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Großbeeren

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Großbeeren

Hinter Glas beobachtete ich die Szenerie auf der Straße, die hauptsächlich aus Lieferwagen bestand. Kurz war ich versucht, eine Strichliste zu führen. Es lag immer ein leeres Blatt in Reichweite, damit ich Einfälle notieren konnte, die es wert waren, festgehalten zu werden. Aber ich hatte nie einen Einfall gehabt und es war kaum anzunehmen, dass jetzt irgendetwas Bedeutsames passieren würde, das sich aufzuschreiben lohnte. Graphiken gab es genug, zu mehr Verständnis hatten die auch nicht geführt.
Ein Stück die Straße runter setzte ein Auto zu einem quälend langsamen Einparkmanöver an. Dahinter hupte ungeduldig ein Lieferwagen. Alle wollten irgendwo hin. Dauernd mussten Dinge von A nach B transportiert, Distanzen überbrückt werden. Letzen Endes war alles Logistik. Das ganze Leben: Sehnsucht nach etwas anderem, einem anderen Ort.
Lange hatte ich selbst mit dem Gedanken gespielt, nach Deutschland zu ziehen. Dort hatte ich Martin kennengelernt, einen Mann, der Wörter wie Veränderungspotential und Sehnsucht in einem Atemzug nannte und ein neues, ein anderes Leben versprach. Er hatte dieses Versprechen nicht gehalten. Inzwischen vermied ich es, daran zu denken.
Stattdessen dachte ich: Wie viele Pakete passen in einen Lieferwagen? Wie viele in einen Container? Wie viele Container passen auf ein Schiff? Wie viele Schiffe fahren durch den Suezkanal? Und kommt alles zum Stillstand, wenn so ein Schiff steckenbleibt? Mittelmäßige Gedanken. Nichts, was als Einfall durchgehen könnte, denn es war schon mal ein Schiff im Suezkanal steckengeblieben, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als die Distanz zwischen Martin und mir unüberbrückbar wurde, und das hatte nichts am Lauf der Geschichte geändert. Allerdings war die Welt damals schwer krisengebeutelt und das allgemeine Denken von der wachsenden Überzeugung beherrscht, ein radikaler Schnitt sei nötig und alles müsse anders werden. Die ganzen leeren Versprechungen über Fortschritt und Verbesserung gerieten danach unverzüglich in Vergessenheit.
Ein Lieferwagen hielt vor dem Haus gegenüber. Ich sah dem Paketboten zu, der den Motor laufen ließ, während er aus dem Auto stieg, die Fahrertür zuschlug und die hintere Tür öffnete, sodass ich freien Blick auf die blassbraunen Pakete im Laderaum hatte. Eins nahm er heraus und ließ die Tür offen, als er die Straße überquerte.
Es klingelte. Ich schreckte zusammen. Das muss ein Irrtum sein, dachte ich, während ich weiter die Pakete im Laderaum anstarrte, die schwarzen Abgaswolken aus dem Auspuff. Es konnte nicht für mich sein, ich erwartete nichts mehr, schon seit sieben Monaten ungefähr, seit sich herausgestellt hatte, dass die Absichtserklärungen während der Krise bloß leere Worthülsen gewesen waren. Damals hatte ich einfach selbst einen radikalen Schnitt gemacht. Ich hatte mir vorgenommen, keine Sehnsucht mehr nach etwas anderem, einem anderen Ort zu haben, nur noch nach bedingungsloser Leere, dem makellosen Nichts einer unberührten Schneefläche, die zu betreten einem wie ein Sakrileg vorkäme. Ich hatte mich von jeglicher Sehnsucht befreit, indem ich tatenlos Posten hinter meinem Fenster bezogen, Martin aus meinen Gedanken verbannt, keine Nachrichten und SMS mehr gelesen und mich komplett aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hatte, auch wenn mir mit einigem Nachdruck eingebläut wurde, dass das nicht mehr nötig sei.
Meines radikalen Schnitts ungeachtet klingelte es ein zweites Mal. Und meinen guten Vorsätzen zum Trotz stand ich kurz darauf unten an der Tür.
Hier bräuchte ich ne Unterschrift, sagte der Paketbote. Er drückte mir einen Plastikpin und einen Scanner mit Display in die Hand.
Ich hab aber gar nichts bestellt, sagte ich.
Er zuckte die Schultern. Ich kritzelte meine Unterschrift auf das Display, aber es schien nichts zu registrieren.
Das tut’s nicht, sagte ich, mit Blick auf das leere Display.
Egal, sagte der Bote. Er überreichte mir das Paket und ging kommentarlos zu seinem Wagen zurück.
Da stand wirklich mein Name. Eine Absenderadresse aus Deutschland. Während ich die Treppe zu meiner Wohnung hochging, schüttelte ich das Paket. Es raschelte. Vielleicht wollte mich jemand erreichen? Jemand, der an mich dachte? Leise regte sich etwas in mir, als hätte ich doch noch Erwartungen. Eine unberührte weiße Schneefläche. Ich rief mich zur Ordnung. Dachte an die aufgeblasenen Vorhaben während der Krise, an Martins leere Worte und an die Frau, die ihm lauter hanebüchene Verschwörungstheorien eingeflüstert hatte, wodurch er sie letztendlich interessanter fand als mich. Dachte an das Gefühl, das mich noch immer manchmal überfiel: alle Schlachten verloren zu haben. Mein persönliches Waterloo im Kleinen.
In dem Paket waren diese Styroporbröckchen, die zerbrechliche Objekte während des Transports schützen sollen. Sonst nichts. Ich starrte sie eine Weile an und versuchte zu erfassen, was das zu bedeuten hatte. Mein Blick glitt zur Absenderadresse: Großbeeren.

