Richard Anders ist am 24. Juni 2012 in Berlin verstorben.
Richard Anders wurde am 25. April 1928 als Sohn des Holzkaufmannes Heinz Anders in Ortelsburg, Ostpreußen geboren. Schon in seiner Kindheit nannte man ihn einen Träumer und gab ihm wegen seiner Ängstlichkeit den Spitznamen „Hase“. Er fürchtete die Dunkelheit seines Schlafzimmers. Hier war er Visionen ausgesetzt, die, ausgelöst durch Märchen, die ihm allabendlich seine Mutter vorlas, zum allnächtlichen Schrecken wurden – übertroffen später nur noch vom alltäglichen Schulterror. Zwar wurde er als Sohn eines hochgeachteten Bürgers der Stadt nie gezüchtigt, doch genügten Durchführung und Androhung der Körperstrafe bei anderen Mitschülern, um ihm das Lernen zu verleiden. So war er glücklich, als ihn sein Vater aus der Volksschule nahm, und er von einem Referendar der Hindenburg-Oberschule Privatunterricht erhielt. Diesen hat A. nur in freundlicher Erinnerung. Später entdeckte er die Stadtbücherei und wurde zum Bücherwurm. Zu seiner Lektüre gehörten so unterschiedliche Autoren wie Tom Shark, Karl May, Jules Verne, Meister Eckehart, Angelus Silesius, Edgar Dacqués. Daneben studierte er aber auch populärwissenschaftliche Werke über Astronomie und erkundete mit einem selbstgebauten Teleskop den Himmel. Als ihn sein Vater einmal in Allenstein oder Königsberg zu einer Theatervorstellung von Goethes Faust mitnahm, war das für ihn ein Anlaß, ein eigenes Faustdrama zu entwerfen: Es bestand nur aus der breit ausgemalten Hexenküche mit einer Variante des Hexeneinmaleins'. Über einen Versand bestellte er sich ein Lehrbuch der Dichtkunst und probierte alle dort erwähnten poetischen Formen aus. Jemand schenkte ihm die Werke Theodor Körners. Durch diesen dunklen Hintereingang betrat er das Reich der Poesie. Sein bester Freund Gerhard, dessen Vater Hausmeister an der Mädchen-Oberschule war,trieb eine Schreibmaschine auf dem Dachoden der Hindenburg-Oberschule für Jungen auf. Er diktierte ihm seinen ersten eigenen Gedichtband. Es gelang ihm, zu Weihnachten ein eigenes Gedicht in der Ortelsburger Zeitung unterzubringen. Er verfaßte einen Spruch für das Winterhilfswerk, der in ganz Ortelsburg ausgehängt war und zu Spenden aufrief, sowie eine gereimte Hochzeitszeitung für seine Schwester. Die Oberschule besuchte er nur wenige Jahre, da seine ganze Klasse zu den Flakhelfern nach Pillau eingezogen wurde. Ausgemustert wegen zu geringen Brustumfangs mußte er in Ortelsburg zurückbleiben, wo er teils als Bürobote im Werk seines Vaters arbeitete, teil privaten Nachhilfeunterricht bekam. Daneben setzte er seine umfangreiche Lektüre fort. Im Jahr 1944 gab es für ihn kaum mehr Zeit zum Lesen. Er wurde vom Volkssturm rekrutiert. Da mußten nicht weit vom Führerhauptquartier Panzergräben ausgehoben und bei Schiemanen ein Militärflugplatz bewacht werden. Er erhielt den Auftrag, all diese Tätigkeiten zu protokollieren, verfaßte aber keine Zeile mehr. Dennoch meldete er sich immer wieder pflichtgemäß beim Volkssturm. Als im Januar 1945 die Russen sich Schiemanen und damit Ortelsburg näherten, mußte sein aus Königsberg anrufender Vater schon im Befehlston mit ihm reden, damit er von der Idee abkam, sich am nächsten Morgen bei diesem Volkssturm zu melden. Für ihn stand der Vater höher als das Vaterland. Er stieg also mit seinem jüngeren Bruder gehorsam ins Auto und ließ sich von dem erfahrenen Chauffeur auf Schleichwegen in den Russen -und Volkssturmfreien Norden nach Schmauch, einem winzigen Dorf bei Elbing kutschieren, wo sein ehemaliges Kindermädchen mit einem jetzt an der Ostfront stehenden Pfarrer verheiratet war. Sie wartete mit ihrer Großmutter auf den vorletzten Zug aus Ostpreußen, ein Zug, der Kindern und Alten vorbehalten war. Die beiden Brüder mußten sich also trennen. Der wirklich allerletzte Zug fuhr von einer anderen, entfernteren Station ab. Einen Nachtmarsch kostete es, sie durch Schnee und Eis zu erreichen. Nach Stunden des Wartens im eiskalten Güterwagen fuhr der Zug an, rollte aber zum Entsetzen der Menschen in die falsche Richtung. Er fuhr zurück nach Königsberg!