Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Natascha Freundel
Copyright: Christian Spielmann

Natascha Freundel

Natascha Freundel ist Redakteurin und Kolumnistin bei NDR Kultur, Literaturkritikerin, Moderatorin und 2019 Jurorin des Alfred-Döblin-Preises 2019. Sie wurde 1974 in Magdeburg geboren, hat in Berlin und Frankfurt am Main Philosophie, Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Russistik studiert. Danach hat sie zehn Jahre lang als freie Journalistin für die Kultursender der ARD und diverse Zeitungen aus Berlin, Israel und Osteuropa berichtet. 

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Natascha Freundel

Gute Schriftsteller, so heißt es oft, seien Seismographen ihrer Gegenwart. Mit hoher Sensibilität zeichneten sie auf, was andere vielleicht nur vage wahrnehmen: Spannungen, Beben, Brüche im Boden unter unseren Füßen. Verschiebungen, die alles verändern. Nun leben wir im sogenannten Informationszeitalter, mit unzähligen, schrecksekundenkurzen Nachrichten. Bilder und Berichte von Ereignissen aller Art, von Unwettern, Twittergewittern oder Datendiebstählen verbreiten sich rasant. Wer wünscht sich da nicht etwas Ruhe im Nachrichtensturm? Ausführliche, sachliche Beschreibungen eines Ausschnitts dieser turbulenten Welt? Vielleicht hat die jüngste Diskussion über Fiktionen in Reportagen (Claas Relotius) und, damit verbunden, über die Grenzen zwischen Journalismus und Literatur auch mit einer gegenwärtigen Unsicherheit zu tun, in welcher erzählerischen Form wir uns diese Zeit am besten vergegenwärtigen.

Das Schöne an Literaturzeitschriften ist, dass sie die ganze formale Bandbreite sprachlicher Welterschließung bereithalten. Und dass man über die Vor- und Nachteile der einen wie der anderen Form eine Menge lernen kann. Etwa anhand der 44. Ausgabe der Reportagen. Seit 2011 gibt es das in Bern beheimatete, handliche, zauberhaft illustrierte „Magazin für erzählte Gegenwart“, dessen Name Programm ist. Hier wird die Kunst der Reportage gepflegt. Die sich einmal mehr zentralen Themen unserer Zeit widmet: drohender oder realer Armut, der sozialen Drift zwischen Arm und Reich, radikalen Veränderungen in der Arbeitswelt. Matthias Fiedler etwa recherchierte zwei Wochen lang in den USA unter amerikanischen Rentnern, die als Wanderarbeiter malochen müssen. Da ist der 65-jährige Handwerker, der auf den Florida Keys nach den Verwüstungen durch einen Hurrikan neue Häuser baut: Ein alter Ford, seine Hände und seine Ausdauer sind sein Kapital. Sein Zuhause auf Zeit ist ein kleines Zelt, das er sich mit einem Kollegen teilt. Auf dem Campingplatz lebt auch ein Paar, 64 und 62 Jahre alt, das im „Camper Force“-Programm von Amazon erfahren hat, was es bedeutet, gnadenlos ausgenutzt zu werden. Das sind beeindruckende Nahaufnahmen, die mit statistischen Daten zur Altersarmut auch in Deutschland oder der Schweiz verbunden werden.

Noch näher kommt Sabine Riedel ihrem Protagonisten, einem 49-jährigen Bergmann der letzten Kohlezeche im Ruhrgebiet, der Zeche Prosper-Haniel in Bottrop. Sie hat ihn einen Arbeitstag lang begleitet und man meint, mit ihm in den Schacht zu kriechen, sogar seine Gedanken zu lesen: „Mensch, was machste bloß? Ein Mann, der morgen ein Mann von gestern ist.“ Diese Reportagen dokumentieren den Alltag von Menschen in existentiellen Notlagen und zeigen zugleich die Würde dieser Menschen, ihr aktives Leben in engen Spielräumen. Eben das macht die Texte zu Geschichten der Hoffnung. So auch der Bericht aus Afrika von Juliane Schiemenz, die von einem Mann aus einem Dorf in Gambia erzählt, der sein Land nicht Richtung Europa verlassen möchte. Obwohl ihn seine eigene Frau nach Europa wünscht und obwohl sich schon so viele Gambier auf den Weg dorthin gemacht haben. Wie der Bergmann in Bottrop hat er keine sichere Zukunft vor Augen, und doch hält er an ihrer Möglichkeit fest, dort, wo er zu Hause ist.

