Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Marie Schmidt
Copyright: David Maupilé

Marie Schmidt

Marie Schmidt studierte in München Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Europäische Ethnologie und Interkulturelle Kommunikation. Nach der Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München arbeitete sie an einem Promotionsprojekt zur »Totalitären Ästhetik und politischen Ausnahme in Ezra Pounds The Pisan Cantos«. Zugleich war sie freie Autorin, vor allem für das Feuilleton der ZEIT. Seit 2014 ist sie dort Redakteurin. Im Jahr 2017 war sie Jury-Mitglied des Wilhelm-Raabe-Literaturpreises der Stadt Braunschweig und des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg.

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Marie Schmidt

Dass das Medium die Botschaft ist, geht mittlerweile als Binsenweisheit durch. Gerade der Kunst und schönen Literatur täte man ja immer Unrecht, wenn man sie zu stark an ihren sogenannten Inhalten messen wollte, dem was da jeweils ausgesagt werden soll. Interessanter ist im Zweifelsfall, welche Materialien herbeigeschafft, welche Kanäle geöffnet werden müssen, um Sinn zu transportieren. Zweifelsfälle gibt es, so ergänzte übrigens Marshall McLuhan, Erfinder der Faustformel von Botschaft und Medium, besonders häufig in Zeiten historischer Übergänge. Also wenn neue Medien gerade im Alltag ankommen, ohne schon selbstverständlich und damit »unsichtbar« geworden zu sein. Die allgemeine Aufmerksamkeit für die materielle Qualität des Sinns ist dann besonders hoch.

Heute ist das Internet ja gerade eben erst kein Neuland mehr, in den Literaturzeitschriften des Landes schreiben aber schon viele Schriftsteller aus der Generationen der digital natives, die mit neuen wie alten Medien selbstverständlich umgehen. In diesem Umfeld fällt sofort auf, wie fruchtbar das Ringen mit dem Material, mit den Produktionsbedingungen wieder geworden ist. Vor allem, weil sich die Dichterinnen und Dichter dabei längst nicht nur mit dem Spezialbereich des Digitalen auseinandersetzen, sondern mit Medien im weitesten Sinne: Wer spricht mit welcher Stimme? Auf welcher Bühne? Wer stellt die Technik bereit? Wo kommen die Buchstaben her, welche Wörter stehen zur Verfügung, aus wie vielen Sprachen? Wer versteht sie? Wieviel Quadratzentimeter Papier werden noch benötigt?

Formfragen der Literatur stellen sich heute als Medienfragen.

In der Zeitschrift aus dem Leipziger Verlag poetenladen zum Beispiel, die 22 Ausgaben lang »poet« hieß und jetzt schon zum zweiten Mal als »poetin« erscheint. Ein Plus von zwei Buchstaben als kleines Signal. Üblicherweise gibt es wegen so etwas in der Öffentlichkeit Geschrei gegen politische Korrektheit. Wenn etwa die Verwaltung der Universität Leipzig das generische Femininum einführt und mit der weiblichen Form künftig Männer automatisch mitmeint. Also anders herum als es »eigentlich« funktioniert, umgekehrt als normal. Auf der Internetplattform poetenladen und in der Zeitschrift selbst bleibt die Operation am eigenen Namen dagegen angenehm unkommentiert.

Im Heft finden sich dann eine Reihe von Statements und Interviews zum Thema Lesungen, unter anderem mit dem Cartoon-Autor Nicholas Maler, der Organisatorin der Lesereihe »Kabeljau & Dorsch« Chris Möller oder dem Lyriker Mikael Vogel. Die Leitfrage ist: »Wer hat Angst vorm Wasserglas?« Die Frage, ob ein Wasserglas als Requisit für eine Dichterlesung genügt, leuchtet sofort ein. Wer hat sich nicht schonmal als Geisel genommen gefühlt von der Eitelkeit eines Autors, der sich vorgenommen hatte, nichts an seinem Vortrag dürfe vom »Inhalt« ablenken, keine Intonation, keine Gestik, keine Interaktion. So einer lenkt dann gerade ab, durch Langeweile. Andererseits sind Lesungen das zur Zeit beliebteste Format der Literaturvermittlung. An irgendetwas muss das ja liegen.

Vielleicht an der Professionalisierung der Selbstdarstellung von Autoren. Die in der »poetin« befragten Dichterinnen verstehen die Auseinandersetzung mit einem Raum, ihrer Stimme, dem Sound ihrer Texte und ihren Zuhörern jedenfalls als Bestandteil ihrer Kunst. Auffällig einig sind sie aber auch darin, dass übertriebene Inszenierung lästig wird. »Schauspielerische Zugaben finde ich eher schrecklich«, sagt der Lyriker Bertram Reinecke im Gespräch mit Jan Kuhlbrodt, »wenn der Schauspieler sozusagen über die Brille zwinkert nach dem Motto: 'Ich weiß auch, dass das komisch ist', gehen Texte, die es darauf anlegen, den Hörer/Leser zu verführen oder in die Irre zu führen, leicht kaputt«.