-: Dort Telephongespräch mit dem dasigen Chef der Firma A.. A.s Vater war schon mit einem Treck Richtung Frische Nehrung unterwegs.....Er sollte später in Pommern umkommen, erschossen von einem Russen, der mit seinem Panjewagen nicht ausweichen konnte und im Graben gelandet war. Telefonischer Kontakt mit dem Onkel in Kurland, der von einem Schiff wußte, das Familien von Offizieren von Pillau nach Swinemünde beförderte. Der Onkel machte einen in Königsberg weilenden Kontaktoffizier für ihre Sicherheit verantwortlich. Wieder war A. unverdienterweise privilegiert! Tatsächlich wurden sie schließlich durch eine Mauer wahrscheinlich vergeblich wartender Menschen auf ein Frachtschiff gebracht, wo A. im Laderaum auf einer Bücherkiste zu liegen kam, aus der er nach Entfernung eines Bretts die deutsche Fassung der englischen Zeitschrift Spectator und Klabunds Nachdichtungen chinesischer Lyrik herausfischte (er schleppte die Bucher im Rucksack von nun an immer mit sich). Im Ankunftshafen Swinemünde von einer HJ-Streife gefaßt, die ihn, dessen Brustumfang inzwischen nicht größer geworden war, als durchaus militärtauglich ansah, mußte er sich von der Frau Pfarrer trennen und durchlief anschließend ein Wehrertüchtigungslager bei Parchim, den Reichsarbeitdienst bei Süderlugum an der dänischen Grenze und schließlich den Militärdienst in der Garnisonsstadt Verden an der Aller. Gerade noch rechtzeitig wurde er dort am 3. März vereidigt, denn nach wenigen Tagen waren die Engländer da, um A.s Schwur auf die Probe zu stellen: Ein Obergefreiter, der offensichtlich desertieren wollte, schickte A., den er loswerden wollte, ins nahe Dorf, nachdem er ihm zuvor befohlen hatte, einem vorüberkommenden Bauern das Fahrrad wegzunehmen. Ein schwerer Fehler, denn dieser rannte sofort zum Bataillonsgefechtsstand, der sich am anderen Ende des gleichen Dorfs befand und meldete den Raub, was eine allgemeine Suche nach den beiden Deserteuren auslöste, an der sich auch der dörfliche Volkssturm beteiligte, der A. und den Obgefreiten bald stellte. „Ihr wißt doch, daß ihr morgen früh umgelegt werdet!“ tönte es ihnen schließlich aus dem Dunkel des Bataillonsgefechtsstandes entgegen, was nach drei Tagen Gefangenschaft und Angst in ein erlösendes „Hier euer Helm, hier euer Gewehr!“ umschlug. „Wir brauchen jetzt jeden. Sobald wir die Engländer zurückgeschlagen haben und wieder in Verden sind, kriegt ihr aber, was ihr verdient!“. Obwohl ihre Erschießung nur aufgeschoben war und sie für diese Galgenfrist auch noch kämpfen mußten, war dies der glücklichste Tag in A.‘s Leben. Er setzte alle Hoffnung auf die Kampfkraft der Engländer. Nach Internierung, Entlausung, Entlassung wieder bei der Familie, die im östlichen Schleswig-Holstein untergekommen war, erreichte ihn die Nachricht, daß die Hermann-Lietz-Schule sich bereit erklärte, ihn an Stelle seines vier Jahre älteren gefallenen Bruders aufzunehmen. So reiste er noch im gleichen Jahr in Begleitung seiner Mutter und seiner Schwester nach Neuharlinger Siel und von dort mit dem Schiff nach Spiekeroog. Doch A. fühlte sich unter den Gleichaltrigen nicht wohl. Er machte nur in der Theaterguilde