von Peter Fuschelberger
Peter Fuschelberger studierte Linguistik, Germanistik und Romanistik in Salzburg und Reims. Er arbeitet seit 30 Jahren als Vermittler im Literaturhaus Salzburg, vorwiegend für und mit jungen Menschen.
Dirk Reinhardt
No Alternative
Roman, Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2024.
Obgleich der anthropogene Anteil an der Erderwärmung seit den 1980er Jahren wissenschaftlich nachgewiesen wird, wurde dieses Phänomen in der Belletristik bislang weniger thematisiert als in der originären Jugendliteratur, die sich (auch!) in ihren Marketingstrategien an Fragen, Emotionen und Bedürfnissen ihrer Zielgruppen zu orientieren versucht: Drohende oder bereits eingetretene ökologischen Katastrophen sind hier schon länger präsent.
Bücher, in denen Erderhitzung, Naturzerstörung und Artensterben Teil des Settings bzw. narratives Vehikel sind, werden u.a. mit der noch jungen (mittlerweile auch retrospektiven) Genrebezeichnung CLIMATE FICTION etikettiert. Obwohl – oder gerade weil – wir von einer Anlehnung des Begriffs CLIMATE FICTION an die tradierte Genrebezeichnung SCIENCE FICTION ausgehen dürfen, ist er eine semantische Überlegung wert:
In der SCIENCE FICTION wird grosso modo vom jeweils gegenwärtigen technisch-naturwissenschaftlichen Stand weitergesponnen, wohin sich die Technik und damit das menschliche Leben entwickeln könnten. Selten war dabei die Wissenschaft per se ideologischen Interpretationen ausgesetzt – oder wurde gar negiert. Erst die von technischen Fakten ausgehende Fiktion, die imaginierten Extrapolationen hinsichtlich Gesellschaft und individueller Schicksale, ob Eu- oder Dystopien, Horrorszenarien oder strahlender Zukunftsoptimismus, boten Anlass zum polyvalenten – philosophischen, politischen etc. – Diskurs.
Anders in der CLIMATE FICTION. Das Klima und dessen durch uns mitverursachte Veränderung sind ein ideologisches Kampffeld. Trotz wissenschaftlich fundiert prognostiziertem Fortschreiten der Erderwärmung unterliegen nicht nur die fiktiven (narrativen) Spekulationen über deren Folgen heftigen Auseinandersetzungen, sondern der erste Teil des Kompositums könnte insinuieren, was ohnehin noch deklamiert wird: Der Klimawandel selbst sei Fiktion.
Vielleicht fließen aus diesem Grund in Erzählungen mit gesellschaftlich-politischem Kontext zum Klimawandel häufig Belege aus nichtfiktionalen Quellen ein, vielleicht stärkt das Anführen von außerliterarischen exakten Fakten den (fiktiven aktivistischen) Protagonist*innen im thunbergschen Sinn den Rücken:
In Parts Per Million (Fischer Tor, 2024) bspw. überschreibt Theresa Hannig die Kapitel mit „echten” Headlines, deren Provenienz sie im Anhang auflistet. (Als ein Beispiel von 37 Kapitelüberschriften: „Zahlreiche Hitzerekorde im pazifischen Nordwesten und im Westen Kanadas gebrochen.” The Washington Post, 15. 05. 2023). Eine 40-jährige Ich-Erzählerin, von Beruf Autorin, besucht ein Camp mit vorwiegend jungen Klima-Aktivist*innen, um über sie ein Buch zu schreiben. Hautnah erleben wir das Vorbereiten von Aktionen, die Diskussionen und die Scharmützel mit der Polizei mit.
Auch Dirk Reinhardt verankert klimabezogene Fakten im Manifest der Aktivist*innengruppe No Alternative, die im Mittelpunkt seines Jugendromans steht und der ebenfalls ein realistisches Szenario (in einer nahen Zukunft?) entwirft. Die wissenschaftlichen Daten in diesem Manifest, einem grafisch signifikant von den restlichen Erzählsträngen abgehobenen Text im Text, werden von den (fiktiven) Manifest-Autor*innen sarkastisch kommentiert:
„Heute hat die Sonne geschienen. […] Wir konnten an diesem einen Tag mehr fossile Brennstoffe verfeuern, als unser Planet sie mit kräftiger Mithilfe der Sonne in 1000 Jahren Erdgeschichte entstehen ließ. [...] Auf diese Weise steigerten wir die weltweite Durchschnittstemperatur wie an den Tagen zuvor auch heute wieder um 0,00005 Grad Celsius. Die polaren Eiskappen, die uns den freien Blick auf Nord- und Südpol verstellen, schmolzen um 1,5 Millionen Kubikmeter. Durch die Erwärmung hervorgerufen, kam es zu fünf Naturkatastrophen, die etwa zwei- bis dreitausend Menschen und ungezählte andere Geschöpfe das Leben kosteten – glücklicherweise in entlegenen und wenig bekannten Regionen des Planeten.” (S. 41f)
Dirk Reinhardt listet keine Quellen für die Zahlen und Fakten in diesem Manifest auf, sie sind ohnehin in offiziellen Klimaberichten nachlesbar. (Vgl. z.B. https://www.ipcc.ch/reports/)
Die Protagonistin Emma Larsen hat sich der Gruppe No Alternative angeschlossen, nicht (nur), weil deren Manifest sie überzeugte. Sie will nicht länger zusehen, dass Politik und Konzerne viel zu wenig für den Schutz von Leben und Umwelt tun. Emma hatte sich vor der Erzählgegenwart mit ihrem Freund Patrick in ein Pharma-Unternehmen eingeschleust, um Tierversuche aufzudecken. Bei einer Flucht war Patrick ums Leben gekommen.
