Natürlich hat der Kriminalroman-Autor etwas zur Krimistadt Münster machen wollen. Begleitet von Fotos im Edgar-Wallace-Schwarzweiß kann auf den Spuren von “Wilsberg” und den Tatort-Kommissaren gewandelt werden. Ein alter Kriminalfall wird beleuchtet und man erfährt wie Jürgen Kehrer zum Krimiautor wurde.
Jürgen Kehrer
»Münster kriminell – ein Altstadtspaziergang«
Fotos: Sarah Koska
Als ich 1974 von der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze nach Münster verschickt wurde, hatte ich keine Ahnung, wo ich gelandet war. Im Ruhrgebiet, meiner ersten Heimat, sahen alle Innenstädte gleich aus und Vorlieben für Fußballvereine hatten eine größere Bedeutung als Stadtgrenzen. (Mein Verein hieß übrigens Rot-Weiß Essen, in deren Mannschaft „Ente“ Lippens die gegnerischen Verteidiger schwindelig spielte.)
Münster, das ließ sich auch von einem jungen, an städtischen Zusammenhängen wenig interessierten Studenten nicht übersehen, war anders: An seiner Stadtgrenze fing nicht gleich die nächste Stadt an und in seiner Mitte standen keine Kaufhaus-Betonklötze, sondern Gebäude, die offenbar nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg entworfen worden waren, und die zudem an Straßen standen, die ungewöhnlicherweise nicht vierspurig und schnurgerade verliefen. Trotzdem dauerte es ein paar Jahre, bis ich mich in Münster heimisch fühlte. Und noch ein paar Jahre länger, bis ich mich für Münsters Geschichte, speziell ihre gewalttätige Seite, zu interessieren begann. Von den realen Verbrechen kam ich irgendwann zu den fiktiven: Ich wurde Krimiautor. Und viele der Orte, die dabei eine Rolle spielten, liegen entlang eines nicht allzu langen Fußwegs, der am Prinzipalmarkt, Münsters Prachtstraße, beginnt und dort auch wieder endet.
Knipperdolling
1980, ich hatte mein Studium gerade beendet, landete ich bei einem „alternativen Zeitungsprojekt“ (so nannte man das damals), das monatlich erschien und „Knipperdolling“ hieß. Bernd Knipperdolling, ein reicher Tuchhändler, lebte im Münster des 16. Jahrhunderts, sein Haus stand am Prinzipalmarkt, im Schatten der Lambertikirche. Und er war einer der Anführer der Wiedertäufer, die 1534 den katholischen Bischof von Münster entmachteten.
Von der Studentenbewegung und ihren politischen Nachwehen sozialisiert, bewunderten wir die Wiedertäufer als Revolutionäre. Nicht nur, weil sie den Obrigkeiten und ihren vor den Stadtmauern stehenden Heeren fünfzehn Monate lang getrotzt hatten, sondern auch wegen der Einführung einer Art von Gemeinschaftseigentum. Ein früher Kommunismus sozusagen, wenn auch religiös motiviert, schließlich zählten sich die Wiedertäufer zu den Auserwählten, die der baldigen Wiederkehr des Messias entgegenfieberten.
Mit Bernd Knipperdolling wähnten wir linken Zeitungsmacher uns auf der richtigen Seite – gegen das schwarze, katholische Münster der Honoratioren. Und die Gegenseite nahm die Herausforderung an: Mehrfach wurden unsere Redaktionsräume von der Polizei durchsucht (mit mäßigem Erfolg). Offiziell genossen wir einen ähnlich schlechten Ruf wie die historischen Wiedertäufer, die vom Oberbürgermeister gerne mit den Nazis verglichen wurden; zusammen hätten beide Bewegungen für die dunkelsten Kapitel in Münsters Geschichte gesorgt, sagte das Stadtoberhaupt regelmäßig bei seinen Grußworten vor auswärtigen Besuchern.