und in der Puppenguilde begeistert mit. Er erhielt den Auftrag, für schon vorhandene Handpuppen ein Stück zu schreiben. Es hieß „Die Giftspritze“ und hatte Erfolg. Ein Theaterstück mit dem Titel „Pyrenäentunnel“ dagegen, das von deutschen Emigranten handelte, die beim Fluchtversuch durch besagten Tunnel von einem Gegenzug erfaßt werden und ihr Leben als Nahtoderfahrung (wie man heute sagen würde) vor ihrem inneren Auge noch einmal vorüberjagen sehen, war zwar vom Deutschlehrer für eine Aufführung vorgesehen, vom Direktor aber als „dekadent“ abgelehnt worden – ebenso wie die „Aufzeichnungen eines Hypochonders“, die A. als Jahresarbeit einreichte. A. vertauschte die Lietz-Schule mit der Höheren Handelsschule Osnabrück, um sich auf eine Buchhändlerlehre in Marburg vorzubereiten, brach die Lehre aber ab, um an einem Abiturientenlehrgang für Kriegsteilnehmer in Delmenhorst teilzunehmen (1950). Sein Abitur-Aufsatz erhielt den Preis für den besten Abitur-Aufsatz des Jahres in Oldenburg. Er begann in Hamburg ein Studium der Fächer Psychologie und Philosophie, mußte aber nach einem Semester sein Studium wieder abbrechen, da bei einer Reihenuntersuchtung der Universität Lungen-Tbc festgestellt wurde. Während des Aufenthaltes im Lungenkrankenhaus Schledehausen las er James Joyce, Hans Henny Jahnn, Gottfried Benn und Alain Bosquets „Surrealismus, 1924-1949, Texte und Kritik". Kurz vor der Entlassung aus dem Krankenhaus änderte A. sein Berufsziel. Er schrieb an die Universität Münster/Westf., wo er sich schon für die philosophische Fakultät hatte einschreiben lassen und bat um einen Wechsel zur medizinischen Fakultät. Er erhielt einen Brief von Joachim Ritter, dem damaligen Rektor der Universität Münster, der A. zu sich bestellte. Nach einem Blick auf A. diagnostizierte dieser A.s Unfähigkeit zum Arztberuf. Hätte der überaus einfühlsame Philosoph doch gleichzeitig A.s Unfähigkeit auch für das Höhere Lehramt festgestellt, dann wäre diesem vieles erspart geblieben. Ein Semester an der Bibliothekarsschule in Köln ließ ihn wieder Hamburg als erstrebenswerten Ort erscheinen. Es war für A. kein Problem, dort 1959 sein Staatsexamen in den Fächern Deutsch und Geographie zu machen, doch nach ein paar Lehrproben an Hamburger Schulen ließ sich seine mangelnde pädagogische Begabung nicht mehr vertuschen. Einen Professor, den er als seinen Lehrer bezeichnen könnte, hatte er in Hamburg nicht gefunden, aber es gab da noch den Geschichtenerzähler Hans Henny Jahnn, den er schon 1950 im Blankeneser Hirschpark besucht hatte und der für ihn die Magie der Literatur verkörperte, insofern als er allein imstande schien, dem Leben Dichte und Wert zu geben. Als Jahnn 1959 starb und auch A.s vierjährige Psychotherapie bei Dr. D. zu Ende ging, hielt ihn nichts mehr in Hamburg. Auch das Angebot von Claus Rainer Röhl nicht, beim „Studentenkurier“ als Rezensent mitzuarbeiten. Hatte er nicht mit beginnender Analyse aufgehört, in Werner Riegels und Peter Rühmkorfs hektographierter Zeitschrift „Zwischen den Kriegen“ eigene Gedichte zu publizieren? Er brach auch eine kurzfristig begonnene Ausbildung zum Volksbibliothekar ab und folgte einer Einladung des Ehepaares Kallergi nach Athen-Kalamaki, nicht weit vom Athener Flugplatz. Er begann nach ein paar Wochen Eingewöhnung im leeren Schafstall des Anwesens in Athen ein Leben als Privatlehrer für Deutsch, versuchte Neugriechisch zu lernen, bis er eines Tages von einem Französisch-Kurs in Rambouillet bei Paris erfuhr, den er kurzentschlossen belegte. Gleichzeitig bewarb er sich beim Goethe-Institut und beim Deutschen Akademischen Austauschdienst. Nach