Christoph Bauer

© Renate von Mangoldt

Steckbrief

geboren am: 8.11.1957
gestorben am: 22.6.2017
geboren in: München
gestorben in: Berlin

Vita

Christoph Bauer ist am 22. Juni 2017 in Berlin-Kreuzberg verstorben.

Im Alter von zwei Jahren zog Bauer mit seiner Familie von einem Kaff in Oberbayern nach West-Berlin. Ein halbes Jahr nach seiner Einschulung, Lans-Schule, war die neue Erich-Kästner-Grundschule fertig, und man zog um und machte die Lans-Schule zu, und am Eröffnungstag war kein Geringerer da als Erich Kästner. Kästners Sohn Thomas, ein Junge in Bauers Alter, wurde neben ihn gesetzt, weil Bauer als einziger der versammelten Erstkläßler schon lesen konnte und tatsächlich auch schon Kästners Kinderbücher studiert hatte, er war mithin der einzige halbwegs kompetente Zuhörer im Auditorium, und der alte Kästner stand da mit hochrotem Kopf, behauptet Bauer, der explodiert gleich, so sei er ihm vorgekommen, der kocht ja, gleich platzt er, dachte er angeblich, vor der Klasse und habe eine humorige Rede gehalten, jedenfalls habe er, Kästner, die ganze Zeit über seine eigenen Worte gelacht und abschließend gesagt, er freue sich über die auf seine Kinderbücher zurückgehenden Bilder, mit denen die Kinder zur Feier des Tages die Fenster der Vorderseite der Schule geschmückt hatten, und die übrigens bis heute dort hängen, seit 1964.

Vom 6. bis zum 9. Lebensjahr erhielt Bauer seine Ausbildung zum Fußballer bei Hertha 03 Zehlendorf, auf dem rechten Flügel, Pierre Littbarski auf dem linken (Bauer war, so sagt er, laut Urteil des Trainers und des gesamten Präsidiums der bessere Flügelstürmer); Uwe-Seeler-Fußball-Diplom (Wasa-Knäckebrot) im Alter von acht Jahren, Urkunde ist leider verschollen. Nach einem angeblich allein von ihm bewerkstelligten Kantersieg gegen den BFC Südring (5:1) kündigte er seine Mitgliedschaft bei Hertha 03, weil der Trainer ihn trotz seiner vier Tore gerügt und ihm entgegen des Brauchs, den erfolgreichsten Torschützen besonders auszuzeichnen, nicht eine große, sondern nur eine kleine Faßbrause spendiert hätte. Er wäre nicht fürs Toreschießen zuständig, hätte der Trainer gesagt, sondern fürs Flügelrennen und Flanken schlagen, nicht alles selber machen, sondern bis zur Grundlinie rennen, den Ball dicht am Fuß, dann die präzise Flanke auf die Stirn des Mittelstürmers schlagen, das würde von ihm erwartet. Lächerlich, empört sich Bauer noch heute, denn der Mittelstürmer sei eine Wurst gewesen, man habe ihm tausend noch so präzise Flankenbälle direkt auf den Scheitel servieren können, nicht einen habe dieser verwerten können, sechs Meter vor dem Tor, also sei er natürlich nicht mit dem Ball bis zur Grundlinie gerannt, um eine sinnlose Flanke zu schlagen, sondern sei kurz vor dem Sechzehner zur Mitte abgedreht, habe die Flaschen der Innenverteidigung des BFC Südring kraftvoll und elegant umkurvt - und das Ding dann selber reingemacht, Fußball eben, wie es sich gehöre.

Die Grundschulzeit verlief unspektakulär. In seinem ersten Zeugnis stand, „ ... fühlte er sich zuweilen geistig nicht ausgelastet". Im zweiten hieß es, „Christoph ist ein kritisch eingestellter Junge, der imstande ist, sich klar und gewandt zu äußern", aber auch: „Im Mündlichen liegen seine Leistungen weit über dem Durchschnitt; das könnten sie im Schriftlichen auch, leider läßt Christof hier manchmal Fleiß und Sorgfalt etwas vermissen", eine nicht nachvollziehbare Behauptung, schließlich hatte er ein „gut" in Deutsch. Im dritten Zeugnis stand wieder: „Christophs Neigung gehört dem Unterrichtsgespräch", aber im vierten schrieb dieselbe Lehrerin, Frau Flößner: „Christophs Beteiligung am mündlichen Unterricht schwankt stark zwischen völliger Passivität und befriedigender Mitarbeit. Seine schriftlichen Arbeiten verloren ständig an Umfang, so daß zum Beispiel seine Niederschriften oder Hausarbeiten nur sehr wenig über sein eigentliches Können aussagen". Dieser beklagenswerte Trend hat sich bekanntlich bis heute fortgesetzt.

Nach der vierten Klasse kam er in das entsetzliche „Evangelische Gymnasium zum Grauen Kloster", eine Folteranstalt, so Bauer, er habe mit Federhalter und Tintenfaß in Sütterlinschrift schreiben müssen. Zwei Jahre habe er das ertragen müssen, dann zog die Familie nach Starnberg um, die Eltern hatten genug von Berlin und Heimweh nach Bayern.

Er sei so allerdings vom Regen in die Traufe gekommen: Das Gymnasium Starnberg sei keinen Deut besser gewesen. Nach der achten Klasse flog er aus der Schule, packte seine Sachen und haute mit einem Schulfreund ab nach Berlin. Er habe von allem genug gehabt, sagt er.

Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, zog auf Tennisplätzen die weißen Linien nach, riß Kachelöfen ab, stapelte Kisten bei Aldi, usw. usf., und natürlich, so er, klaute er wie ein Rabe. Nach seinem 18. Geburtstag wurden die Jobs besser, weil er jetzt endlich den Führerschein hatte. Eine Zeit fuhr er Baumaschinen zu Baustellen, dann wurde er Zeitungsfahrer mit seinem Käfer.