Mit dem Abstand von einigen Jahrzehnten und angehäufter Lebenserfahrung gebe ich zu, dass wir uns die Täuferzeit schöner malten, als sie tatsächlich war. Wie bei allen halbwegs gelungenen Revolutionen verwandelten sich die guten Ideen und hehren Vorsätze bald in die Herrschaft und die Privilegien einer kleinen Clique. So lebte Jan van Leiden, der selbsternannte König von Münster, mit seinen sechzehn Ehefrauen und seinem Hofstaat in relativem Luxus, während das gemeine Wiedertäufer-Volk unter der Belagerung der bischöflichen Truppen Hunger litt. Bernd Knipperdolling, der frühere Bürgermeister, fungierte als Statthalter des Königs. Zu seiner Ehrenrettung sei immerhin angemerkt, dass er gelegentlich auch den König provozierte und von diesem dafür in Ketten gelegt wurde.
Am Ende, nachdem das bischöfliche Heer Münster erobert und fast alle männlichen Wiedertäufer getötet hatte, traf den König und seinen Statthalter dasselbe Schicksal: Gemeinsam mit einem dritten prominenten Täufer, Bernd Krechting, wurden Jan van Leiden und Bernd Knipperdolling auf dem Prinzipalmarkt mit glühenden Zangen zu Tode gefoltert. Anschließend legte man ihre Leichen in eiserne Körbe und hängte diese als weithin sichtbare Warnung an „unruhige Geister“ am Turm der Lambertikirche auf.
Dort hängen die originalen Körbe noch heute. Eines der Wahrzeichen Münsters ist ein Galgen. An Bernd Knipperdolling erinnert nur eine schlichte Tafel auf dem Bürgersteig vor seinem ehemaligen Haus, unterhalb des Lambertiturms. So richtig Frieden hat Münster mit den Wiedertäufern bisher nicht geschlossen. Den gedruckten „Knipperdolling“ stellten wir Ende 1981 ein. Wir wurden kommerzieller und journalistischer und auch ein bisschen seriöser. Fortan nannten wir unser Magazin „Stadtblatt“.
Antiquariat Solder
Frauenstr. 49/50
Kiepenkerl
Spiekerhof 47
Überwasserkirche
Überwasserkirchplatz 4
Antiquariat Wilsberg / Solder
Folgt man, von der Lambertikirche aus, der Grenze der ersten Besiedlung Münsters, geht also den Roggenmarkt, die Bogenstraße und den Spiekerhof hinunter, so steht man nach rund dreihundert Metern vor einem weiteren Wahrzeichen Münsters, der Bronzestatue des Kiepenkerls. Der Kiepenkerl soll uns hier aber nicht weiter beschäftigen, stattdessen steigen wir auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein paar Treppenstufen zum Ufer der Aa hinunter. Die Aa als Fluss zu bezeichnen, ist eine maßlose Übertreibung, dass es doch immer wieder geschieht, liegt zweifellos an mangelnden Alternativen: In Münsters Innenstadt fließt kein anderes natürliches Gewässer.
Nach etwa hundert Metern Fußweg entlang der Aa steigen wir auch schon wieder die Treppe hinauf, wenden uns nach rechts, zur Überwasserkirche, und sehen bald darauf das wohl bekannteste Antiquariat Deutschlands. 51 Wochen im Jahr heißt es Antiquariat Solder, zwei Wochen lang, nämlich immer dann, wenn sich ein Filmteam in Münster aufhält, firmiert es unter dem Namen „Wilsberg“.
Daran, dass das „Antiquariat Solder“ zu einer münsterschen Touristenattraktion geworden ist, bin ich nicht ganz unschuldig. Während meiner Journalistenzeit beim „Stadtblatt“, in der ich nicht nur historische münstersche Kriminalfälle recherchierte, sondern auch ab und zu Strafprozesse vor dem Landgericht verfolgte, fing ich an, Kriminalromane zu schreiben. Doch es brauchte mehrere (vergebliche) Versuche und schließlich einen weiten Abstand von Münster (am Ufer des Toten Meers in Israel), bis ich die Figur erfand, die heute (fast) alle Fernsehzuschauer kennen: Georg Wilsberg, Privatdetektiv und Antiquar.
