Erhard Stocker, 1951 geboren und in Luzern (Schweiz) wohnhaft, hat 1984 die Übersetzer- und Dolmetscherschule an der Universität Genf abgeschlossen. Danach arbeitete er als freiberuflicher Übersetzer für verschiedene internationale Organisationen. Von 1987 bis 2016 arbeitete er als Übersetzer in der schweizerischen Bundesverwaltung und in der Bundesversammlung. Er schreibt erzählende Prosa und ist Mitglied des Verbandes "Autorinnen und Autoren der Schweiz“ (AdS). 2006 ist mit "Marienseide" sein erster, 2023 mit "Nachtfalters Tagtraum" sein zweiter, 2025 mit "Wodukind" sein dritter Roman erschienen.
MARIENSEIDE (2006) dreht sich um ein traumatisches Kindheitserlebnis des fünfjährigen Beda. In verschiedenen Erzählperspektiven, die sich zunehmend miteinander verweben und zu einem Ganzen fügen, werden die Zusammenhänge eines Unheils entschlüsselt, das seit Bedas früher Kindheit wie ein dunkler Schatten auf ihm liegt. Mit 19 begegnet er Mariena, der Tochter eines Fahrenden. Sie versucht, Licht in diese Dunkelheit zu bringen, denn sie allein besitzt den Schlüssel zu seinem vergessenen Kindheitserlebnis. Doch Beda, Opfer seiner früheren Verdrängungen, verbarrikadiert sich mehr und mehr, denn seine Erinnerungen sind zugedeckt von Scham und vermeintlicher Schuld. Den geschichtlichen Rahmen von „Marienseide“ bildet die Fahrendenverfolgung in der Schweiz.
NACHTFALTERS TAGTRAUM (2023) handelt von einem jungen Wehrmachtssoldaten, der im November 1944 wegen angeblicher Fahnenflucht zum Tod durch Erschiessen verurteilt wird. Er entkommt der Exekution und flüchtet mit einem gefälschten Pass von Österreich in die Schweiz. Hier angekommen, nimmt er wieder seine richtige Identität an, doch die fremde bleibt an ihm haften – in der Gestalt von drei anderen Geflüchteten, die in Zürich seinen Weg kreuzen: ein geistig umnachteter älterer Herr und seine beiden Begleiterinnen, die alle aus Rumänien kommen und mit dem ursprünglichen Inhaber des gefälschten Passes in einer unheilvollen Beziehung stehen. Deren Geschichte führt uns von Czernowitz in der einstigen Donaumonarchie über ein abgeschiedenes Karpatendorf bis in ein Lager in der deutschbesetzten Ukraine, einer der finstersten Winkel Europas im Zweiten Weltkrieg.
WODUKIND (2025) erzählt von einer jungen Frau, die in den späten 1950er Jahren mit einem kleinen Kind aus der Karibik in ihr Dorf zurückkehrt. Niemand weiss, wie sie zu diesem Kind gekommen ist, und als es eines Tages auf mysteriöse Weise verschwindet, begibt sich das aufgeschreckte Dorf auf seine Suche. Dem achtjährigen Kuno wird von diesem Tag ein traumatisches Erlebnis in Erinnerung bleiben; dem 39-jährigen Daniel eine verstörende Liebesnacht mit dieser jungen Frau, die in ihm offenbar jemand anders sieht. Kern dieses novellistischen Romans ist der verzweifelte Versuch, verlorenes Glück zurückzuholen, und ein tragisches Missverständnis, vor dessen Hintergrund sich alles abspielt.