Mit neunzehn sei ihm eines Tages ein Buch von Heisenberg in die Hände gekommen, und er beschloß, Physiker zu werden. Er holte kurz entschlossen seine Schulabschlüsse nach, erst den Hauptschulabschluß, eine Art Idiotentest, so Bauer, dann die Mittlere Reife und schließlich das Abitur an Abendschulen, das habe Spaß gemacht. Dann schrieb er sich bei den Physikern an der FU ein und mußte sehr schnell feststellen, daß man dort ganz andere Vorstellungen von Physik hatte als Heisenberg und er selbst. Man habe ihn und seine Kommilitonen gezwungen, alberne Wägelchen schiefe Ebenen hinabsausen zu lassen und die Zeiten zu messen, er habe Bleikügelchen in Rizinusölgläser fallen lassen und wieder die Zeiten messen müssen, stumpfsinnige Tabellen habe er mit den Meßwerten füllen und anschließend idiotische Gauß’sche Glockenkurven daraus errechnen müssen, es sei zum Davonlaufen gewesen. Mit Physik habe das alles nicht das Geringste zu tun gehabt, und er sei dann durch die Universität gestreift, auf der Suche nach einer anderen Disziplin. Bei den Mathematikern hielt er sich zwei Semester auf, dann hatte er auch davon genug und wechselte zur Publizistik, wovon er sich zwar nichts versprach, aber er wußte, sagt er, überarbeiten müsse man sich hier nicht, ein paar Scheine machen fürs Bafög-Amt, kein Problem. Nebenher studierte er dazu ein wenig Philosophie. Irgendwann sei er dann einmal aus Versehen in ein Seminar der Informationswissenschaftler über „Künstliche Intelligenz" geraten, das habe ihm gefallen, er habe den Eindruck gehabt, hier könne man etwas zustande bringen, und so machte er die „Künstliche Intelligenz" zu seinem Studienschwerpunkt. Seine Magisterarbeit hieß „Mustererkennung mit neuronalen Netzen". „Neuronale Netze" waren sein Spezialgebiet, er sei der einzige am Institut gewesen, der sich damit auskannte. Er habe sich in die Biologie und in die Neurophysiologie vertieft, eine Voraussetzung für seine Disziplin, und so gab er schließlich als Lehrbeauftragter selbst Seminare zu diesem Thema. Zwischendurch war er als Werkstudent in der Forschungsabteilung „Artificial Intelligence" bei Siemens.

Neben seinen Lehraufträgen an der Uni und später auch an einer Weiterbildungseinrichtung von Siemens fuhr er Taxi. Alles in allem ein entspanntes und angenehmes Leben, geistig ausgelastet, wirtschaftlich sorgenfrei, so er.

Irgendwann, er sei gerade mit einer Doktorarbeit beschäftigt gewesen, geriet er, ganz aus Versehen, wie er sagt, in die Treuhand, und es habe ihm gefallen, und einen Tag später sei er Treuhänder gewesen und sei schon kurz darauf mit dem Ehrentitel „Held der Anstalt" ausgezeichnet worden (Urkunde liegt vor). Die Hintergründe seiner zufälligen Bekanntschaft mit der Treuhand, die von einer gewissen Delikatesse seien, müßten verschwiegen werden, wie alles, was die Treuhand betrifft, verschwiegen werden müsse, wolle man nicht in schwerste juristische Verwicklungen geraten. So habe sich auch auf der ganzen Welt kein einziger Verlag gefunden, der Bauers lustigen Treuhandbericht Westschrott publizieren wollte, und er habe Westschrott unter falschem Namen und mit Pappnase und Perücke heimlich in den Kneipen unter die Leute bringen müssen.
Nach fünf Jahren Treuhand habe er genug vom Managerleben gehabt und ein paar Mark auf der Seite. Jetzt schreibst du erstmal ein Buch, habe er zu sich gesagt, dann sehen wir weiter. Er schrieb also Westschrott, und keiner wollte es haben. Eine Weile ließ er den Kopf hängen, dann schrieb er einen kleinen Text, nämlich das erste Kapitel von Jetzt stillen wir unseren Hunger, und bewarb sich damit um das Alfred-Döblin-Stipendium. Es funktionierte, und er durfte ein halbes Jahr im Grass’schen Arbeitszimmer ein Buch schreiben. Als es fertig war, eilte er nach Berlin und gab es seiner Agentin, auf daß sie es schleunigst verschachere, was sie auch getan hat: Der S. Fischer Verlag biß an, sehr zu Bauers Freude.
Jetzt sitze er in seinem Kämmerchen und frage sich, was wohl als nächstes kommt.

Berlin, 2. Februar 2006

Würdigung

1999 Alfred-Döblin-Stipendium
2003 Arbeitsstipendium, Berliner Kultursenat

Werk

Eigenständige Veröffentlichungen

Veröffentlichungen in Anthologien

Tausend und ein Kuß

Rütten & Loening, Berlin 2006 Romanauszug

Du allein

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2003 Romanauszug

Damals, hinterm Deich

Steidl Verlag, Göttingen 2002 Prosastücke

Neues aus der Heimat!

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2004 Kurzgeschichte

Ähnliches ist nicht dasselbe

Verlag Ludwig, Kiel 2002 Romanauszug

Da schwimmen manchmal ein paar gute Sätze vorbei...,

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2001 Kurzgeschichte

Einträge im Register der Literaturzeitschriften

Zuletzt durch Christoph Bauer aktualisiert: 21.06.2019

Literaturport ID: 149