Ich gebe zu, anfangs hielt ich Münster für zu bieder und harmlos, um hier eine Krimiserie anzusiedeln. Den Boom der Regionalkrimis gab es noch nicht und auch nach meinen eigenen Lesevorlieben hatte ein ernstzunehmender Kriminalroman mindestens in einer Metropole zu spielen. Dummerweise konnte ich mit meinen entsprechenden Schreibversuchen keinen Verlag begeistern, das gelang mir erst mit Georg Wilsberg. Im Nachhinein ziemlich logisch, denn Wilsberg hat das, was meinen frühen Figuren fehlte: Authentizität. Er ist eben ein typischer Münsteraner. (Hier muss ich einen kleinen Exkurs zum Thema „typischer Münsteraner“ einschieben. Davon gibt es nämlich zwei Grundtypen, die jeweils ungefähr zur Hälfte die Stadtbevölkerung ausmachen. Da sind – auf der einen Seite – die alteingesessenen Münsteraner, die sogenannten „Paohlbürger“, mit denen man den berühmten Sack Salz essen muss, bevor sie Neubürger akzeptieren. Und da sind – auf der anderen Seite – eben jene Hinzugezogenen, die durch Studium, Beruf oder Liebe in der Domstadt gelandet sind und hier nicht mehr wegwollen. „Münster klebt“, lautet ein häufig zitierter Spruch. Exkurs Ende.)
Georg Wilsberg jedenfalls ist wie ich zum Studium nach Münster gekommen und hier hängengeblieben. Wir sind ungefähr im selben Alter und arbeiten nicht in dem Beruf, den wir mal gelernt haben. Damit hören die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf, ich bin nämlich Diplom-Pädagoge, während Wilsberg Jura studiert hat. Wegen einer beruflichen Verfehlung musste er irgendwann die Juristerei aufgeben, und da ihm das Privatdetektiv-Gewerbe zu unsicher erschien, betreibt er nebenbei noch einen kleinen Laden. In meinen ersten Romanen handelt es sich dabei um ein Briefmarken- und Münzgeschäft, in den Filmen wurde daraus ein Antiquariat.
1990 erschien der erste Wilsberg-Roman „Und die Toten lässt man ruhen“, dem 17 weitere folgten. 1995 sendete das ZDF die Verfilmung dieses ersten Romans, mit Joachim Król in der Hauptrolle. Seit 1998 spielt Leonard Lansink den Wilsberg – in mittlerweile über vierzig Fernsehfilmen, ein Ende ist (glücklicherweise) noch nicht abzusehen.
Seit Beginn der Fernseh-Reihe kann sich der echte Antiquar, Michael Solder, über fehlendes Publikumsinteresse nicht beklagen. Allerdings wollen die wenigsten „Kunden“, die vor allem am Wochenende seinen Laden stürmen, tatsächlich etwas kaufen. Den allermeisten genügt ein Blick auf die Regale, begleitet von dem mit enttäuschtem Unterton geäußerten Kommentar: „Das ist ja viel kleiner als im Fernsehen.“
Polizeipräsidium
Wir folgen der Frauenstraße etwa 50 Meter Richtung Schloss und biegen dann links ab in den Krummen Timpen. Der Krumme Timpen führt mitten durchs Universitätsviertel und stößt nach gut 300 Metern auf die Straße Bispinghof. Auch hier befinden sich Universitätsgebäude. Durch den Torbogen eines rot geklinkerten, sehr zweckmäßig aussehenden Mehrgeschossers gelangt man in einen gewöhnlichen Hinterhof, einen sehr stinknormal aussehenden Hinterhof. Erst wenn einige Szenen aus Wilsberg-Filmen, die vor einem roten Backsteingebäude spielen, ins Gedächtnis gerufen werden, kommt dem Einen oder der Anderen vielleicht eine Idee. Und ganz genau: Während der Dreharbeiten verwandelt sich die schlichte Hintertreppe in den Eingang zum Polizeipräsidium. Dann stehen auf dem Hinterhof Polizeiwagen, etliche Uniformierte und natürlich auch Kommissarin Springer und ihr Assistent Overbeck gehen die Treppe rauf und runter.
