Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Michael Braun

Michael Braun

Michael Braun, geboren 1958; Literaturkritiker und Moderator. Lebt in Heidelberg.
Er schreibt für die NZZ und den "Tagesspiegel" und ist Mitarbeiter des Deutschlandfunks und des SWR.
Seit 2013 Herausgeber des alljährlichen "Lyrik-Taschenkalenders" (Verlag Das Wunderhorn). Seit 1991 kommentiert er mit Michael Buselmeier Gedichte für das Langzeitprojekt "Der gelbe Akrobat" (Poetenladen Verlag, 2009 und 2016). Im Sommersemester 2016 Gastprofessur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Veröffentlichte zuletzt als Hrsg.: "Die zweite Schöpfung. Poesie und Bildende Kunst" (Verlag Das Wunderhorn, 2016).

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Michael Braun

Die Charismatiker in den Geisteswissenschaften sterben langsam aus. Sieht man einmal ab von jenem Philosophen, der durch textuelle Überproduktion Verdruss erzeugt und sich nun im fortgeschrittenen Alter auch noch zum Experten für den weiblichen Orgasmus erhebt, gibt es kaum noch Denker, die über ihren akademischen Umkreis hinaus öffentliche Wirkung erzielen. Der letzte Universitätslehrer mit Kultstatus, der eine größere Schar ihm blind ergebener Jünger um sich zu scharen vermochte, war der 2011 verstorbene Medienhistoriker Friedrich Kittler. Mit seiner ursprünglich abgelehnten Habilitationsschrift „Aufschreibesysteme 1800/1900“ hatte er 1985 die Literaturwissenschaft revolutioniert und vom Kopf auf ihre materiellen Füße gestellt – auf das Fundament der Mediengeschichte. An die Stelle eines emphatisch-romantischen Subjektbegriffs setzte Kittler die „Signifikantenketten“ der französischen Meisterdenker Lacan und Derrida, den naiven Glauben an das inspirierte Genie konterte er mit einer Elementargeschichte der Schreibwerkzeuge. Auf dem Cover seiner „Aufschreibesysteme“ platzierte er konsequent Dante an einer Schreibmaschine, auf dem Rückumschlag sah man Goethe am Telefon. Der Meister der Medientheorie hatte immer wieder selbst an Computern und Synthesizern herumgebastelt und sich monomanisch ins Programmieren verbissen.

Nach seinem Wechsel von der Ruhr-Universität Bochum an die Humboldt-Universität verfiel Kittler schließlich auf das – nach eigenen Worten – „größenwahnsinnige Projekt“, den Wesenszusammenhang zwischen „Musik und Mathematik“ als eine neue Seinsgeschichte zu erzählen, beginnend bei den Epen Homers über die ekstatisch spätromantische Musik Wagners und Strawinskys bis hin zu den elektronischen Klang-Kaskaden der Rock-Gruppe Pink Floyd.
Zum fünften Todestag des ketzerischen Medienhistorikers Kittler hat nun die traditionsreiche Neue Rundschau ein opulentes Heft (Nr. 3/2016) von über 400 Seiten zusammengestellt, prall gefüllt mit feinsinnigen Exegesen, biografischen Annäherungen, Interviews mit Weggefährten und berührenden Erinnerungen. Wer zunächst das etwas raunende Editorial liest, in dem im Connaisseur-Stil auf das „schwierige“, „bis ins Privateste“ reichende Spätwerk verwiesen wird, auf die zwischen tollkühner Philologie und romantischer Autobiografik oszillierende Schrift „Musik und Mathematik“, der muss befürchten, dass in der Neuen Rundschau nur eine weihevolle Kittler-Hagiografie herumgereicht wird. Zum Glück wird der eigenwillige Medientheoretiker nicht nur als „Heiliger“ (Denis Scheck) umsäuselt, sondern es wird auch nach der Plausibilität seiner ästhetischen Obsessionen gefragt. Und hier kommen die Beiträger doch zu sehr unterschiedlichen Befunden. Dabei wird manch bislang unbekanntes Dokument präsentiert, etwa Kittlers Notizen zu seiner Habilitationsschrift, die er seinen Gutachtern seinerzeit vorenthielt: „Und du fragst mich, was die Liebe sei?...- Darauf kann die Antwort nur lauten, dass Kulturtechniken immer auch Körpertechniken sind. Dass z.B. die Schriftkultur Hand und Auge, Mund und Ohr auf angebbare Weisen verschaltet (...). Dass also Schreibmaschinen, Grammophon und Film dieselben und andere Körperteile auf andere Weise verschalten.  Literatur als Informationstechnik zu analysieren, heißt am Ende: ihre Sinnlichkeiten erkennen.“ Unter den Beiträgen seiner ehemaligen Schüler beeindruckt die nüchterne Betrachtung von Bernhard Siegert, der nicht nur das sektenhafte Verhalten der sogenannten „Kittlerjugend“ benennt, sondern auch den religiösen Übereifer seines Lehrers beim Programmieren und die unangenehme Manie seines Antike-Fetischismus, der darin gipfelte, alle Seinsgeschichte nur aus seiner „einzig wahren Homer-Lektüre“ abzuleiten.

