Leselampe

2025 | KW 20

© Ina Aydogan

Buchempfehlung der Woche

von Luca Kieser

Luca Kieser, 1992 geboren und aufgewachsen in Tübingen lebt heute in Wien. Er studierte Philosophie, Ethik und Sprachkunst in Heidelberg, Leipzig und Wien.
2023 erschien sein Debütroman Weil da war etwas im Wasser (Picus Verlag), der für den Deutschen Buchpreis 2023 und den Anna Haag Preis 2024 nominiert wurde. Ebenfalls im Jahr 2023 erschien sein Lyrik-Debüt manchmal ist eine tragische Liebe bei hochroth münchen. Sein zweiter Roman Pink Elephant (Blessing, 2024) wurde für Books at Berlinale 2025 ausgewählt, und mit mit dem Kranichsteiner Jugendliteraturstipendium 2025 ausgezeichnet.
Seit 2024 ist er im Vorstand des Vereins Vielmehr für Alle!, für den er schon während seines Studiums begonnen hat zu arbeiten.

Maryam Aras
Dinosaurierkind
Essay, Claassen Verlag, Berlin 2025.

Während meines Studiums der Sprachkunst, ließ die Schriftstellerin Esther Dischereit mich einige Semester lang ausschließlich andere Menschen porträtieren. Sie war wohl der Auffassung, ich als quasi Jugendlicher sollte mich ruhig noch mehr mit anderen Lebensrealitäten beschäftigen. Jedenfalls musste ich rasch einsehen, wie beschränkt meine Perspektive war – und blieb. Selbst wenn ich mich einer Person mit aller Hingabe zuwendete, so musste ich doch mindestens im selben Maß über mich nachdenken: Was hatte ich gefragt, was hatte mich interessiert?
Wichtig dabei war, was mir nicht auffiel, was ich nicht verstehen konnte – noch nicht, oder schlimmer, was ich niemals verstehen können würde. Aus der Not heraus begann ich mich in die Porträts hineinzuschreiben, denn es erschien mir wie eine Entlastung, zumindest diese Perspektive offen zu legen, von blinden Flecken wimmelnd.
Ich erinnere mich noch, wie ich meine Professorin nach einigen Semestern fragte, wie kompliziert es wohl sein müsste, die eigenen Eltern zu porträtieren. Allein bei der Vorstellung fühlte ich mich in einen Strudel aus Reflexionen gesogen, der jene blinden Flecken vervielfachte.

Schon allein deshalb war ich schwer beeindruckt, als ich die Ankündigung zu Dinosaurierkind las, irgendwann vergangenen Herbst. Ich kann nicht anders als das, was auf dem Klappentext literarischer Essay genannt wird, als Porträt zu nehmen, das Porträt des Vaters.

Deine Existenz bekam eine plötzliche Kontur,  als ich das erste Mal im Iran war.

So beginnt Maryam Aras und zeichnet ihren Vater, der Anfang der 60er Jahre den Iran verließ, als einer aus einer ganzen Generation geflohener Aktivisten, die ab den späten 1950er-Jahren die Diaspora in Deutschland prägten, die sich und ihre oppositionellen Freunde Dinosaurier nannten, jahrzehntelang in Vereinen organisiert waren und am Ende doch nicht vorkamen in den Büchern über 68. Sie zeichnet ihn als einen Brotmensch, der sich seit seiner Kindheit, wann immer er Brot kauft, sofort einen frischen Bissen in den Mund steckt und andächtig kaut. Sie zeichnet ihn gütig und bescheiden, geerdet und intellektuell. Sie zeichnet ihn nach innen gekehrt, zeichnet ihn zärtlich in einem schwarzen Lederblouson, in dessen Kragen sie ihr Kindergesicht vergräbt, wann immer ihr die Welt zu viel wurde.
Sich selbst zeichnet sie als Dinosaurierkind, als eine, die an seiner Stelle in den Iran fliegt, die in Köln aufwächst und es als Spiel nimmt, das Kopftuch beim Fotografen. Deren Verständnis für seine politischen Positionen und seine Positionierung verschiedene Stadien durchläuft. Die wie er in jungen Jahren boxt, die über Politics of Madḥ in Modern Iran promoviert. Die nicht nur, aber auch deshalb immer wieder mit ihm über seine politische Arbeit spricht und einfach nicht hinnehmen will, weshalb er in der Geschichte, die er doch so mitgeprägt hat, nicht vorkommt.

Ihr habt euch immer selbst genügt, bis heute. Aber uns, den Dinosaurierkindern, genügt das nicht mehr.