Im Jahr 2002 bekamen Springer und Overbeck einen Kollegen bei der ARD. Seitdem ermittelt Hauptkommissar Frank Thiel, alias Axel Prahl, zusammen mit seinem rechtsmedizinischen Berater, Vermieter und verbalen Sparringspartner Prof. Karl Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) im „Tatort Münster“. Münster entwickelte sich schnell zum erfolgreichsten Standort der „Tatort“-Reihe. Knapp 13 Millionen Zuschauer sahen im März 2013 die Folge „Summ, Summ, Summ“, in der Schlagerstar Roland Kaiser einen Gastauftritt hatte – so viele Menschen schalteten zuletzt 1993 den „Tatort“ ein.
In Münster sind „Wilsberg“ und „Tatort“ sowieso Kult. Dazu tragen nicht zuletzt die öffentlichen Kino-Previews bei. Mehrere tausend Menschen lassen es sich nicht nehmen, die Folgen einige Tage vor der TV-Ausstrahlung auf großen Kinoleinwänden zu sehen. In Anwesenheit der Schauspieler natürlich.
Aber auch das münstersche Stadtmarketing profitiert vom Krimi-Boom. Mit „Krimi-Arrangements“ und „Krimi-Führern“ werden pro Jahr Zehntausende von Besuchern nach Münster gelockt. Nicht nur Münsteraner fragen sich daher, warum die Filmleute das Polizeipräsidium in einem Uni-Hinterhof drehen – und nicht das echte Präsidium am Friesenring verwenden. Oder – wie beim „Tatort Münster“ – das Rechtsmedizinische Institut in einem Studio in Köln nachbauen. Die Antwort ist ganz einfach: Weil dort gearbeitet wird. Man kann während der Dreharbeiten ja nicht die echten Polizisten und Rechtsmediziner in Urlaub schicken, die müssen ihren Job machen.
Außerdem sind die Filmregisseure und -ausstatter ziemlich eigensinnig, schöne Motive bedeuten ihnen mehr als die Realität. Da wird schon mal, wie in den frühen Wilsberg-Filmen, das Amtsgericht zum Rathaus. Oder es existiert in den Filmen ein Café vor dem Schloss, das viele Touristen seither vergeblich gesucht haben. Und manches wird aus Kostengründen gleich in Köln gedreht, dem Sitz der Filmproduktionsfirmen und Wohnort vieler Crew-Mitglieder. Die Innenaufnahmen sowieso, aber auch manche Straßenszenen. Um „Münster-Feeling“ zu suggerieren, radeln dann im Hintergrund einfach Fahrradfahrer auf und ab.
Der Fall Rohrbach
Vom Bispinghof ein paar hundert Meter Richtung Westen – und man steht am Ufer des Aasees. Hier nahm einer der bemerkenswertesten Fälle der bundesrepublikanischen Justizgeschichte – manche Kommentatoren sprachen auch von einem Justizskandal – seinen Anfang.
Am 12. April 1957 entdeckten spielende Kinder zwei große Pakete, die im Ufergebüsch des Aasees dümpelten. Sie öffneten die Verpackungen – und machten eine grausige Entdeckung: die Pakete enthielten eine zerstückelte männliche Leiche, allerdings ohne den Kopf. Trotzdem hatte die Polizei sehr schnell eine Idee, wer der Tote sein könnte, in einem der Behälter befand sich nämlich ein Gürtel mit eingeritztem Namen: Hermann Rohrbach, ein verheirateter Gelegenheitsarbeiter. Als die Polizisten der Witwe, Maria Rohrbach, die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbrachten, reagierte sie merkwürdig kühl, fast unbeteiligt. Und machte sich dadurch verdächtig. Zumal sich bald herausstellte, dass sie einen Geliebten, einen englischen Sergeant, hatte und es häufig zu Streitereien zwischen ihr und Hermann gekommen war. Für die Polizei, später auch die für Staatsanwaltschaft, das Gericht und die Presse gab es nur eine Tatverdächtige: Maria Rohrbach.
