Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Nico Bleutge
Copyright: gezett

Nico Bleutge

Nico Bleutge, geb. 1972 in München, lebt in Berlin. Er studierte Germanistik, Allgemeine Rhetorik und Philosophie in Tübingen. Bleutge schreibt als freier Literaturkritiker u. a. für die Süddeutsche Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung. Bei C. H. Beck erschienen seine drei Gedichtbände klare konturen (2006), fallstreifen (2008) und verdecktes gelände (2013). Dieses Jahr wurde er mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet.

Zeitschriftenumschau

Nico Bleutge

Zeitgenossenschaft, meinte Robert Musil einmal, sei ein Begriff für Damenschriftsteller und Journalisten. Mag sein, Musil gab hier allzu schnell einem Ressentiment gegen die „Journaille“ nach, mag sein, es ging ihm nur um eine gute Pointe. So einfach vom Tisch fegen lässt sich die Frage nach der Zeitgenossenschaft jedoch nicht. Im Gegenteil, wer sich durch die jüngsten Ausgaben einiger österreichischer Literaturzeitschriften blättert, der kann fast so etwas wie eine Poetik zeitgenössischen Schreibens entdecken. Vielleicht muss man die Frage bloß richtig formulieren, um ihre literarische Sprengkraft zu erkennen: „Die Frage, wie Literatur, das Schreiben sich zu den Geschehnissen verhalten, was Literatur überhaupt kann oder soll, was das für eine Handlung ist, das Schreiben.“

Die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger fragt so in ihrer Dankesrede zum Erich-Fried-Preis, die in der Zeitschrift kolik abgedruckt ist. Während Elmigers Sprecherin krank in einem Hotelzimmer in Athen liegt und über die Ereignisse des Sommers 2015 nachdenkt, geht ihr ein Gedanke durch den Kopf: „Wie konnte dieses Meer zur gleichen Zeit das so blaue und das so blaue tödliche Meer sein“. In einem Netz feiner Beobachtungen und Reflexionen gibt ihr ein Rubik’s Zauberwürfel eine Idee an die Hand, die Vorstellung, dass alles mit allem zusammenhängt und jede kleinste Veränderung eine Veränderung im gesamten Gefüge bewirkt. Zeitgenossenschaft könnte vor diesem Hintergrund bedeuten, miteinander in Verbindung zu treten oder zur gleichen Zeit etwas zu tun. Wie nebenbei kommt der Sprecherin in ihrem Krankenbett dieser Gedanke. Doch was sie skizziert, sind so etwas wie Grundmomente eines Schreibens als Zeitgenossenschaft: ein Gespür für die Paradoxien und Brüche des Gleichzeitigen und dazu eine Aufmerksamkeit für kleinste Einzelheiten, es mag ein Kiesel sein oder der Rucksack eines geflüchteten Menschen.

Die Frage, wie das blaue Meer zugleich das blaue tödliche sein kann, treibt auch den österreichischen Autor Martin Pollack um – nur zielt sein Blick auf die Schichten der Zeit. „Hat diese Landschaft etwas zu verbergen? Ist sie tatsächlich so unschuldig, so idyllisch, wie es den Anschein hat? Was finden wir, wenn wir hier zu graben beginnen?“, fragt er sich. Seine Schürfungen im Gedächtnis zeigen die Leerstellen und die „kalten Schatten“ der Vergangenheit auf, sie gehen den Zuschliffen und Verfälschungen der Erinnerung nach und machen deutlich, wie sehr Landschaften immer schon versehrt sind. Ein ganzes Buch hat Pollack diesen „kontaminierten Landschaften“ gewidmet. Im jüngsten Heft der Zeitschrift Die Rampe gibt er zwei Beispiele für seine Art der Erinnerungssuche. Nicht die abstrakten Ideen interessieren ihn, nicht die militärischen Pläne, nicht die Staatsaktionen und Herrscherkrönungen, sondern die einzelnen Geschichten: „die einzelnen Menschen, die einzelnen Schicksale, die einzelnen Tode“.

Mit ganzem Einsatz hilft Pollack einem Freund, die Geschichte seines Urgroßvaters zu ergründen, der im Ersten Weltkrieg verschwunden ist. Ein Opfer der Unterdrückung, der „antiukrainischen Exzesse“ und der „österreichischen Willkürjustiz“ gegenüber den Bewohnern Galiziens. Pollack geht in Archive, studiert Akten und Register, streut Zitate von Historikern oder Schriftstellern ein. Behutsam entwickelt er seine Deutungen, deckt Widersprüche auf – und nimmt eine Haltung zu den Geschehnissen ein. Und so, wie er zwischen Recherche und Deutung wechselt, ändert er auch die Form seiner Texte. Je nachdem, um welchen Gegenstand es sich handelt, nähert er sich der Reportage an oder vertraut auf die einfühlende Erzählung. Zu Dorothee Elmigers Sinn für das Einzelne und Gleichzeitige gesellt sich so eine Art historisches Gespür. Gegen Vergessen und Verdrängen. Und mit der Einsicht, ohne die Kenntnis der Vergangenheit lässt sich die Gegenwart gar nicht verstehen: „Man kann nicht über Galizien sprechen, ohne die jetzige Situation der Ukraine zu erwähnen.“