einem Jahr endlich traf eine Antwort ein. Die Zagreber Germanisten hatten sich für ihn entschieden. A., der inzwischen an Goethe Geschmack gefunden hatte, wollte jetzt eigentlich nicht mehr, aber die Zagreber drängten, und die Leute von der Zentrale in München gaben schließlich nach. Überraschenderweise holte ihn auf dem Bahnhof von Zagreb der Chef der Zagreber Germanisten selbst ab. Er führte ihn mit seinem ganzen Gepäck in eine Kneipe und lud ihn zu einem Slibowitz ein. Er erfuhr, daß seine Wirtin für ihren in Paris lebenden Sohn ständig eine Wohnung bereithielt für den Fall, daß sich dieser zu einer Rückkehr nach Zagreb entscheiden sollte. Jetzt beugte sich der Professor ein wenig vor: - „Sie müssen wissen, daß ihr Sohn Mitglied der Pariser Surrealistengruppe ist“. Obwohl ihn ein plötzlicher Schwindel übermannte (Surrealismus war ein Zauberwort für ihn – 1955 war er Max Ernst in einer Pariser Galerie begegnet), behielt der frisch angereiste Lektor Contenance, bewahrte diese auch, als bei dem anschließenden Besuch der Wirtin diese ihm die wirklich zauberhaften Bücher des Sohnes zeigte – ein auf Blütenpapier gedrucktes war von Miro illustriert - und ihm schließlich auch seine Pariser Adresse und Telephonnummer anvertraute. Kaum hatten die Semesterferien begonnen, reiste A. nach Paris. Nach seiner Rückkehr erwartete ihn ein Paket mit surrealistischen Büchern und Zeitschriften. Unter ihrem Einfluß begann A. auf Tonband automatische Texte zu diktieren – obwohl er doch eigentlich nach der Begegnung mit dem Werk Hans Henny Jahnns und den Finisten innerlich mit dem Surrealismus gebrochen hatte, den er allerdings bisher nur in schlechten Übersetzungen kennengelernt und entsprechend auch nachgeahmt hatte. Die Methode des Tonbanddiktats bewährte sich auch, als sein Hamburger Psychotherapeut ihm zur Krönung seiner eigentlichen Psychoanalyse LSD anbot – ein Experiment unter kontrollierten Bedingungen. (Siehe: „Rückblickend auf meine Versuche mit der Écriture automatique“ in: „Bausteine zu einer Poetik der Moderne“, München 1987.) In dieser Zeit(1963) brachten Hans Bender und Walter Höllerer in ihrer Zeitschrift „Akzente“ A.s Gedicht „Die Entkleidung des Meeres“ heraus, R.s erste Veröffentlichung (wenn man von den Publikationen in Rühmkorfs und Riegels „Zwischen den Kriegen“ absieht). Mit seiner Zagreber Freundin Rajna Jordanovic fuhr A. im Winter 1963 ein zweites Mal nach Paris, diesmal vermittelte Radovan Ivsic eine Begegnung mit Breton und der surrealistischen Gruppe im Café „Promenade de Venus“, rue du Louvre. Nach dem Ende seiner Tätigkeit als Deutschlektor an der Universtät Zagreb (1964/65) heiratete A. Rajna Jordanovic und zog mit ihr nach Hamburg-Norderstedt. Später wurde auch ihr kleiner Sohn in die neue Wohnung geholt. Es gab eine Familie zu ernähren. A. nahm eine Stelle als Lektor im SPIEGEL-Archiv an. Zeit zum Schreiben hatte er jetzt nur noch während der langen S-Bahnfahrt zwischen Wohnort und Arbeitsplatz und am Wochenende. 1965/66 lernte er Uwe Herms kennen, der zu den Herausgebern der Hamburger Zeitschrift „schnittpunkte“ gehörte. In der Nummer 1966 (2) publizierte eine Auswahl neuer Gedichte und in der Nummer 1966 (3) den Aufsatz „Surrealismus – ein exquisiter Kadaver?