Logischerweise wurde Maria Rohrbach wegen Mordes angeklagt, vor Gericht stellte sich dann aber heraus, dass es ein Problem gab: Es fehlten nämlich die Beweise. Maria Rohrbach bestritt, ihren Mann ermordet zu haben, niemand hatte sie bei der Tat beobachtet oder verdächtige Geräusche aus der Wohnung gehört, zudem fanden sich keine Zeugen, die sie beim Transport der Leichenpakete gesehen hatten. Und letztlich blieb trotz intensivster Suche der Kopf von Hermann Rohrbach verschwunden. Doch ohne Beweis keine Verurteilung. Da kam die münstersche Staatsanwaltschaft auf die Idee, den bayerischen Gutachter Prof. Specht zu engagieren, der prompt eine Theorie für den Tod von Hermann Rohrbach lieferte: Maria habe ihren Mann mit dem Rattengift Celiopaste vergiftet. Celiopaste enthält den Giftstoff Thalliumsulfat – und den entdeckte Prof. Specht im Ofenrohr der Rohrbachs. Daraus folgerte er, dass Maria den Kopf ihres Mannes abgetrennt und im Kohleofen verbrannt habe. Das Gericht war überzeugt und verurteilte Maria Rohrbach im April 1958 zu lebenslangem Zuchthaus.
Ein Jahr später, nach einem trockenen Sommer, wurde in einem normalerweise mit Regen-wasser gefüllten Bombentrichter aus dem Zweiten Weltkrieg ein Kopf gefunden. Wie sich herausstellte, handelte es sich um den gar nicht verbrannten Kopf von Hermann Rohrbach. Professor Spechts Theorie brach in sich zusammen. Vor allem, als Maria Rohrbachs Vertei-diger neue Gutachter engagierte, die mittels Messungen herausfanden, dass sich der Thallium-sulfatgehalt im Rohrbachschen Ofenrohr im normalen Bereich bewegte, in hundert Rußpro-ben aus münsterschen Haushalten ließ sich eine ähnliche Giftkonzentration feststellen. Auch in anderen Punkten war Prof. Spechts Gutachten total unwissenschaftlich und spekulativ gewesen.
Trotzdem dauerte es zwei weitere Jahre, bis es zu einem Wiederaufnahmeverfahren kam. 1961 wurde Maria Rohrbach „aus Mangel an Beweisen“ freigesprochen, sie hatte über vier Jahre im Gefängnis gesessen.
Als ich mich Jahrzehnte später mit dem Fall Rohrbach beschäftigte, stellte ich fest, dass die Seltsamkeiten auch nach dem Freispruch Maria Rohrbachs nicht aufgehört hatten. So nahm die Kriminalpolizei keine neuen Ermittlungen auf, obwohl durchaus Spuren und Verdachts-momente existierten, die in andere Richtungen wiesen. Hermann Rohrbach verkehrte nämlich in homosexuellen Kreisen und wenige Wochen vor seinem Tod war einer seiner Freunde mit abgetrenntem Kopf im Dortmund-Ems-Kanal gefunden worden. Ein Badeunfall, wie die Polizei seinerzeit befand. Zudem hatte bereits im ersten Prozess der als Gutachter bestellte Botanikprofessor Schratz, der den Darminhalt Hermann Rohrbachs untersucht hatte, darauf hingewiesen, dass der von der Polizei angenommene Todeszeitpunkt nicht stimmen könne. Statt der Linsen, die Rohrbach nach den polizeilichen Ermittlungen am heimischen Küchen-tisch zu sich genommen haben sollte, identifizierte Schratz ein Lebensmittel, das im ärmlich-en Rohrbach-Haushalt nicht auf dem Speiseplan stand: Trüffel. Der Botanikprofessor schluss-folgerte, Hermann Rohrbach müsse „später auswärts nochmals gegessen haben“. Und zwar bei jemandem, der sich die teuren Trüffel leisten konnte.
