Leselampe

2024 | KW 39

© Stephan Pramme

Buchempfehlung der Woche

von Lea Streisand

Lea Streisand, geboren 1979 in Ost-Berlin, schreibt Kolumnen, Essays, Erzählungen, Romane und ist bekannt für ihre Radio-Eins-Kolumne War schön jewesen beim rbb, die es seit 2014 gibt. Zuletzt ist der Roman Hätt' ich ein Kind (Ullstein, Berlin 2022) erschienen sowie der zusammen mit Michael Bittner und Heiko Werning herausgegebene Band Sind Antisemitisten anwesend? Satiren, Geschichten und Cartoons gegen Judenhass (SATYR Verlag, Berlin 2024)

Steffen Mau
Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt
edition suhrkamp/Suhrkamp Verlag, Berlin 2024

In Vorbereitung auf die Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg hab ich das Neue von Steffen Mau gelesen, Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt. Mau ist ja son bisschen der Stephen Spielberg unter den Soziologen. Ein guter Erzähler liefert sauberes Handwerk und am Ende gibt’s immer ein Happy End. Deswegen liebt ihn das westdeutsche Feuilleton. Das ist kein "Jammerossi", der macht denen, die meinen, der Osten ginge sie nichts an, kein schlechtes Gewissen wie Herr Oschmann, den ich mir dann auch noch mal zu Gemüte geführt habe. Einfach um zu verstehen, worauf sich Mau bezieht (Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Ullstein, 2023).
Für Oschmann ist der Neofaschismus im Osten das Symptom einer unzufriedenen Gesellschaft. Mau dagegen liefert Fakten zu den Gefühlen. Die Zahl, über die ich nicht hinweggekommen bin, ist: 2 % der deutschen Erbschaftssteuer wird im Osten gezahlt. Zwei. Also fast nix. Weil die Leute im Osten nix erben. Meine Familie wurde von den Nazis enteignet, hatte vorher schon nicht viel und das Haus meiner Urgroßeltern in Oranienburg musste meine Großmutter dann zu DDR-Zeiten verkaufen, weil der Unterhalt einfach zu teuer war. Und weil meine Familie ausschließlich aus Künstlern und Intellektuellen bestand, ist da auch nie wieder Geld reingekommen. Brauchten wir ja nicht. War ja für alle gesorgt.

Nun liege ich abends im Bett und heule vor Wut, wie ich so dumm sein konnte, zu denken, man könne von Literatur leben.

Über das eklatante monetäre Ungleichgewicht zwischen Ost und West geht Mau mehr oder weniger nonchalant hinweg, weil lässt sich ja nicht mehr ändern, wird’s keine Mehrheiten für geben, dass der Staat jetzt plötzlich Robin Hood spielt. Is halt so.
Stattdessen macht er den Vorschlag, die Demokratie umzugestalten, mehr direkte Teilhabe an politischen Entscheidungen zu ermöglichen über repräsentative Räte. Müssta selber nachlesen.
Als nächstes hab ich mir Hendrik Bolz vorgenommen, weil auf dessen Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften (Kiepenheuer & Witsch, 2022) in beiden Sachbüchern Bezug genommen wird.
Ein sprachlich reduzierter Drogentrip in die Hölle einer Jugend ohne Erwachsene, ohne Orientierung mitten im Strukturwandel nach der Wende. Der Text ist sehr viel klüger als seine breite Rezeption, die irgendwie immer darauf hinausläuft, dass die Ossis selbst schuld sind. Und wie jedes Drogenbuch ist auch dieser Roman eine Heldengeschichte. Was der wegsteckt. Dass der das überlebt hat! Als eine, die wirklich gar keinen Alkohol verträgt und nie Drogen genommen hat, kann ich da nur staunen. Ich krieg ja schon von Paracetamol Schweißausbrüche.

Die Lektüre aller drei Bücher hat mich gut auf die Wahlergebnisse vorbereitet. Es hat meine Wahrnehmung bestätigt. Die Beiläufigkeit der faschistoiden Trinksprüche in Bolz‘ Roman („Ex oder Jude!“) hat mich eher beruhigt: Ich bin nicht paranoid, sie sind wirklich hinter mir her. Als Jüdin mit sichtbarer Behinderung bin ich das geborene Opfer. Und natürlich ham die nix gegen Juden, es ist eben nur so ein ererbter Reflex. Weil Juden eben auch die perfekten Täter abgeben. Dazu haben wir gerade unser Buch gemacht Sind Antisemitisten anwesend? – Satiren, Geschichten und Comics gegen Judenhass. Hrsg. von Michael Bittner, Heiko Werning und mir im Satyr Verlag. Weil manchmal nur noch eines hilft: trotzdem lachen.

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