“ (Anspielung auf das surrealistische Spiel „Cadavre exquis“), zum größten Teil eine Textcollage in Form eines Interviews mit den späten Surrealisten, das hauptsächlich aus Zitaten aus ihrer Zeitschrift „La Bréche“, aber auch aus Flugblättern und Katalogen bestand. Nach dem Tod von Breton kam der Text auch der Gruppe zu Gesicht und fand ihre Zustimmung. Erstaunlich ist nur, daß A. in dieser Arbeit nie auf das Verhältnis der Surrealisten zu bewußtseinserweiternden Rauschmitteln zu sprechen kommt. Zu Lebzeiten Bretons stand dieses Verhältnis, aus welchen Gründen auch immer, nie zur Debatte, obwohl Breton und Péret (oder Prevert?) Haschisch –mit dem negativen Ergebnis eines nicht enden wollenden Lachanfalls– einmal probiert hatten. Erst nach dem Tod Bretons dokumentiert die Nachfolgezeitschrift von La Bréche, "Coupure", das malerische Ergebnis einer LSD-Sitzung des tschechischen Psychiaters und Surrealisten Dr. Ludvic Svab mit jungen Malern, „im Rahmen der Erforschung des Problems der Halluzinationen in Bezug auf die sensorielle Schädigung des Individuums“. Trotz seiner Publikationen in der Zeitschrift „schnittpunkte“ konnte A. sich mit dem Hamburger Literaturbetrieb nicht anfreunden. Es gab nur wenige wichtige Begegnungen: die mit Hubert Fichte zum Beispiel. A.s Frau Rajna hatte in Kroatien den naiven Maler Franjo Klopotan entdeckt und es gelang, den Buchhändler Helmuth von der Höh zu einer Ausstellung von dessen Werken zu bewegen. Ein paar Tage nach der Eröffnung erhielten Rajna und A. einen Brief von Hubert Fichte voller Bewunderung für Klopotan und mit der Bitte an den Maler, ihm ein Bild zu malen, das die wichtigsten Motive der Ausstellung enthalte (er zählte sie auf). Klopotan erklärte sich bereit, den Wunsch des Schriftstellers zu erfüllen. Schließlich kam er nach Harksheide (später „Norderstedt“ genannt) und holte das Bild ab. Etwa nach einer Woche brachte er es wieder zurück. Was war geschehen? Klopotan hatte sich genau an die Anweisungen von Fichte gehalten - bis auf ein Detail. Aus einem gesägten Baumstumpf in der Mitte wuchs unversehens Fichtes Kopf, als sei er abgeschnitten. Der Kopf war nach einem Schwarzweißphoto aus der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ gemalt, die Augen braun, nicht blau. „Das sind die Augen von Ellinor Jahnn“ erklärte Fichte später. Das war aber nicht der Grund zur Rückgabe. „Ich ertrage es auf die Dauer nicht, mich mit abgeschnittenem Kopf zu sehen“, sagte er. Rajna und A. forderten ihn auf, sich ein anderes Gemälde auszusuchen. Er wählte schließlich das Rückenbild einer nackten Frau, die mit ihrem gewaltigen Hintern in einem Ameisenhaufen sitzt. Fichte war sehr besorgt um Klopotans weitere Entwicklung. Er fürchtete, daß A. ihn durch surrealistische Einflüsse verderben könne. Eine Furcht, die Fichte mit Breton persönlich teilte. Bevor der naive kroatische Maler Matija Skurjeni, von der Gruppe eingeladen, im Café „Promenade de Venus“ erschien, schärfte Breton allen Anwesenden ein, dem Gast nichts vom Surrealismus zu erzählen, er solle seine Naivität nicht verlieren. In der Annahme, der in den sechziger Jahren sehr angesehene Fichte könne ihm einen Verlag vermitteln, gewöhnte er sich an, seinen Briefen an Fichte immer ein paar Gedichte beizufügen, die er dann, einzeln benotet, wieder zurück erhielt. Es gab nur die Noten „gut“ und „sehr gut“. Gedichte, die Fichte nicht gefielen, erhielten ein „noch zu bearbeiten“. Später erfuhr A. dann, daß Fichte zu dieser Zeit plante, eine Lyrik-Reihe bei Rowohlt herauszugeben. A. arbeitete in dieser Zeit an einer äußersten Verknappung seiner Lyrik; Adjektve schieden immer mehr aus. Der Automatismus wich äußerster Konzentration. Doch das Ziel war das Gleiche: Sprachmagie. In dieser Phase las A. Gedichte von Robert Creeley: „For Love“. Doch erst zwanzig Jahre später sollten sich beide Autoren in Berlin begegnen. Während A. sich in Asien aufhielt, versuchte Creeley, einzelne Gedichte von A. ins Amerikanische zu übersetzen.