Zu just dieser Ukraine sind in den neuesten Ausgaben der beiden Zeitschriften podium und Literatur und Kritik eigene Dossiers erschienen. Das eine (Literatur und Kritik) hat Martin Pollack gemeinsam mit der ukrainischen Sprachwissenschaftlerin und Übersetzerin Stefaniya Ptashnyk zusammengestellt. Die Ereignisse, die am Kiewer Majdan ihren Anfang nahmen, stellt Pollack fest, sind ebenso wie die Zerrüttungen in der Ukraine wieder aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. So fragt er mit einigen Autorinnen und Autoren nach der momentanen Stimmung in der Ukraine, nach den Veränderungen, die der Krieg im Denken und Fühlen der Menschen bewirkt hat. Die meisten der Autoren sind durch eigene Erlebnisse oder die Erfahrungen Verwandter und Bekannter direkt vom Krieg betroffen. Halyna Kruk verbindet Träume von Bunkern mit Erinnerungsbildern und Werbesprache, während Hryhorij Sementschuk eine Kriegsmetaphorik auf den eigenen Körper anwendet. Bildstark, dann wieder litaneihaft kommen die Texte daher. Ihre ästhetische Grundspannung bringt Pavlo Korobtschuk zur Sprache. Er verwandelt die Paradoxie, reale Verwerfungen in die Bilder eines Gedichts übersetzen zu wollen, in ein seinerseits paradoxes poetisches Sprechen: „seit einem halben Jahr dichte ich nicht, auch dies ist kein Gedicht / vielleicht  bin ich alt und unsensibel geworden / manchmal will ich sogar mein Abendessen anbrüllen“.

Der Literaturwissenschaftler Roman Dubasevych spricht sogar von einer eigenen poetischen Richtung: der „Majdan-Lyrik“. In einem klugen Essay zeigt er, welche historischen und mythologischen Anspielungen in den Texten Verwendung finden. Ebenso vielsträngig sind die literarischen Mittel, die sich die Autoren aus der Tradition holen und mit Ideen aufladen, die an die Ästhetik von SMS-Nachrichten und sozialen Netzwerken erinnern. Aber auch an Rap und Slam Poetry. Es sind lyrische Formen, die einen Teil ihrer Energie aus der Mündlichkeit gewinnen und so möglichst dicht an die Atmosphäre des Krieges heranführen sollen.

Doch diese Poetik der Nähe und Aktualität ist nur eine Möglichkeit. Dass sich die historischen und politischen Schichten der Ukraine auch über Umwege einholen lassen, macht das Dossier aus Prosa und Lyrik deutlich, das die Schriftstellerin Tanja Maljartschuk für die Zeitschrift podium komponiert hat. „Ich habe die Wurzeln der Welt / im Wasser gesehen“, schreibt etwa die junge Dichterin Olena Herasymjuk, „sie gleichen deinen entflochtenen Zöpfen / ihre Vielstimmigkeit dumpf, alarmierend / kein Stein schlägt sie dir aus dem Kopf“. Und Serhij Zhadan knüpft seine poetischen Reflexionen an die Beobachtung eines Vogels: „Ein Vogel verirrt sich nachts ins Zimmer, / will ausbrechen, teilt scharf mit seinen Flügeln die Luft, / entkommt nicht, lässt sich nicht fangen“. Die vielleicht intensivsten Gedichte stammen von dem großen Dichter Wassyl Stus, der wegen seiner Kritik am Sowjetsystem ins berüchtigte Straflager Perm 36 kam, wo er 1985 starb. „Dort ist Stille. Stille ist dort. Trocken und schwarz. / Und Funken sprühen, wo graue Tauben Kreise drehen“. Eine Metaphorik der Dunkelheit und des Affekts durchzieht die Gedichte, ein Ton, der noch stärker die atmosphärischen Wellen und politischen Brüche spürbar macht als jeder direkte Bezug. Sich auf die Gegenwart einzulassen, ohne den Bildern der Oberfläche vorschnell nachzugeben, vielmehr auf Schleifen und Volten, Gedanken, Erinnerungen oder imaginative Spots zu vertrauen. Vielleicht ist es diese Idee, die einer Poetik der Zeitgenossenschaft die nötige Tiefe verleiht.