Sind so gründlich recherchierte, variantenreich geschriebene Reportagen nun die einzig angemessene Erzählform für diese instabilen Zeiten? Sie sind jedenfalls hilfreich für das Verständnis und die Kritik der Gegenwart, aber auch der gegenwärtigen Literatur, die auffällig viele „Dystopien“ hervorbringt. Zwar hatte sich die Leipziger Redaktion der 1993 gegründeten Edit für die aktuelle Ausgabe etwas mehr Optimismus vorgenommen, in dem „Papier für neue Texte“ findet sich nun aber doch vor allem verstörende, surreale Prosa, die Alpträume bescheren kann. Dazu passen die Illustrationen von Flaka Haliti, die Wolken in unheimliche Strichgesichter verwandelt. Die Erzählung „Wachspüppchen“ von Camilla Grudova etwa führt in eine Welt extremen Mangels. Hier fehlt es an allem: an Wohnraum, Arbeit, Essen, Anerkennung und Wörtern, diese Welt zu begreifen. Da erzählt eine „frau“, ein „mädchen“, vom Zwang, sklavisch in einer Fabrik zu arbeiten und sich einen „MANN“ zu suchen, der bestenfalls ein „Philosoph“ ist und in jeder Hinsicht ausgehalten werden muss. Die Erzählerin ist ein vergleichsweise selbstbewusstes „mädchen“, das ein höchst unselbständiges Männchen in ihre Kammer aufnimmt. Als ein winziges, wächsernes Kind aus dieser Beziehung erwächst, lässt sie es zu, dass die magersüchtige Mitbewohnerin diesen „MANN“ missbraucht, damit das illegale Kind nicht verraten wird. Beängstigend ist die demonstrative Hässlichkeit dieses Un-orts, weil er als radikale, groteske Zuspitzung gegebener, von massenhafter Verarmung bedrohter Verhältnisse gelesen werden kann. Auch Johannes von Dassels Erzählung „Doitsugoi Fuckboy“ zeigt brutale Beziehungen, in der Sex eine Ware und Missbrauch ein Kavaliersdelikt sind. Dass seine zentrale Figur namens Cosimo, der sein Kunststudium als Stricher finanziert, am Schluss den Barmann Ezra trifft, dessen Name nicht zufällig „Hilfe“ bedeutet, ist ein Happy End, das dem Text geradezu aufgezwungen wird. Untergangs- und Rettungssehnsucht scheinen hier nah beieinander zu liegen. Warum so gewollt? Formal und inhaltlich schlüssiger ist Fleur Jaeggis dichter Text: „Ich bin der Bruder von XX“. Im Stream of Consciousness erzählt ein junger Mann von seiner mit Schlaftabletten sedierten Kindheit, von Missbrauch durch die ältere Schwester, von seiner Unfähigkeit, den Anforderungen des Erwerbslebens zu entsprechen, von seinem Verschwinden. Es liest sich wie eine aus heutiger Wohlstandsverwahrlosung abgeleitete Variation auf Rückerts und Mahlers Lied: „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, das ja auch ein Lied der Selbstfindung in der Kunst ist. Das kann nur Literatur: Worte für die Pathologien des Selbst schaffen, für die innere Welt einer Person, der sich eine Reportage, wäre diese Person eine reale, höchstens annähern könnte.