Weshalb A. 1968 das Spiegelarchiv verließ und das Wagnis auf sich nahm, es noch einmal mit dem Schuldienst als Referendar zu versuchen, kann er heute nur mit dem Frust des ständigen Zeitunglesenmüssens im Archiv erklären. Diesmal war es das vernichtende Urteil einer Geographielehrerin, die den Lehramtskandidaten scheitern ließ. Zufällig suchte das Archiv der Zeitung „Die Welt“ einen Mitarbeiter für das Lektorat englischer und französischer Zeitungen und Zeitschriften. A. bestand die halbjährige Probezeit. Warum zog er es vor, mit seiner Familie nach Berlin zu ziehen, wo ihn erst einmal kein Arbeitsplatz erwartete? Es erwarteten ihn dort aber Freunde, Mitarbeiter des neugegründeten Jahrbuchs „Speichen“; die Namen Lothar Klünner, Johannes Hübner, Gerd Henniger, Joachim Uhlmann, Rudolf Wittkopf waren A. schon bekannt: teils durch ihre Übersetzungen von Apollinaire, Antonine Artaud, Paul Eluard, René Char, teils durch frühe Publikationen eigener Texte im Berliner Vorwährungsmagazin „athena“. Die neuen Freunde waren auch hilfsbereit, halfen bei der Wohungssuche, A. fand sogar Arbeit in der Werbeabteilung eines großen Wissenschaftsverlages, die er leider um einer vermeintlich besseren der Landesbildstelle willen aufgab, wo eine Gallensteinoperation ihn um den Arbeitsplatz brachte.....
Inzwischen begann seine Frau für die Deutsche Welle in Köln zu arbeiten. Sie machte Sendungen in serbokroatischer Sprache über die Gastarbeiter und das Kulturleben in Berlin. Da das so verdiente Geld aber nicht zum Lebensunterhalt der kleinen Familie ausreichte, übersetzte A. für den Verlag Rogner & Bernhard Werke verschiedenster Art, die vom Trivialroman bis zu Texten in Bretons Anthologie des schwarzen Humors reichten. Seine noch in Hamburg verfaßen Prosaskizzen waren bereits in den „Speichen `70“ unter dem Titel „Anfertigung durch Begierde“ herausgekommen, der die Nähe des Autors zum Surrealismus verriet. Die Texte selbst aber hatten keinen Bezug zur automatischen Schreibweise, eher zu Traumberichten und zwar zu solchen, die aus ihrer latenten Freudschen Botschaft keinen Hehl machten. Für das nächste Heft der 'Speichen' erhielt er den Auftrag, etwas über seine Theorie des Schreibens zu Papier zu bringen. Das brachte ihn in Verlegenheit. So kam er auf die Idee, mit Hilfe des binären Systems etwas Ordnung in die zur Zeit gängigen literaturtheoretischen Konstrukte zu bringen. So stand Max Bense gegen Jean Schuster, konkrete Poesie gegen politisch engagierte, Lukac gegen Adorno etc. Lothar Klünner, dem er die Zitatcollage zeigte, fand den Titel:“ Sätze und Gegensätze“. Fast immer hoben sie sich auf. Ähnliches geschah in seiner Lyrik. Sie versuchte Creeleys Knappheit und die Konfrontation des nicht Zusammengehörigen, den gegenwärtigen Augenblick und die bodenlose Tiefe der Historie zu vereinen. Kairos erlernte den Purzelbaum. So entstanden zwei sich teilweise überschneidende Gedichtbände: „Die Entkleidung des Meeres“ mit Radierungen von Ekkehard Thieme (1969) und „Preußische Zimmer“ (1975), letzterer Band unter dem Lekorat von Hans Dieter Schäfer. Mitte der siebziger Jahre startete der sogenannte Heimwehtourismus ins polnisch gewordene Masuren. Zuerst waren nur Gruppenreisen gestattet. A. buchte, zusammen mit seiner Frau und seinem Bruder, eine Busreise bis Allenstein. Von dort aus, teils mit dem Zug, teils mit dem Taxi Abstecher nach Ortelsburg und Rudzanny. Die Beschreibung seiner Begegnung mit der Ruine seines Eltenhauses in Ortelsburg bildet den Anfang eines autobiographischen Romans „Ein Lieblingssohn“ (1961), der 2004 unter dem Titel „Klackemusa. Zwischen preußischer Kindheitund Surrealismus“ in überarbeiteter und erweiterter Form neu herauskam. Davor war das LCB-Bändchen „Zeck – Geschichten“ herausgekommen, in dem R. zum Teil eine Re-lektüre 17 Jahre alter LSD-Texte präsentierte, die in geänderter Form neue Bedeutungen zum Vorschein brachten, eine Methode, die auch im Band „Verscherzte Trümpfe“ Anwendung findet und im Nachwort ausführlich erklärt wird.
