Über die zunehmende Radikalisierung der „bürgerlichen Mitte“ und ein Plädoyer für eine wehrhafte Demokratie.
Der Neonazismus, so Wolfgang Kraushaar, ist längst noch nicht überwunden und stellt die Demokratie vor neue Herausforderungen. Diese werden nur dann zu bestehen sein, wenn sich Staat und Zivilgesellschaft neu positionieren.
„Das ist ein wichtiges Buch. Es betrifft die Freiheit. Die Freiheit in unserem Lande. Wir haben uns nicht befreit. Wir wurden befreit ‒ befreit von einer rechtsextremistischen Diktatur, von einer Verbrecherbande, die Millionen von Menschen weltweit ins Unglück gestürzt hat und einen Rassismus praktiziert hat, der zum millionenfachen Mord geführt hat. Es gab immer das „andere Deutschland“. Das Deutschland nach 1945 hat dieses „andere Deutschland“ wieder zum Leben erweckt. Wir haben eine Demokratie aufgebaut mit einer Verfassung, dem Grundgesetz, wie sie die Deutschen nie zuvor hatten. Sie ist eine Absage an den Obrigkeitsstaat und ihr tragendes sittliches Prinzip ist der Schutz der Menschenwürde. Aber diese Ordnung ist Gefährdungen ausgesetzt. Wir müssen sie verteidigen. Es gibt Kräfte in unserer Gesellschaft, die sich der Demokratie und ihren Spielregeln entfremdet haben. Sie verachten das „System“. Sie wollen es durch autoritäre Strukturen ersetzen. Ihr Nährboden ist die Naziideologie. Die größte Gefährdung unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung geht heute vom Rechtsextremismus aus. Er wurde in der Geschichte der Bundesrepublik oft unterschätzt. Der „Feind stand links“. Man hüte sich, diese rechte Gefährdung durch Hinweise auf andere Bedrohungen der Freiheit zu relativieren oder auch mit dem Hinweis, dass es in anderen Demokratien „rechte Entwicklungen“ gibt, dass dies sozusagen zur „Normalität“ gehört In Deutschland können wir das nicht gelten lassen. Hat man denn nicht begriffen, dass Deutschland vor dem Hintergrund seiner Vergangenheit die Pflicht hat, dieser Normalität mit aller Kraft zu widerstehen. Wer „ein rassistisches Konzept der ethnisch exklusiven Volksgemeinschaft vertritt“, so das Bundesverfassungsgericht, „der handelt verfassungswidrig.“ Das zielt auf Höcke, wenn er sagt „die deutsche Nation werde durch Masseneinwanderung zerstört“. Solche Äußerungen bringen diese Partei in die Nähe der Nazis ‒ und das ist gewollt. Ja, es handelt sich um Verfassungsfeinde, und sie sind nicht in einer Sekte angesiedelt. Sie gewinnen durch Wahlen an Boden. Sie haben das politische Klima in unserem Lande verändert. Ich habe dabei immer im Kopf: In ihrer Geschichte hatten die Deutschen mitunter ein gestörtes Verhältnis zur Freiheit. Sie sind Versuchungen zur Unfreiheit erlegen und haben nie eine erfolgreiche Revolution zustande gebracht. Wie wurde die Freiheitsbewegung von 1848 niedergeknüppelt! Nationalismus war oft stärker als die Verteidigung der Freiheit.
Wir blicken heute auf die rechtsextremistische Partei, die Ängste nicht nur nutzt, sondern schürt. Was da zum Ausdruck kommt, das ist nicht nur von Protest genährt. Der spielt sicher auch eine Rolle, ohne dass allerdings tragfähige Alternativen angeboten werden. Das dominierende Ziel dieser Partei ist jedoch die Bekämpfung der Freiheit des Grundgesetzes immer offener, immer unverhohlener kommt dies zum Ausdruck. Sie bekämpfen unsere Staatlichkeit. Sie diskreditieren die Spielregeln unserer Demokratie, so die Meinungsfreiheit wie sie vielfach z. B. im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zum Ausdruck kommt. Nicht ihre Parteinahme für den Kriegsverbrecher Putin ist verfassungswidrig ‒ sie zeigt nur, was für sie Freiheit bedeutet ‒ sondern die Verachtung unseres Systems. Wer diese Leute wählt, die auch noch vorgeben, im Namen Deutschlands zu sprechen, der weiß genau, was er tut. Er ist mitverantwortlich. Und wer von den demokratischen Parteien sich diesen Forderungen anschließt ‒ und es gab ja solche anbiedernde Versuche ‒ der verrät in der Regel seine Überzeugungen und bleibt erfolglos. Das heißt aber nicht, dass die Demokraten nicht reagieren müssen. Sie müssen überzeugender regieren und die Menschen bei schwerwiegenden Entscheidungen mitnehmen.