Sogar heute noch, mit dem Abstand von mehr als 50 Jahren, ließe sich der Fall Rohrbach womöglich aufklären. Die moderne Kriminaltechnik macht es möglich, selbst winzigste Spuren auf DNA zu untersuchen und eindeutig zuzuordnen. Doch dazu bräuchte man die damals sichergestellten Beweismittel. Die sind jedoch, wie ich auf meine Nachfrage erfuhr, nicht mehr vorhanden.
Ein paar Jahre nach ihrem Freispruch verliert sich auch die Spur von Maria Rohrbach. Zunächst verkaufte sie ihre „Memoiren“ an eine Illustrierte, dann arbeitete sie nach einem kurzen Klosteraufenthalt als Krankenschwester und Kantinenkellnerin. Als ihr zweiter Mann im Scheidungsprozess behauptete, Maria habe ihm den Mord an Hermann gestanden und versucht, ihn ebenfalls umzubringen, hielt ihn die Polizei für unglaubwürdig. Kurz darauf verließ Maria Rohrbach Deutschland. Es heißt, sie sei in die Schweiz gegangen.
Aegidiimarkt
Aegidiimarkt 1
Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte
Domplatz 10
Der Neubau des Museums wurde am 20.9.2014 eröffnet.
WebseiteDer tote Professor
Über die Aegidiistraße ist man vom Aasee sehr schnell zurück in der Innenstadt, genauer gesagt: am Aegidiimarkt, von dessen oberen Etagen man einen guten Blick nicht nur auf den Neubau des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte, sondern auch auf verschiedene Gebäude der Westfälischen Wilhelms Universität hat.
Spätestens an diesem Zwischenstopp des Spaziergangs wird deutlich, dass Münsters Altstadt sehr übersichtlich, um nicht zu sagen: klein, ist. Gegen Kleingeistigkeit in der 300.000-Einwohner-Stadt sollte eigentlich die Universität, die mit ihren mehr als 40.000 Studenten und über 600 Professoren eine der größten in Deutschland ist, ein Bollwerk bilden. Dachte ich. Doch dann musste ich erfahren, dass sogar ein Sprachwissenschaftler die Freiheit der Literatur sehr eng interpretieren kann. Und das kam so:
In meinem Roman „Wilsberg und der tote Professor“ aus dem Jahr 2002 wird Wilsberg von einer Professorengattin beauftragt, ihren Mann zu beschatten. Die Frau misstraut ihrem Ehemann und möchte, dass Wilsberg herausfindet, ob dieser es mit der ehelichen Treue nicht so ernst nimmt. Wilsberg legt sich in einem leerstehenden Raum im Aegidiimarkt auf die Lauer und beobachtet von dort aus das Büro des Professors im Institut für Sprachwissenschaft. Und tatsächlich gelingen ihm Aufnahmen, die belegen, dass sich der Professor zuerst einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin und dann einer Studentin auf eine Weise genähert hat, die keinerlei akademischen Regeln entspricht. Wilsberg fotografiert jedoch noch mehr, nämlich den Moment, in dem eine Kugel den Professor vom Leben in den Tod befördert. Soweit der Kriminalroman, dem keine wahre Begebenheit zugrunde lag.
Umso erstaunter war ich, als ich ein paar Wochen nach Veröffentlichung des Romans davon Kenntnis erhielt, dass ein Privatdozent den Roman verbieten lassen wollte. Der Privatdozent beantragte eine einstweilige Verfügung, die meinen Verlag zwingen sollte, das Buch vom Markt zu nehmen. Zusätzlich stand eine Schadenersatzforderung im juristischen Raum.
Der Privatdozent hatte sich offenbar mit der auf Seite 11 des Krimis verstorbenen Romanfigur identifiziert. Die Übereinstimmung, die er beklagte, bestand darin, dass beide, sowohl toter Professor wie lebendiger Privatdozent, Spezialisten für Geheimsprachen waren. Damit hörte die Deckungsgleichheit allerdings auch schon auf. Sowohl akademischer Grad wie Aussehen, familiärer Hintergrund und vermutlich Charakter (der des Privatdozenten war mir mangels persönlicher Erfahrung ja unbekannt) differierten.
