Gegenwart“ eröffnet Alexander Kluge die „Neue Rundschau“, die diesmal von Kathrin Röggla mitherausgegeben wird. Sie hatte um Beiträge gebeten, die unter der Überschrift „Gegenwart vs. Futur II“ zusammengefasst sind: Wie bekommt man den Fetisch Aktualität zu fassen, wie verhält man sich zu „unvermeidlichen“ Katastrophenthemen wie Terrorismus, Asyl, Flucht und Migration, fragt Röggla. Und was wird gewesen sein, wenn die Leser das Heft im Frühjahr 2016 in Händen halten? Der interessanteste Satz im Futur II findet sich im Essay „Die Morschen“ von Monika Rinck: „Die Morschen verstanden sich auf die magische Neueinspielung vergangener Räume, ohne sie zuvor auf irgendeine Weise gespeichert zu haben. Wie geht es weiter. Was wird der Kalender verschwiegen haben“. Apokalypse, finale Schlacht, messianische Schablone: Monika Rinck trifft den Sound der Untergangssehnsucht, lässt aber klugerweise im lyrisch Unbestimmten, welche Kassandras genau gemeint sind. „Öffnen sich jetzt die Böden? Dieses Keckern! Die Morschen erhofften ein Ende, eines von oben, eines von unten.“

      Kathrin Röggla erklärt, sie wolle „die unterschiedlichsten Formen des literarischen, essayistischen, künstlerischen und auch theoretischen Sprechens zu Wort kommen lassen“, und handelt sich damit eine Unschärfe ein – denn die Herausforderung bestünde doch in der Frage, wie Erfundenes zu Gefundenem stehen könnte, ob und wie sich Fiktion auf das Wirkliche zurückbezieht (Literatur „spricht“ nun einmal grundlegend anders als etwa Theorie). Andererseits: Dadurch, dass das Spektrum so weit reicht, finden sich auch erhellende Texte wie derjenige des Autors und Migrationsforschers Mark Terkessidis in dieser Ausgabe. Terkessidis analysiert Bilder von sogenannten Flüchtlingsströmen und schlägt vor: „Beginnen wir damit, die Unruhe als den Normalzustand des menschlichen Lebens zu sehen, nicht die Harmonie.“

Das Themenheft der „Horen“, zusammengestellt von Sascha Feuchert, Hans Thill und Regula Venske, ist gefangenen Schriftstellern gewidmet, eben jenen „Writers in Prison / Writers at Risk“, die der internationale PEN mit seinem gleichnamigen Programm unterstützt. Die Heft-Titelzeile „Hinauf in das winzige Zelt von Blau“, stammt aus Oscar Wildes „Ballade vom Zuchthaus Reading“, die ebenfalls in dieser Ausgabe abgedruckt ist (allerdings nur in einem Auszug, so dass Wildes „little tent of blue“ gar nicht auftaucht). Christa Schuenkes Neuübersetzung lässt das balladenhaft Gespenstische hervortreten: „Wir schlugen die Becken, wir plärrten Choräle,/ Schweißnass an Maschinen, die laut warn und schrill/ Doch heimlich verbarg sich in jedermanns Herz/ Die Angst und lag dort totenstill.“ Neben historisch-literarischen Zeugnissen zum Gefängnis bestechen in diesem Heft vor allem die sehr gegenwärtigen Porträts und Lagebeschreibungen: von Chelsea Manning über Liao Yiwu bis zu Mumia Abu-Jamal. Eindrucksvoll, weil voller abgründiger Komik, sind auch die „Deuxiland“-Beschreibungen des georgischen Schriftstellers Giwi Margwelaschwili, der als Ausländer in Nazi-Deutschland aufwuchs und 1945 vom sowjetischen Geheimdienst verschleppt wurde.