Etwas anderes ist noch im hohen Maße besorgniserregend: eine Tendenz, die sich verstärkt. Kraushaar behandelt sie ausführlich in dem Kapitel Radikalisierung der Mitte. Die Gefahr kommt heute, wie der Generalbundesanwalt feststellt, „aus der Mitte der Gesellschaft.“ Die Verfassungsschutzbehörden sehen „die Anschlussfähigkeit rechtsextremer Inhalte an die bürgerliche Mitte“. Die Grenzen verschwimmen. Rechtspopulistische Meinungen, das belegen Untersuchungen seit längerem, sind in bürgerliche Milieus eingedrungen, eine „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ konstatiert Wilhelm Heitmeyer, einen „autoritärer Nationalradikalismus“. Und auf diesem Boden gedeihen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und religiöse Intoleranz. Das ist heute die wirklich akute Gefahr. Ich habe den Eindruck, dass diese Gefahr bisher nicht hinreichend wahrgenommen wird, obwohl die Sicherheitsbehörden ständig warnen. Es fällt ihnen es schwer, diese Entwicklung parteipolitisch zuzuordnen. Sie behandeln sie in gesonderten Kapiteln. Sie ist also schwer zu fassen, und damit noch gefährlicher.
Es zeigen sich hier besorgniserregende Parallelen zu Entwicklungen am Ende der Weimarer Republik. Auch darauf geht Kraushaar ein. Sie ist im Wesentlichen nicht durch die Extremen von links und rechts zerstört worden, sondern durch das Versagen des Bürgertums. Man könnte von einem „Hauch von Weimar“ sprechen, der durch unsere Republik weht, wenn es nicht doch eine Dramatisierung wäre. Aber schon ein Hauch wäre gefährlich angesichts der großen Unsicherheiten, den wachsenden Ängsten, angesichts der Herausforderungen, die auf die Menschen zukommen. Für die Extremisten ist der Ölpreis wichtiger als der Kampf für die Freiheit gegen eine Diktatur, der ein freies Land überfallen hat, das schon einmal Opfer einer Aggression war, einer deutschen.
Man kann sich vorstellen, was diese Kräfte mit der „Freiheit der Kunst“ machen. Das ist nicht weit entfernt von der Diffamierung von Kunst als „entartet“. Das ist Kunstzensur!
Schon gibt es Beispiele in Kommunalparlamenten. Die Menschen lassen sich verführen. In dieser Hinsicht ist das Internet auch eine „Hassmaschine“. Allein, wie das Internet Antisemitismus transportiert, ist schon ein Skandal. Kraushaar lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Situationen des Rechtsextremismus in der Geschichte der Bundesrepublik, die nicht vergessen werden dürfen. Und er tut dies mit großer Sachkenntnis und wissenschaftlicher Sorgfalt. Nur wenn wir die Gefahren wirklich wahrnehmen und benennen, können wir sie auch bekämpfen.- und das war eben nicht immer der Fall. Kraushaar beschreibt das Versagen der Demokratie aber auch deren Erfolge. Wir haben eine wehrhafte Demokratie und die Mehrheit steht zu ihr. Nur muss sie sich von der Vorstellung befreien, die Demokratie bedürfe nicht der permanenten Verteidigung.
Wer sich über die Rolle des Rechtextremismus in unserem Lande orientieren will, der findet in dem Buch fundierte Beschreibungen und Analysen. Aber das ist nicht nur ein Rückblick. Er hilft uns, mit den gegenwärtigen Bedrohungen für unsere Freiheit umzugehen ‒ und sie kommen zu allererst vom offenen und verdeckten Rechtsextremismus ‒ Kraushaar bevorzugt die Bezeichnung Radikalismus. Auch das ist ein interessanter Diskurs im Buch.“
Gerhart Baum