Die Poetin Nora Gomringer spricht über den Körper als Medium: »Körper sind Inszenierungsbasis und Bühnen, Aufenthaltsorte, Maschinen und Wunderkammern. Vortrag aber, der ausschließlich auf den Körper konzentriert ist, langweilt. Selbst im Tanz nehmen wir die Choreographie bewusster wahr, die eine semantische Grundlage bietet, eine Geschichte erzählt, verbindlich und verbindend ist.« Ohne Inhalt geht es also natürlich auch nicht. Ihre Gesprächspartnerin Franziska Wotzinger fragt nach der Weiblichkeit des lesenden Dichterkörpers. »Ich merke, ich berühre mich selbst beim Sprechen«, antwortet Gomringer, »Zeichne bestimmte Worte, Inhalte quasi auf meine Kleidung oder Haut. Das sehe ich bei Männern kaum. Vielleicht ist diese Rückbezüglichkeit weiblich.«

In Sachen inszenierter Literatur und Stimme sticht auch aus dem fabelhaften literarischen Teil der »poetin« ein Autor hervor: Der Berliner Lyriker Tom Bresemann veröffentlicht seine Gedichte zuerst auf einem Tumblr-Blog mit dem elegant verfremdeten Titel »von jeglichem wort, das durch den menschen vernewet – duenken und gespanne in häutigem deutsch«. Seine Verse stehen da unter Instagram-Posts und in Memes, klinken sich also erhellend in Formen der trivialen Öffentlichkeit ein. Auch hören kann man seine Lyrik dabei und versteht, dass die dreispaltige Verteilung der Satzteile über die Seiten der »poetin« eine räumlich gedachte Vielstimmigkeit darstellt. Darin spiegeln sich die gefährlich offenen Selbstvergewisserungsprozesse der Gesellschaft: »man weiß jetzt nicht, was /kommt das beste/ wäre, wenn es bald losginge.«

Ganz anders, weil analog, aber nichtsdestoweniger bemerkenswert ist die Erscheinungsweise der vom Schweizer Verleger Urs Engeler (Roughbooks) herausgegebenen »Mütze«. Jede Ausgabe dieser Zeitschrift hat 52 Seiten, die andersrum geheftet und gefaltet sind, so dass der Umschlag aus den eng bedruckten mittleren Seiten besteht und die erste und letzte Seite sich in der Mitte des Hefts gegenüberliegen. Man knickt, biegt und sucht also erst einmal, wo man zu lesen anfangen soll. Zumal die Seitenzahlen seit Ausgabe #1 durchgezählt werden, so dass #19 mit Seite 937 anfängt. Ein widerständiges Printprodukt. Die Texte sind zuweilen absatzlos bis nahe an den Rand des Blattes gedruckt. Man geht mit Papier um, als sei es besonders kostbar, in Zeiten, in denen es angeblich immer weniger gebraucht wird.

Aufgrund ihres sparsamen Formats erscheint in der »Mütze« manches in Fortsetzungen, wie in Zeiten von Flug- und Kolportageschriften. In der aktuellen Ausgabe etwa die zweite Folge der Übersetzung von drei Aufsätzen, in denen die US-amerikanische Dichterin H.D. (Hilda Doolittle, 1886-1961) Ende der zwanziger Jahre eine an der antiken Klassik orientierte Filmästhetik forderte. Ein atemberaubendes Beispiel sowohl für das elitäre Kunstverständnis der klassischen Moderne, als auch für eine stupende Ignoranz gegenüber der Eigendynamik eines neuen Mediums, hier: des Films.

Außerdem stehen in der »Mütze #19« Gedichte der großartigen, in Polen geborenen Dagmara Kraus, die stets die Durchlässigkeit der deutschen Sprache strapaziert, die Übersetzbarkeit verschiedener Sprachen ineinander prüft, die sich nicht um eine »grammatikalische Aufenthaltserlaubnis« schert, wie es in der Laudatio zum ihr gerade verliehenen Basler Lyrikpreis heißt: »millionen flüchtige wörter stehen / an der grenze zu diesem gedicht«, beginnt das Gedicht »deutschyzno moya«.