        Gefangenschaft und Repression werden auch in einem Text des neuen „Schreibhefts“ verhandelt: Stefan Ripplinger übersetzt und kommentiert „…im Gefängnis“, die letzte Erzählung des Autors, Übersetzers und Widerstandskämpfers Jacques Decours, der 1942 hingerichtet wurde. Überhaupt steckt diese „Schreibheft“-Ausgabe voller literaturhistorischer Entdeckungen: phantastische Fundstücke wie die Deutschland-Reportage von Orson Welles und der Briefwechsel zwischen Henry James und Robert Louis Stevenson, abgerundet von einer Blütenlese des ukrainischen Futurismus.

         Die Gedanken, die sich Orson Welles über Deutschland machte, lösten im Nachkriegsjahr 1950 einen Beinah-Skandal aus; Welles musste sich nachträglich für seine Reisereportage rechtfertigen. „Als Mystiker, Musiker und Militarist“, schreibt der Regisseur-Reporter, „hat der Deutsche sich zu einem tief fühlenden Wesen zugerichtet. Wir wissen alles über seine Mordlust, seine Todessehnsucht und seine erstaunlich sentimentalen Kapazitäten, mit denen er das Weihnachtsfest beibehält, und sagen wir es gerade heraus: Wir haben ihn gründlich satt.“ Anstoß erregt hatte zudem Welles’ Behauptung, in Bars werde zu später Stunde das Horst-Wessel-Lied gespielt; anders als die Alliierten, die in erster Linie nach vorn schauen wollten, bleibt Welles gegenüber der deutschen Psyche skeptisch.

          Einen doppelt-skeptischen Boden haben auch die faszinierend freundschaftlichen Briefe, die sich Robert Louis Stevenson und Henry James zwischen 1884 und 1894 schreiben. So viel Überschwang, Verehrung und Begeisterung für die Literatur des anderen – neben oftmals überraschend heftiger Kritik (Stevenson über James’ „Portrait of a Lady“: „Ich flehe Sie an, nicht mehr in dieser Art zu schreiben“). In den Fußnoten zu dieser Korrespondenz kann man außerdem lesen, dass James und Stevenson einiges als blödsinnig oder enttäuschend empfanden, was sie zwar nicht dem Brieffreund, dafür aber Dritten mitgeteilt hatten. Vor allem aber lästern sie über die zeitgenössische Literatur von Balzac bis Kipling – und James beschwört den nach Samoa verzogenen Stevenson, sein Dasein als „Wanderhure des Pazifik“ aufzugeben und endlich wieder zurückzukehren.

Fluchtwege wiederum begegnen auch in der neuen Ausgabe von „Sinn und Form“ – in einer historischen Variante, die aufschlussreiche Vergleiche zulässt: Die „Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge“, die Daniel Defoe 1709 veröffentlichte, beschäftigt sich mit den Auswanderern aus der Unterpfalz, die wegen religiöser Verfolgung oder wegen einer Hungersnot (ganz eindeutig war die Lage nicht) nach England gekommen waren. Defoe plädiert vehement dafür, die „poor Palatines“ nicht als lästige Nahrungskonkurrenten der Unterschicht zu betrachten, sondern sie aufzunehmen und anzusiedeln.

Die schönste Entdeckung im Literaturzeitschriftenfrühling aber ist Marie-Luise Scherers zwölfseitiges Romanfragment über „Das Dorf“, ebenfalls in „Sinn und Form“. Eine detailfreudige Erzählerin berichtet von den Ureinwohnern und Zugezogenen eines Dorfes, das nicht allzu weit von Berlin entfernt liegen muss. Die weiß lackierten Hoftore vom Baumarkt versprechen Distinktion, die alten Bauerngerätschaften in den Vorgärten sind dekorativ schräg gestellt. Bewohner und Interieurs erscheinen in einem unverwechselbar scharfkomischen Licht, und noch das Apfelkompott der Vormieterin, das die Berlin-Ausgewanderte Lydia Proske in ihrer neuen dörflichen Bleibe entdeckt, hat seine ganz eigene Tönung: „mörtelfarben“. Was wir hiermit zur aufregenden Saisonfarbe erklären möchten. Zumindest im Literaturzeitschriftenfrühling.