Leselampe

2024 | KW 43

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Buchempfehlung der Woche

von Michael Ebmeyer

Michael Ebmeyer lebt als freier Schriftsteller und Literaturübersetzer aus dem Englischen, Spanischen und Katalanischen in Berlin. Als Mitglied der 2024 wieder erwachten Gruppe Fön macht er Texte an Musik (erschienen sind 2 CDs). Seit 2013 agiert Michael Ebmeyer auch als Moderator von Literatur- und Diskussionsveranstaltungen, wobei er manchmal auch dolmetscht. Zusammen mit Daniela Dröscher organisierte und moderierte er 2020 und 2021 in Berlin die Veranstaltungsreihe „Let’s talk about class“. Zuletzt erschien 2023 Michael Ebmeyers Essay "Nonbinär ist die Rettung. Ein Plädoyer für subversives Denken" in der Buchreihe "Update Gesellschaft" (Carl-Auer Verlag).

Temur Babluani
Sonne, Mond und Kornfeld
Roman, Aus dem Georgischen von Rachel Gratzfeld, Voland & Quist, Dresden/Leipzig/Berlin 2023.

Tbilissi, Georgien, 1968: Der 17-jährige Dschude Andronikaschwili, ein armer Schlucker, Sohn eines Flickschusters, lässt sich einen Mord im Bandenmilieu in die Schuhe schieben. Dahinter steht ein Deal: Dschude geht in den Knast, wird aber wegen guter Führung und wegen guter Drähte der Gangster in den sowjetischen Justizapparat nach wenigen Jahren entlassen und erhält für das Opfer, das er gebracht hat, eine fette Prämie. Doch die Sache läuft katastrophal schief …

Ach nein, wenn ich meinen Text über dieses Wunder von einem Buch so beginne, klingt es nach einer Art Mafiaroman. Andererseits ja, das ist Sonne, Mond und Kornfeld vielleicht auch, aber eben noch vieles, vieles andere. Angefangen bei der eigensinnig zarten und unverfrorenen Liebesgeschichte zwischen Dschude und Manuschaka, Tochter eines Frisörs. Oder bei den lakonischen, gerade in ihrer beiläufigen Sinnlichkeit besonders eindrücklichen Milieuschilderungen aus Tbilissi.

Doch bald schon muss Dschude die Geliebte und die Stadt weit hinter sich lassen – für eine Odyssee durch die Straflager der Breschnew-UdSSR, einschließlich mehrerer Ausbrüche und neuerlicher Verhaftungen und einer Menge an großartigen Plot-Twists, mit der die meisten Autor*innen für ihr Gesamtwerk auskommen würden. Zwischendurch mal eben eine Fluchtepisode durch sibirische Wildnis, so packend-atmosphärisch, dass sie es mit den legendären Taiga-Romanen von Grigori Fedossejew aufnehmen kann.

Und auch als Dschude die Gefangenschaft offiziell hinter sich hat, ist seine Irrfahrt noch nicht vorbei. Er ist ein Antiheld, dem nichts erspart bleibt. Stoisch in seinem Unglück, findig und doch kein bisschen gerissen, unerschütterlich freundlich selbst dann noch, als er tatsächlich zum Mörder wird. Und nicht zu beirren in seiner Liebe zu Manuschaka, egal wie viele Jahrzehnte er sie nicht mehr gesehen hat und was er zwischendurch über sie erfährt.

Um ihn herum ein episches Gewimmel von Nebenfiguren, jede einzelne von ihnen so plastisch wie die wechselnden Schauplätze der Handlung und wie das Leben selbst. Sonne, Mond und Kornfeld ist ein Riemen von weit über 500 Seiten, doch mit einem fiebrigen Schwung erzählt, der an keiner Stelle nachlässt. Ein Leserausch wie ich ihn lange nicht mehr erlebt habe.

Und wie es sich für eine Odyssee gehört, kehrt Dschude am Ende tatsächlich nach Tbilissi zurück. Die UdSSR ist längst Geschichte, wir befinden uns im 21. Jahrhundert, und das ewig aufgeschobene Glück scheint auf ihn zu warten. Aber wer wäre ich, würde ich verraten, wie die Geschichte ausgeht?

Temur Babluani, bisher vor allem als Regisseur bekannt – mit Die Sonne der Wachenden gewann er bei der Berlinale 1993 den Silbernen Bären –, legt mit Sonne, Mond und Kornfeld im Rentenalter sein Romandebüt vor. Und er macht uns alle platt. Gepriesen sei auch die Übersetzung von Rachel Gratzfeld, die diesen Kosmos souverän-spielerisch für ein deutschsprachiges Publikum erschließt und dabei zum Glück nicht darauf verzichtet, ihm eine leichte und sehr charmante schweizerdeutsche Färbung zu geben.

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