Seit der frühesten schriftlichen Überlieferung bildet Klagedichtung – etwa als biblisches Klagelied, Trauergesang, Totenklage, tragisches Bühnenlied oder Elegie – einen Großteil nicht nur der europäischen Literaturgeschichte. Leiden aufgrund von Krankheit, Schmerz, Gewalt, Zerstörung, Verlust oder Tod kommt in klagender Dichtung zur Sprache. Sie kann das Leiden nicht aufheben, aber ein künstlerische Form dafür finden. Was den Lebensmut bricht und nimmt, wird durch poetisches Sprechen mitteilbar und ästhetisch verwandelt. Klageliteratur erlaubt, sich qualvollen Zumutungen zu stellen und Mitgefühl auszubilden, Widerstandskraft und Distanz zu gewinnen. Klagedichtung erhebt Anklage. Sie besingt das Verlorene und stiftet Gemeinschaft. Das zweitägige Programm aus Vorträgen, Lesungen, Performances und Gesprächen widmet sich ihr in weiten Bögen und vielfältigen Stimmen.
Mittwoch, 31. Mai 2023
18:00-18:30 Uhr: Einführung: Poetisches Klagen
Mit Melanie Katz und Asmus Trautsch
Die Kurator*innen der Reihe führen ein: Was verstehen wir unter Klagedichtung? Und wo steht sie heute? Gegenwärtig gibt es nicht weniger Grund, Leid poetisch zum Ausdruck zu bringen als im babylonischen Reich. Doch in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart ist Klagedichtung eher die Ausnahme. Wir laden dazu ein, Texte zu hören, die sich den verschiedenen Formen von politischem wie persönlichem Unheil poetisch öffnen, ohne sich ihm fatalistisch zu überantworten.
18:30-19:30 Uhr: wölkchen, du – Sprechen vom Finden, Sprechen vom Verlieren
Mit Ulrike Draesner
Asmus Trautsch (Moderation)
Klagen sind schrecklich und schön. Sie wurden erfunden, um uns über (eine) Grenze(n) zu tragen. Um uns zu trösten. Und doch zu verstören. Anhand zeitgenössischer Beispiele aus fremden wie eigenen Werken entwickelt Ulrike Draesner eine Poetologie der Klage: Wie eine (Lebens)Erfahrung schreiben? Wie Worte finden für Verlust? Was passiert mit „dem“ Schmerz? Welche Rolle spielt Erinnerung? Tritt in der Klage Dichtung das autofiktionales Genre schlechthin hervor? Wie steht es um den performativen Gehalt, das Klagen als Tun, als Ritus, das Klagen im Kollektiv?
20:00-22:00 Uhr: Deep Lamenting. Ein Streifzug durch Klagedichtungen
Mit Alexander Estis, Birgit Kreipe und Jan Wagner
Melanie Katz und Asmus Trautsch (Moderation)
Historische und aktuelle Texte der internationalen Klagedichtung werden gemeinsam gelesen und diskutiert – von den Ägyptern, Griechen und der jüdischen Tradition seit dem Tenach über mittelalterliche und neuzeitliche Klagelieder, etwa von Gryphius oder Leopardi, bis zu Dichter:innen des 20. Jahrhunderts, die aus der Erfahrung von Genozid, Krieg, Flucht oder Krankheit klagende Poesie schrieben, wie Ilse Weber, Selma Meerbaum-Eisinger, Jiří Orten, Paul Celan, Nelly Sachs, Forugh Farrochzad oder Anne Sexton. Auch aktuelle Stimmen wie Valzhyna Mort, Halyna Kruk oder Ron Winkler kommen zu Gehör – nicht zuletzt Texte von Jan Wagner, Birgit Kreipe und Alexander Estis selbst.