Als Mitglied in einer der Zellen von No Alternative erfahren wir aus Sicht der personal erzählten Emma intensiv von den Gefühlen, Gedanken und Spannungen innerhalb der Gruppe, am meisten natürlich über Emma selbst.
Bei Theresa Hannig wie bei Dirk Reinhardt ist der Konflikt der Hauptfiguren zwischen legalem und moralisch richtigem Verhalten wesentliches Momentum. Nicht von ungefähr legt Dirk Reinhardt seiner Protagonistin Worte von Sophie Scholl in den Mund. In einer Talkshow, zu der Emma als Klima-Aktivistin eingeladen ist, sagt sie:
„Wissen Sie, was Sophie Scholl gesagt hat? […] Sie hat gesagt: Ein jeder ist schuldig. Und um selbst keine Schuld zu haben, muss man etwas machen.” (S. 22)
Die Zelle, in der Emma mitwirkt, führt die ca. 26-jährige Valerie, an. Sie zitiert zuweilen Ulrike Meinhof, distanziert sich jedoch von deren Gewaltbereitschaft. Aufschlussreich (und gerade für ein Jugendbuch besonders wichtig) erklärt der Autor am Ende des Buchs alle Zitate und ihre Herkunft.
Emmas Geschichte wird aus einer zweiten Perspektive von einem jungen Mann namens Finn erzählt, der dieselbe Schule wie Emma besuchte und mit ihr in der Theatergruppe war. Als Praktikant bei einem großen Nachrichtenmagazin recherchiert er für einen Artikel über die junge, von der Polizei gesuchte Aktivistin.
Wie oft im Jugendbuch wird aus den Sicht-, Denk- und Fühlweisen zweier Hauptfiguren erzählt. Die einzelnen Kapitel tragen alternierend die Vornamen Emma und Finn als schlichte Überschriften. Dazwischen, wie erwähnt, grafisch abgehoben und punktuell eingeschoben, das Manifest.
Dirk Reinhardt ist ein guter Erzähler, der für seine Inhalte fundiert recherchiert und sie sensibel und mit viel Empathie für seine (jugendlichen) Leser*innen aufbereitet. Seine klare, sich keinem Jugendjargon anbiedernde Sprache, hat literarische Qualität. In Veranstaltungen – ein wesentlicher Aspekt bei uns in den Literaturhäusern – präsentiert Dirk Reinhardt seine Bücher dem Publikum gleichermaßen ernsthaft wie mitreißend, interessant und authentisch.
Den „pädagogische Touch”, der seit jeher der Jugendliteratur anhaftet, sehe ich nach 30 Jahren Vermittlungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Pädagog*innen viel positiver als früher. Überlegt konstruierte, altersgemäße Erzählungen, die unterschiedliche Verhalten und Weltsichten einzelner Figuren vermitteln, regen junge Menschen zum (idealerweise kritischen) Reflektieren an. Die Gedanken, Gefühle und Handlungen, die inneren und äußeren Konflikte einzelner Charaktere bieten den Leser*innen Reibeflächen, Wissenstransfer, Identifikationsmöglichkeiten und Trost. Neben Emma, Finn und Valerie sind hier Finns Tante, die die Chefredakteurin des bekannten Printmediums ist, Emmas Großvater und Emmas Adoptivmutter, die Professorin für Umweltethik ist, anzuführen, die für unterschiedliche Ansichten und Zugänge stehen.
Bei der Ankündigung der Veranstaltungen zu No Alternative für Schulklassen im Jungen Literaturhaus Salzburg habe ich für Lehrkräfte vermerkt: Fächerübergreifend einsetzbar in Ethik, Psychologie, Politischer Bildung und Deutsch. Unterrichtsmaterial ist von der Homepage des Gerstenberg Verlags abrufbar.
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