Was ästhetische Reflexion vermag, kann man in der Neuen Rundschau an den Maximen des mittlerweile 90jährigen Experimentalpoeten Franz Mon sehen, ein Autor, der seit nunmehr sechzig Jahren die Poesie als akribische Sprachforschung betreibt und nun im beigelegten Faltblatt der Zeitschrift luzide „Thesen“ zur „Technik des Schriftstellers“ vorlegt. Und wie schon in seinem poetischen Debüt „artikulationen“ (1959) fundiert Mon seine Überlegungen auf die Buchstäblichkeit und Materialität jedes einzelnen Worts. Fasziniert von den Veränderungen, die jedes Wort durchläuft, sobald man seine Teilpartikel neu gruppiert, beobachtet Mon die Metamorphosen der Sprache bei ihrer Begegnung mit den einzelnen Sinnen: „Ich kann ein Wort auch in den Mund nehmen, ohne es weiter zu beachten, weil schon das nächste und dessen nächstes in meinem Kopf sind. Ich kann es im Mund zergehen lassen, so dass es sich in seine Partikel auflöst.“

Es gibt aber auch Fälle, in denen ein Schriftsteller erkennen muss, dass seine Indienstnahme der Sprache einem Gewaltakt gleichkommt, einem Übergriff auf andere Menschen. Im aktuellen Heft 70 der Leipziger Literaturzeitschrift EDIT rekonstruiert der Schriftsteller Tobias Hülswitt seinen Verzicht auf die Veröffentlichung eines Romans. Hülswitt kann schlüssig darlegen, warum er nach längerer Überlegung den Entschluss gefasst hat, einen autobiografischen Roman über die große und gescheiterte Liebe seines Lebens NICHT zu veröffentlichen. Er nennt Gründe, die viel mit Diskretion und dem Schutz des anderen, einst geliebten Menschen zu tun haben. Mit einer Veröffentlichung, so resümiert Hülswitt, würde er dem porträtierten Ex-Lover „das Recht auf Vergessen“ rauben - denn für immer wäre das Desaster seiner langjährigen Beziehung nachlesbar. Dass nach einigen dürren Jahren die EDIT wieder zu einer lesenswerten Zeitschrift geworden ist, zeigen auch die in Heft 70 abgedruckten Gedichte von Ron Winkler und der in seiner Gedankendichte einzigartige Essay der Berliner Dichterin Kenah Cusanit. Winkler verfeinert in seinen Gedichten der letzten Jahre eine eigenwillige Kombinatorik sehr origineller, abweichungswilliger Bilder und Metaphern, die stets mit semantischen Brüchen und Verschiebungen arbeiten und mit technik-affinen Neologismen ein poetisches Flirren erzeugen. Kenah Cusanit unternimmt eine diachrone Expedition durch einen Ort in der Lausitz nahe dem Flusssystem der Schwarzen Elster.  Ausgehend von der Besiedlung des Ortes im 18. Jahrhundert inventarisiert die Autorin die Veränderungen des Schauplatzes bis ins 21. Jahrhundert, en passant werden die Kriegserfahrungen von Günter Grass als junger SS-Mann aufgezeichnet.

Zu den notorischen Unsitten im deutschen Literaturbetrieb gehört es, bei der Erkundung des jeweiligen Buchmesse-Gastlandes allerlei Oberflächlichkeiten in Umlauf zu bringen. Ein wirkungsvolles Gegenmittel gegen diese Banalitäten, nämlich profunde Analysen und eindrucksvolle Textbeispiele, wird nun von der neuen Ausgabe der horen (Nr. 263) bereitgestellt: „Bojen & Leuchtfeuer. Neue Texte aus Flandern und den Niederlanden“. Stefan Wieczorek, der Übersetzer und Herausgeber des Bandes, belegt an faszinierenden Exempeln, dass die Poesie aus Flandern und den Niederlanden eine weitaus größere öffentliche Präsenz erreicht als etwa die deutsche. In einem fabelhaften Essay stellt Norbert Scheuer die Naturaquarelle und Wasser-Bilder des süddeutschen Malers Mario Reis vor, der Baumwolltücher in die Strömung ausgewählter Flüsse hängt, so dass sich deren Sedimente auf dem Tuch ablagern. Diese Wasserbilder vergleicht Scheuer mit den Gedichten des Niederländers Erik Lindner, der seinerseits Gegenstände und Dinge seines Alltags so in seinen Gedichten darstellt, „als wären es zufällige Perzeptionen, nur aufgefangene Partikel aus dem Fluss des Lebens“.

Die größte Zeitschriften-Überraschung der letzten Jahre liefert indes die zweite Ausgabe des Magazins Seitenstechen, eine gemeinsame Initiative des jungen homunculus Verlags und des Erlanger Forschungszentrums für Literatur und Naturwissenschaften ELINAS. Man hat sich hier auf den Spuren des Universalpoeten und Erste Erde-Erkunders Raoul Schrott begeben und ein Heft über „Dunkle Energie“ konzipiert, eine sehr geglückte Melange aus historischen Grundlagentexten zur Astrophysik, Relativitäts- und Quantentheorie und neuen Gedichten und Prosatexten zum weiten Feld der Kosmologie. Die „Dunkle Energie“, so belehrt uns das Vorwort in Seitenstechen, rekurriert auf Vorstellungen über das „primum mobile“, den „unbewegten Beweger“ der Himmelssphäre. In Seitenstechen werden nun Elementartexte wie Lukrez´ „De rerum natura“ mit aktuellen Gedichten collagiert: Auf ein Durs Grünbein-Gedicht („Planetarium“) folgt zum Beispiel eine Reflexion von Aristoteles über den Himmel. Poesie kehrt hier zu ihren magischen Ursprüngen zurück -  sie schreibt Schöpfungsgeschichten.


Neue Rundschau, Heft 3/2016, S. Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfirt am Main. 416 Seiten, 15 Euro
Edit 70, Käthe-Kollwitz-Str. 12, 04109 Leipzig, 130 Seiten, 5 Euro
Die horen, Nr. 263, Wallstein Verlag, Geiststraße 11, 37073 Göttingen, 244 Seiten, 14 Euro
Seitenstechen #2, Homunculus Verlag, Breslauer Straße 10, 91058 Erlangen, 140 Seiten, 8,50 Euro