Weil wir uns auf der Leipziger Buchmesse, zu der Dinosaurierkind bei Claasen erschienen ist, kurz unterhalten haben, schreibe ich Maryam Aras, als mir nach einer Lesung in einer Heidelberger Buchhandlung das Buch quasi als Teil des Honorars angeboten wird.
„Hast du schon gelesen?“, schreibt sie.
„Bin noch mitten drin“, schreibe ich zurück. „Aber mags gern!!!“
Und das stimmt.
Auch stimmt, dass ich das Buch tagelang mit mir herumtrage, und verunsichert bin. Schnell fallen Namen, die ich durcheinander bringe, und es ist von Dingen die Rede, die ich zwar irgendwann einmal gehört habe, aber was soll ich nachschlagen, was darf ich langsam kennenlernen? Was ist nicht so wichtig?
Dann geschieht etwas, das mich nachdenklich macht.
Es ist Sonntag und wir feiern Ostern, bisschen Sizdahbedar, und eigentlich grillen wir hauptsächlich. Als ich ankomme, lasse ich das Buch irgendwo liegen – und erst einige Stunden später entdecken wir eine Freundin, die sich zurückgezogen hat und in Dinosaurierkind versunken ist.
„Ich bin so richtig reingesogen worden“, sagt sie, als sie aufschaut. „Das passiert mir eigentlich nie.“
Plötzlich geht das Buch reihum, ehrfürchtig wird darin geblättert. Jemand fragt nach den kursiven Stellen, die rechtsbündig zwischen dem Text stehen.
„Das sind Kommentare des Vaters, glaube ich.“
Und der, der das Buch gerade hält, murmelt: „Genial, wie einfach und so schön dabei.“

Ich weiß, was damit gemeint ist, aber verstehen das deine Leser?

Auf dem Heimweg setze ich mich noch in mein Stammcafe und lese davon, wie es Maryam Aras in der Arbeit an ihrer Doktorarbeit unmöglich erschien, in der Analyse eines Propagandafilms eine bestimmte Geste von Kämpfern zu erklären, auf Deutsch auch noch.
Auf wenigen Seiten entfaltet sie dann  eine Art Poetik, die sich eingesteht, dass die Frage, welche Dinge in einem Text erklärt werden, davon abhängt, von welchem Publikum man ausgeht. Eine Poetik, die darum weiß, dass man sich in der deutschen Sprache gleich in Exotisierungen und kolonialer Grammatik bewegt.

Es gab eine Zeit, in der schien es mir, als hätte mein Vater es zu seiner Mission gemacht, manchmal jedenfalls, die koloniale Grammatik besser zu beherrschen als diejenigen, die sie predigten.

Mit dem Bild, wie der Vater an einem Sonntag Nachmittag am Schreibtisch sitzt und die abendliche Sitzung vorbereitet, schreibend, endet dieser Abschnitt – und ich halte plötzlich all die vielen Fäden in Händen, aus denen Dinosaurierkind gewoben ist. Oft geht der eine Faden noch im selben Absatz in einen anderen über, oft verdichten sie sich zu einem Strang, dessen Muster ich nicht zu beschreiben vermag, das ich nur ans Herz legen kann selbst zu lesen.
Ein paar Andeutungen:
Da sind zum Beispiel jene Fäden, die von Maryam Aras’ Kindheit erzählen, von Bijan und seinem kleinen Café mit braunem Teppichboden, dem Libresso.

Er ging mit mir in die Küche, Pistazieneis aus der Kühltruhe kratzen, und diskutierte stundenlang mit meinem Vater und den anderen, während er Zigarette um Zigarette rauchte.

Und da ist jener Erzählstrang, den man vielleicht „Eine Geschichte Irans“ nennen könnte. Er beginnt während der Regierung von Mossadegh und dem Ölembargo. Dann jener coup d’état der USA, der sie gerade einmal 600.000 Dollar kostete, aber fünfundzwanzig Jahre billiges Öl einbrachte …  – eine Geschichte, in deren Hintergrund immer die eine große Frage mitschwingt, was alles vergessen worden ist, aber eigentlich erinnert werden sollte. Und das Rätsel, mindestens genauso groß, wie es wohl gewesen wäre, wenn Maryam Aras’ Vater Iran nicht verlassen hätte.

Wäre sie mit auf die Straße gegangen, 1999, 2005, 2009, 2018, 2022, nein – 1377, 1383, 1388, 1396, 1401, wie furchtlos wäre sie gewesen?

Ein anderer Faden beginnt sehr fein mit einem Textilhändler irgendwo zwischen Azerbaidschan und Ashghabat und führt über eine Flucht nach Tehran, hinein in den bepflanzten Innenhof eines alten Tehraner Carrébaus. Und plötzlich knüpfen die Erzählungen aus der Kindheit des Vaters an: Wie er in seine zu großen Baskets Stoffetzen stopft. Wie er, während draußen die Schlägerbanden des Shahs im Viertel unterwegs sind, mit seinem Vater hinter der verschlossenen Haustür steht, eine uralte Pistole in der Hand. Wie er von einem Lehrer in Cafe Naderi eingeladen wird und er Ahmad Shamlou hört. Und wie er – elf Jahre nach dem Bistohasht-e Mordad – mit 1200 D-Mark das Land verlässt.

Entgegen dem oft bemühten Bild der Oberklassenmigration aus dem Iran kam die Mehrheit der Freunde meines Vaters mit dem Bus und nicht mit dem Flugzeug.