Im Sommer 1980 erkrankt A.s Frau Rayna plötzlich an miloischer Leukämie. Der Arzt winkt A. nach der Untersuchung noch einmal herein und erklärt ihm, daß die Krankheit unheilbar sei. Nach ihrer Tätigkeit für die deutsche Welle hatte sie eine Anstellung in der Stadtbücherei gefunden. Der Kreis ihrer Freundschaften hatte sich erweitert. Für unbestimmte Zeit krankgeschrieben, war sie nun teils zu Haus, teils im Krankenhaus. A. war unruhig, konnte nur wenig schreiben. Als seine Frau eine zweimonatige Kur verschrieben bekam, riet man ihm, diese Zeit nicht zu Hause sitzend zu verbringen, sondern sie zur Heilung seiner Depression in der Schloßparkklinik zu nutzen. Die Äztin, die ihn betreute, riet ihm, jeden Tag eine halbe Stunde zu schreiben. Es entstanden die „Stollen“ (zuerst in „Sprache im technischen Zeitalter“ publiziert, dann dem Manuskript „Verscherzte Trümpfe“ einverleibt). Als er nach zwei Monaten aus der Schloßparkklinik enlassen war und seine Frau die Kur beendet hatte, beschlossen sie, noch eine gemeinsame Reise zu machen und fuhren an den Gardasee. A.s Frau starb am 27.4. 1983 und wurde am 9.5. in Zagreb auf dem Friedhof Mirogoj begraben, gemäß dem Wunsch, den sie gegenüber dem Sohn Alan geäußert hatte.
Was dann an Ereignissen folgte, war eher dem Zufall als einem Plan geschuldet. Eine Tänzerin, die in einem Off-Theater Kreuzbergs einen kosmischen Tanz durch Raum und Zeit zelebrierte, riet R., im Herbst ein Medizin-Rad-Treffen mit indianischen Heilern zu besuchen. A. meldete sich an, ließ sich aber von einem Freund zunächst mit dem Auto zu Elisa Breton nach Saint Cirque Lapopie mitnehmen. In diesem Ort auf hohem Felsen über dem Fluß Lot besaß Breton ein Haus, in dessen Umgegend sich die Surrealisten im Sommer versammelten, um Spiele wie L’un dans l’autre zu spielen. A. brachte einen kleinen Kassettenrecorder und Kassetten mit Symphonien Mahlers mit. Er hatte gehört, daß es einer der größten Wünsche Elisas war, einmal in der Berliner Philharmonie Symphonien von Mahler zu hören. A. empfand es dann als sehr merkwürdig, in die Flammen von Bretons Kamin zu schauen und gleichzeitig diese Musik zu hören. Elisa, die eine hochbegabte Pianistin gewesen war, erzählte A., daß sie wegen Breton die Musik aufgegeben habe. Eine Schwitzhüttensitzung an der Isar, die kein geringerer als Philipp Deer leitete, verfehlt auf R. ihre Wirkung nicht. Am nächsten Morgen warf er seine Antidepressiva weg. Das war jedoch nur der erste Schritt. Die Asienreise, die sich dem Schwitzhüttenbesuch anschloß, war in der Hinsicht ein Erfolg, als sie ihn von seiner Depression befreite. Es gab bei der ständigen Umstellung auf neue Situationen in fremden Ländern und bei dem für das Schreiben eines Buches notwendigen Zwang, alles zu beobachten und jede geringste Einzelheit zu notieren, einfach keine Zeit dafür. Doch engte ihn dieser Zwang auch ein; es gab nichts zu erfinden; eine Liebhaberin der experimentellen Literatur war von der Lektüre des ersten