Eine andere deutsche Einwanderungsgeschichte, die einem nicht aus dem Kopf geht, enthält die fünfzigste Ausgabe der »Bella triste « aus Hildesheim. Theresa Pleitner (geboren 1991) erzählt in »Was hier waltet«, wie sie an den Stadtrand von Berlin fährt, um in einer Asylunterkunft zu arbeiten. Anders als in einer gewöhnliche Reportage, werden keine Menschen beschrieben. Pleitner profiliert vielmehr die Infrastruktur, mit der man die Einwanderer im deutschen Inneren draußen hält. Das Hallenelend der Unterbringung, die datentechnische Erfassung der »Gäste«, die Uniformierung der Helfer als biopolitische Verwalter: »folgende Maßnahmen seien zu berücksichtigen: Die Überprüfung des Impfstatus, das Desinfizieren der Hände vor dem Essen, Trinken, Rauchen, unter Umständen die Verwendung von Einmalhandschuhen, Atemschutzmasken. Bezüglich psychischer Erkrankungen gelte die 'Eigensicherung', auf 'vermeintliche Menschenkenntnis' sei kein Verlass: Die Gäste reagierten womöglich anders als Gesunde.«

In den meisten literarischen Texten dieser Ausgabe der »Bella triste« wirkt die Gegenwart unsicher, katastrophenschwanger. Sehr aufgeräumt kommt dagegen ein Interview mit Rebecca Ellsäßer und Julia Dösch daher, den Gründerinnen einer neuartigen Agentur. Sie hat sich der Image-Verwaltung von Literaten in der Öffentlichkeit verschrieben: »Uns geht es besonders darum, fertige Texte und Bücher zum Gegenstand der Kommunikation werden zu lassen und Autor*innen darauf vorzubereiten, wie in Interviews über die eigenen Texte gesprochen werden kann.« Erstaunlich kaltblütig befragt Bella-Redakteurin Leonie Lorena Wyss die Gründerinnen. Dass in die lange Verwertungskette zwischen Autoren und Lesern neben Agenten, Verlegern, Lektoren, dem Vertrieb, den Händlern, Pressesprechern und Kritikern jetzt noch eine weitere Zwischeninstanz treten soll, wird klaglos eingepreist. Man habe, erklären Ellsäßer und Dösch, den neuen Medien sei dank, heute mehr Möglichkeiten als früher, die Außendarstellung einer Autorenpersönlichkeit, die »Positionierung im literarischen Feld« zu steuern. »Es geht natürlich auch darum, mit der eigenen Biografie zu arbeiten«, so Ellsäßer, »Für einige ist das kein Problem, andere ziehen die Grenze zum Privaten an ganz anderer Stelle. Genau darauf gehen wir ein. Es gibt eine singuläre Stimme, und mit welchen Facetten der Persönlichkeit dann gearbeitet wird, versuchen wir gemeinsam zu erarbeiten.«

Im Vergleich dazu wirkt geradezu klassisch, was Friedrich Christian Delius zu sagen hat, in einer Rede über die autobiografischen Anteile seines Schreibens, die in »Sprache im technischen Zeitalter« abgedruckt ist. Die Redaktion dieser Zeitschrift befindet sich im Literarischen Colloquium Berlin. Am Beispiel eigener Bücher erklärt Delius, wie er Erlebtes und Echtes umschafft zur Fiktion. Eine »Tücke des autobiografischen Erzählens«: »Ohne den Willen zur Form, ohne ausgeprägtes Formbewusstsein geht gar nichts«. Fiktionen bildeten damit aber andere Kriterien aus als schiere Unwahrheiten – ein altes Thema, das seine Relevanz gerade wieder aus der politischen Aktualität gewinnt: »Wo Märchen, Geschichten, Romane usw. erzählt werden, entsteht Wahrhaftigkeit – ganz unabhängig von Wahrheit oder Wahrheiten und Fakten und Lügen«. Wenn im Folgenden des Heftes die jungen Schriftstellerinnen der Berliner Autorenwerkstatt 2017 erzählerisch ihrer Herkunft nachgehen, Familiengeschichten erkunden, Erinnerungen prüfen, erweist sich als wahr, was Delius dekretiert: »in der Literatur, wie ich sie verstehe, gibt es keine Lügen«. Authentizität in der Kunst ist vorerst keine Frage des Managements – sondern eine des Formbewusstseins.

Zum Schluss enthält »SpritZ« einen Nachruf von Ute Nyssen auf den im März 2017 gestorbenen Literatur- und Theaterkritiker Christopher Schmidt, neben einer Laudatio, die dieser 2016 auf den südafrikanischen Dramatiker Paul Grootboom gehalten hat. Welch schönes Erinnern. Ist nicht die Lobrede das edelste Medium des Kritikers?