Das ganze Buch ist eine deutsche Geschichte – und die, die in Deutschland spielt, beginnt in München mit einer weißen Semmel am Tag, Vokabeln und Parkett, das zu bohnern ist. Und während sich dann ein Faden nach dem andern einmischt, in welchen die deutsche Chefin einen einfach „Hermann“ nennt, es keine Auberginen gibt, dafür einen grauen Fremdenpass und Studierende, die immerzu Persien sagten und das auch nicht änderten, wenn die iranischen Studierenden selbst vom Iran sprachen, verwandelt sich der ganze Strang in einen, in dem es um die Conföderation Iranischer Studenten/National Union geht. Es entfalten sich die Biografien des großen Dichters SAID, oder auch der sogenannten Eule Mehdi Khanbaba Thrani – und auf einmal sitzt man mit diesem in der JVA Stadelheim und lernt den späteren Anwalt von Andreas Baader kennen.

Sie war Teil der politischen Kultur von 1968, ihre Mitglieder lebten in WGs und Wohnheimen mit anderen Student:innen, saßen mit ihnen in Vorlesungen, Sit-Ins und in der Mensa, lasen und schrieben an den gleichen Ideen. Sie waren in Basisgruppen und auf Bündnistreffen. Sie gingen gemeinsam demonstrieren. Und doch wurden sie vergessen.

Was Maryam Aras in insgesamt dreizehn Kapiteln, einem Prolog und Epilog auffächert, ist viel und ich unterschlage noch mehr. Wenn sich aber plötzlich die vielen Fäden zu jenem Anblick ihres Vaters verbinden, der in Filmaufnahmen einer Protestveranstaltung gegen den Shahbesuch 1967 zu sehen ist, zeigt sich, wie hervorragend Dinosaurierkind gemacht ist. Hier fallen ihre Geschichte, die politische Geschichte ihrer Familie, die Geschichte von Iran und von der Linken zusammen, sind deutsche Geschichte – und Maryam Aras übt zurecht Kritik:

1968 ist kein Schreckensereignis, dem Denkmäler gesetzt werden, es ist ein Mythos. Ein Gründungsnarrativ. Es ist das Initiationsmoment der weißen deutschen Linken.

Man findet in Dinosaurierkind noch viele solcher Momente. Wenn der Vater zum Beispiel am 1. Februar 1979 vor seiner Examensprüfung in Mathematik und Philosophie eine Bäckerei betritt, um sich ein Brötchen zu kaufen, und gleichzeitig auf dem Azadi-Platz fünf Millionen Khomeini huldigen, dann erzählt diese Stelle auch davon, wie leise Maryam Aras vorgeht. Überhaupt könnte man den Text, auf die leisen Momente lesen, das leise Weinen des Vaters nach Bijans Tod, die leise geschlossenen Türen, die Maryam Aras von beiden Seiten ihrer Familie her kennt. Oder auch, wie sie auf leise Art wieder und wieder Stimmen anderer zu Wort kommen lässt:

Die Gedanken zum Schreiben auf Deutsch, die ich eingangs angedeutet habe, gewinnt sie aus Karosh Tahas Was mache ich eigentlich hier? Eine Rechtfertigung, Sinthujan Varatharajahs an alle orte, die hinter uns liegen und Sharon Dodua Otoos Dürfen Schwarze Blumen malen?

Mit Aleida Assmann denkt sie über Orte der Erinnerung nach und beschreibt mit Homi Bhabha das Libresso als einen Dritten Raum.

Mit einem Gedicht von Aria Aber listet sie koloniale Verbrechen der USA nach dem Prinzip des Iranian coup d’état auf.

Von Nava Ebrahimi leiht sie sich das Fremdenfreund aus für Väter, die ihre politischen Freunde über die Familie stellen und nennt Sechzehn Wörter eine Ausnahme der Homecoming-Literatur.

Mit Faribas Vafis Romanen und Kurzgeschichten denkt sie über feministische Literatur nach. Überhaupt ist Dinosaurierkind ein Buch, das bei allem Fokus auf den Vater seine Frauenfiguren nie aus dem Blick verliert, ob Urgroßmutter oder Shoura, wegen der Azzeh Mamans erste Sprache Russisch wird. Oder Azzeh Maman selbst.

Und schließlich SAID, von dem das Dinosaurierkind vorangestellte Zitat stammt, und über den Maryam Aras sagt:

Aus SAIDs Berührt-Sein komme ich.

Nicht nur ist er seit Mitte der 60er Jahre ein Freund ihres Vaters, nicht nur beginnt sie selbst mit ihm Emails zu schreiben, nicht nur ist man mit ihm auch längst in den Kontexten der deutschen Literatur. Auch reiht er sich in ein in diejenigen, die gegangen sind.
Immer wieder beginnen Abschnitte so: Als Bijan starb. Als Azzeh Maman starb.

Du kannst dir nicht aussuchen, wie sehr die Welt dich mitnimmt,
sagte SAID, bevor sie in die Messehalle zurückkehrten.

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