Wer ins wespennest tritt, kommt selten heil wieder raus. Die 175. Ausgabe der „Zeitschrift für brauchbare texte und bilder“ aber verspricht genau das: „HILFE“ steht auf dem himmelblauen Umschlag des Magazins, auf dem zudem ein großes braunes Pflaster Schutz für offene Wunden anbietet. Der literarische Teil des in Wien erscheinenden, dicht gesetzten, A4-großen Hefts spiegelt auch hier eine Welt, die – mal unterschwellig, mal überdeutlich - von Armut, Ausweglosigkeit, sozialer Kälte und Gewalt geprägt ist. Ein fremdvertraut schillernder Rückblick in frühere (DDR-)Verhältnisse ist Roswitha Harings Erzählung „Die Unterkunft“. Da leistet sich eine dreiköpfige Familie einen Urlaub am See und hockt dann bei Dauerregen zwei Wochen in einem Bungalow ohne Bad, Klo und Küche. Erzählt wird aus der Perspektive der inzwischen wohl erwachsenen Tochter, die diese Tage mit noch immer kindlichem Staunen kapituliert. Den Regen, die Feindlichkeit des Vermieters, die schäbige Unterkunft nimmt sie hin, bis sie in einem Modeheft ein Kleid aus Chiffon entdeckt. Das Verlangen nach der sommerlichen Freiheit, der lässig-romantischen Weiblichkeit des Kleides geht einher mit der Enttäuschung über die Unmöglichkeit, es sich zu eigen zu machen – dem Heft liegt kein Schnittmuster bei! Der Blick in eine andere Welt, soviel ist klar, bleibt unvergessen.

Eindrücklich ist auch „Das Salz der Erde“ von Abbas Salamat, der beschreibt, was jenen Mann aus Gambia, der in „Reportagen“ portraitiert wird, bei einer Flucht über das Mittelmeer erwarten könnte: Streit über den richtigen Ort zum Landen – bis aufs Messer, Orientierungslosigkeit auf dem nächtlichen Meer und im Sprachwirrwarr. Und in welchem Europa würde der Mann ankommen? Nicht unwahrscheinlich, dass er dort auf sehr einsame Menschen trifft, wie sie Uwe Hübner ein paar Seiten weiter darstellt: Da trifft ein Mann eine Frau bei einem Windhundrennen, was auf kürzestem Weg zu beiläufigem Beischlaf, ziellosen Gesprächen und einem brutalen Gewaltausbruch führt, der mit keinem Pflaster zu kitten ist.

Der essayistische Teil der „wespennest“-Ausgabe aber sucht gerade angesichts der brüchigen Zeiten nach Formen und Wegen von Hilfe, Solidarität, Verantwortung und Hoffnung. Einfache Lösungen bietet das Dossier zum Glück nicht. Der Philosoph Ludger Hagedorn etwa unterscheidet verschiedene Interpretationen des Begriffs „Solidarität“, der seiner Analyse nach „eher explosiv als solide“ ist. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho denkt über den Suizid als Selbsthilfe nach und zeigt, dass die Möglichkeit des Selbstmords auch eine Erweiterung des Handlungsspielraums im Leben bedeuten kann. Stilistisch schillernd und theoretisch beeindruckend ist Hannes Benedetto Pirchers Essay: „Suchbegriff: Barmherzigkeit, christlich.“ Jesus, Brecht, Rilke, Freud, Keynes, Johannes der Täufer, Bloch, Marx, Rorty, Nietzsche und Habermas sind Pirchers (leider ausschließlich männliche) Zeugen für eine „Hermeneutik der Hoffnung“. Emphatisch wirbt der Autor, Grabredner und Schauspieler für eine Besinnung darauf, „ob und wie es uns gelingt, einander Geschichten über uns selbst zu erzählen, die in der Lage sind, uns Mut zu machen, für eine Zukunft und nicht Nichtzukunft der Menschen zu kämpfen, die nach uns kommen“.