Als Kriegskind war man 1945 beides: arm, weil man in wahrsten Sinne Gras fressen musste, reich, weil die zerbombte Trümmerlandschaft ein einziger Abenteuerspielplatz war. Phantasie grenzenlos. Statt Legomobil ein Holzklotzauto mit angenagelten Rädern aus Astscheiben. Alltag ohne Väter, denn die waren in Kriegsgefangenschaft. Es waren die Mütter, die die Straßen freiräumten, Ruinen bewohnbar machten und übriggebliebenen Schmuck oder Teppiche gegen Eier oder Kartoffeln tauschten. Unbezahlbar auch, dass unsere einbeinigen, einarmigen oder einäugigen Nachkriegs-Lehrer uns einimpften: Nie wieder Krieg.
Als Heranwachsender hatte ich fast nur Dusel. Kam als Chorknabe nach Holland, als Schüler nach San Francisco, als <moniteur de vacance> nach Frankreich. Mein erstes Gedicht schrieb ich auf Englisch und gewann damit ein Stipendium bei der UCLA. Leider konnte ich es nicht antreten, weil ich nach Germany zurück musste. In Hamburg, wo ich ein Studium wie Kraut und Rüben betrieb – nebenher, hauptsächlich schrieb ich Gedichte und Theaterrezensionen – kam ich mit Leuten zusammen, die sich im Nachherein als bekannte Künstler herausstellten, der Komponist Giörgi Ligeti etwa, der Organist Gerd Zacher, der Maler Heinz Kießling. Mit ihm veröffentlichte 1963 ich einen Lyrik-Grafik-Band "LINIEN IN DIE ZEIT", den wir damals für DM 10,00 in der Mensa verkauften. Heute muss man dafür in Züricher Antiquariaten mehr als 100 Franken hinlegen. Diese erste Gedichtsammlung machte mich auf einen Schlag so bekannt, dass ich das Pseudo-Studium hinschmeissen und Hörspiellektor beim NDR werden konnte. Auch der Schüleraustausch nach Amerika wirkte nach, denn Rowohlt betraute mich mit der Übersetzung wichtiger Autoren wie Vladimir Nabokov und John Updike. In West-Berlin war ich dann aufgrund einer Neuübertragung des elisabethanischen Bühnenklassikers "Volpone" Chefdramatur an der Freien Volksbühne. Bis dort die Mitbestimmung wieder abgeschafft wurde, der ich diesen Job verdankte.
Später bin ich wieder viel in der Welt herumgreist, lebte halbe Jahre in Italien und verbrachte mehr als ein Jahrzehnt in Schweden, oft der Frauen wegen, mit denen ich zusammen war. Eine betrog mich nach Strich und Faden, sie lebt noch immer in dem Haus in Olevano bei Rom, das einst auch mir gehörte. Andere Frauen betrog ich, als wollte ich mich rächen.
Nach der deutschen Vereinigung - "Wieder-Vereinigung" sage ich nicht, denn das trifft ja nicht zu – wählten mich die Autorinnen und Autoren beider Seiten zu ihrem ersten gemeinsamen Vorsitzenden. Und da in dieser Zeit des Aufbrauchs vieles möglich war, was vorher undenkbar schien, organisierten wir Dichter zwei internationale Kreuzfahrten, eine rund um die Ostsee, ein zweite rund ums Schwarze Meer und die Ägäis. Und gründeten dann die internationalen Schriftsteller- und Übersetzerzentren in Visby/Gotland und auf Rhodos, die heute UNESCO-Status haben. Ihr könnt dort hinfahren, wenn ihr wollt, mit Kollegen und Kolleginnen aus aller Welt in Kontakt treten und Euer Schreiben bereichern.
Außerdem habe ich noch an drei Verlagsmodellen mitgewirkt, bei denen Autoren Autoren herausgaben bzw. -geben. Man kann sagen, ein Leben in Literatur, wie auch eine CD von mir heißt. Dass ich chronisch krank bin (meine Krankheit heißt ET und hat Seltenheitswert), schränkt mich im Alter zwar ein, zeigt mir aber jeden Tag, welch ein Glück man hat, im Alten Europa zu leben, wo so etwas behandelt werden kann.
Mit meiner ersten Frau Ursula Kirchberg, einer wunderbaren Buchillustratorin, habe ich einen Sohn, der IT-Ingenieur bei der Lufthansa geworden ist. Wie er das geschafft hat, ist mir ein Rätsel. Mit meiner jetzigen Lebensgefährtin Birgitta Sjöblom lebe ich seit 1996 unverheiratet zusammen, "sambo", wie die Schweden sagen. Sie hat das Visby-Zentrum mit aufgebaut. Wir haben uns auf Englisch kennengelernt und verständigen uns in dieser weitriechenden Sprache noch immer miteinander, auch, damit keiner sprachlich im Vorteil ist.
Von 2010 bis 2021 haben wir in Salzwedel gelebt, ebenfalls eine Hansestadt. Jedoch eine in der Ex-DDR. Das merkt man noch heute an Verhaltensweise und einer Ostalgie, die sich aus verletztem Stolz und neuem Anderssein speist. Dass zusammenwächst, was zusammen gehört, sah ich da kaum. Nur ansatzweise spürte man einen gesamtdeutschen Alltag. Vielleicht braucht es noch ein oder zwei Olympia-Generationen oder Naturkatastrophen, die uns daran erinnern, dass wir, wenn überhaupt, sie nur gemeinsam bewältigen.
Gerade ist der Roman meines Lebens erschienen: "Schlemihls Erzählungen. Ein fingiertes Tagebuch", schön gebunden und mit Bändchen. Mein Leben ist mir schon immer wie ein Roman vorgekommen, in dem die Zeiten asychron durcheinandergehen und alles mit jedem eine kuriose Symbiose eingeht. Traum und Leben sind schwer zu unterscheiden, auch wenn man sich ans Faktische hält. Doch hätte unser Dasein keine Interpretation nötig, bräuchten wir auch keine Romane.
Allerdings, eine politisch-historische Unterfütterung benötigt man schon, sonst gerät man ins Schwimmen. Das meiste davon verdanke ich meinem verstorbenen Freund und Mentor Walter Grab, Historiker aus Tel Aviv. Mit ihm habe ich die wichtige Anthologie "Noch ist Deutschland nicht verloren" veröffentlich, die unterdrückte politische Lyrik dieser unserer Heimat aufspürt. Sie wurde in mehreren Auflagen und Verlagen von Hanser bis Oberbaum veröffentlicht und ist in den Uni-Bibliotheken in aller Weltm ein begehrtes Referenzbuch.
Zur Zeit gebe ich zusammen mit anderen im Verlag Expeditionen Hamburg eigene und fremde Bücher heraus, die sich mit unserer Gegenwart beschäftigen. Für mich nichts Neues: Die AutorenEdition (AE) im C. Bertelsmann-Verlag hatte ich Anfang der Siebziger initiiert, ebenso die Edition >einst@jetzt<, als in den Neunzigern Bod aufkam. Das war in Schweden. Ende des Jahrtausends habe ich dann diese Technik in Deutschland eingeführt, zusammen mit BoD-Norderstedt, die clever das Kürzel für sich usurpierten.
Wie auch immer, dank BoD fühlt sich der freie Autor etwas freier.