Entwurfs der Indien-Erzählung enttäuscht, und so legte er die vielen, während eines Döblin-Stipendiums in Wewelsfleth (1985) geschriebenen Seiten wieder weg und arbeitete an dem Kurzprosaprojekt „Stollen“ (später „Das blaue Wunder“genannt, schlußendlich „Verscherzte Trümpfe“) weiter, von dem Auszüge in der „Neuen Rundschau“ (unter dem Titel „Du in den Zimmern“), in „Rowohlts Literaturmagazin“, in „Sprache im technischen Zeitalter“, in den „Akzenten“(Michael Krüger) abgedruckt wurden, ohne daß einer der beteiligten Verlage irgendein Interesse gezeigt hätte. Als schließlich Galrev nach einer Empfehlung von Adolf Endler das Buch 1993 mit Zeichnungen von Horst Hussel herausbrachte, war dies ein Erfolg nicht nur im Freundeskreis, der jedoch regional begrenzt war. In den Neunziger Jahren beschäftigten ihn indessen noch andere Projekte. Zunächst nur in Radio-Essays umkreiste er ein Phänomen, das er bisher nur sporadisch in seinem autobiographischen Roman „Ein Lieblingssohn“ bzw. „Klackemusa“ behandelt hatte: die sogenannten hypnagogen Halluzinationen oder phantastischen Gesichtserscheinungen, die ihn, von der Kindheit angefangen, sein ganzes Leben hindurch begleitet hatten. Zunächst näherte er sich dem Phänomen über ein Detail (den sog. „bösen Blick“), das jedoch den größten soziokulturellen Umkreis besitzt (RIAS 1990). Dann wertete er Material über die hypnagogen Halluzinationen aus, wobei er neben der deutschen auch amerikanische, englische und französische Literatur berücksichtigte. Er bemühte sich um eine genaue Unterscheidung von Traum, Wachtraum, Klartraum, Halluzination und hypnagoger Halluzination, die in der deutschsprachigen Literatur zu dem Phänomen oft nicht getroffen wird. Um dem Hörer den Einstieg zu erleichtern, arbeitete er mit längeren Zitaten, die er auch beibehielt, als er das Funkmanuskript (1998 im RIAS gesendet) für die Buchausgabe des Essays in „Wolkenlesen“ umarbeiterte und erweiterte. Der Aufsatz „Halluzinationen im Zeitalter der Vernunft“ ist dagegen der nur leicht korrigierte Text eines Vortrages, den er auf der 3. internationalen
Koeppenkonferenz in Bansin (Insel Usedom) mit dem Thema „Ausgrenzungen“ im Oktober 2000 hielt. Zwischendurch war R. mit Übersetzungen von Gedichten Michael Hamburgers beschäftigt und Gedichten verschiedener Verfasser, welche die Anthologie „Das surrealistische Gedicht“ vereinte.
Zu den noch in Arbeit befindlichten Projekten zählt eine Abschrift seiner von 1949 bis in die sechziger Jahre hinein kontinuierlich geführten Tagebücher, von denen ein Auszug mit dem Titel „Begegnung mit Hans Henny Jahnn. Aufzeichnungen“ 1988 bei Rimbaud, Aachen erschienen sind. Dieser Teil des Tagebuchs muß integriert werden. Er erhält in der Umgebung und im Zusammenhang mit den noch unveröffentlichten Aufzeichnungen eine ganz neue Bedeutung. In den 70er und 80er Jahren gibt es nur noch sporadisch Tagebuchaufzeichnungen. Einige Seiten daraus sind im Rajna-Kapitel von „Klackamusa“ abgedruckt.