So sah es dann auch das Landgericht Münster, das über den Fall zu entscheiden hatte: Die einstweilige Verfügung wurde abgewiesen, der Kläger musste die Kosten tragen. Zum Schluss seiner Urteilsbegründung, die ein Plädoyer für die Freiheit der Literatur, speziell der Kriminalliteratur, darstellte, zitierte der vorsitzende Richter einen römischen Gelehrten: „Wenn du geschwiegen hättest, wärest du ein Philosoph geblieben.“
Wie gefährlich ist Münster wirklich?
Durch die Pferdegasse erreichen wir vom Aegidiimarkt aus den Domplatz und dann sind wir auch schon bald wieder auf dem Prinzipalmarkt.
Dass man vom Domplatz aus das spätmittelalterliche Rathaus am Prinzipalmarkt sehen kann, war durchaus die Absicht der aufstrebenden bürgerlichen Stadtgesellschaft, die ihrem Landesherrn, dem am Domplatz residierenden Fürstbischof, mit dem prächtigen Gebäude ihren Reichtum und ihre Selbständigkeit demonstrieren wollte. Im 17. Jahrhundert, rund hundert Jahre nach den Wiedertäufern, wurde in der holzgetäfelten Ratskammer, in der normalerweise der Stadtrat tagte, der spanisch-niederländische Friedensvertrag geschlossen, ein Teilabkommen des „Westfälischen Friedens“, der 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendete. Seitdem heißt die Ratskammer Friedenssaal.
Was mich fast bruchlos zu der Frage bringt, wie friedlich oder gefährlich denn das heutige Münster ist. Zweifellos nicht so kriminell, wie es die beiden Fernseh-Reihen „Wilsberg“ und „Tatort Münster“ sowie die mittlerweile Dutzende von Münster-Krimis in Buchform suggerieren. In der Realität ermittelt im Polizeipräsidium Münster, das in Fällen von Mord und Totschlag nicht nur für Münster, sondern für das gesamte Münsterland zuständig ist, ungefähr zehnmal im Jahr eine Mordkommission. Wenn Hubert Wimber, der Polizeipräsident von Münster, diese Zahl vor ausländischen Polizeioffizieren an der Polizeihochschule Münster-Hiltrup referiert, erntet er oft erstaunte Blicke, vor allem von Polizisten aus Amerika, Afrika und Asien. Manchmal fragt auch einer zurück: „Zehn Mordfälle? Pro Tag oder pro Woche?“ Nein, pro Jahr.
Ist Münster also doch zu friedlich, um als Kulisse für glaubwürdige Krimis zu dienen? Im Mai 2013 saß ich mit einem Fernsehteam, das einen Bericht für ein Kulturmagazin drehte, bei schönem Wetter vor dem Restaurant Stuhlmacher auf dem Prinzipalmarkt. Wir aßen und tranken und wieder einmal stellte der Journalist die ketzerische Frage, ob Münster nicht viel zu bieder und harmlos für eine Krimi-Stadt sei. Gleich darauf hörten wir einen Schuss. Und dann rannte ein Mann mit übers Gesicht gezogener Sturmhaube und gezückter Pistole an uns vorbei. „Das war doch jetzt nicht echt, oder?“, flüsterte der Journalist mit bleichem Gesicht und schaute sich nach der Filmkamera um, die die Szene aufnehmen sollte. Aber da war keine Kamera. Die „Wilsberg“-Crew, die tatsächlich an diesem Tag in Münster drehte, hielt sich ein paar Straßen entfernt auf. Der Mann, der eine Gaspistole abgefeuert hatte und an uns vorbeigelaufen war, hatte zusammen mit einem Komplizen ein Uhrengeschäft auf der anderen Straßenseite überfallen. Die beiden sind bis heute nicht gefasst worden.