Danach hörten die Lieferungen nicht mehr auf. Ich konnte kein Muster dahinter erkennen. Manchmal kamen zwei Pakete in einer Woche, manchmal drei Wochen lang nichts. Wenn ich durchs Fenster sah, wie ein Lieferwagen bei seiner gps-gesteuerten Choreographie vor dem Haus hielt, wurde ich nervös. Ich verfolgte jede Bewegung des Paketboten, wie er den Motor laufen ließ, die Fahrertür zuschlug, zur hinteren Tür ging - durchkomponierte Handlungen, mit denen der Mensch versucht, seinem ewigen Herumirren Struktur zu verleihen -, ich sah den Qualm aus dem Auspuff, die offene Tür und die Pakete im Laderaum und murmelte vor mich hin, der Paketbote müsse das Paket wieder mitnehmen, ins Auto steigen und sich auf und davon machen, weit weg, nach Osten, Richtung aufgehender Sonne, denn was war das bitte für ein Dasein, sich mit nichtssagenden Paketen für undankbare Empfänger abzuplagen? Dann die Türklingel und seine Gleichgültigkeit, wenn er mich auf dem dauerdefekten Scanner unterschreiben ließ, und das Paket aus Großbeeren, das wieder mit Styropor gefüllt sein würde; das konnte ich jedes Mal aus dem fehlenden Gewicht schließen.
Die Lieferungen machten mir Angst. Ich war mir nicht sicher, wie viel Styropor ich noch verkraften würde. Irgendwann dachte ich an nichts anderes mehr. Ich stellte mir die Fabriken vor, in der die Styroporbröckchen hergestellt wurden. Die Lagerhallen, bis unters Dach gefüllt mit Kartons voller Styropor. Die Gabelstapler, mit denen die Kartons in Container verfrachtet wurden, die Kräne, die sie auf Containerschiffe luden. Der Schiffsbruch, der sich irgendwann ereignen würde, und wie das Styropor die Flüsse verstopfte, die Buchten, den Suezkanal. Die weißen Bröckchen, die bei Flut an Land gespült wurden. Ein Deich aus Styropor. Dieses ganze sinnlose Füllmaterial. Es gab kein Entrinnen.
Bei jedem Paket wuchs meine Panik. Um die Grenzen meines zurückgezogenen Lebens zu verteidigen, beschloss ich, keine Pakete mehr anzunehmen. Ein paar landeten in der Postfiliale, wo ich sie nicht abholte. Aber die neunte Lieferung nahm meine Nachbarin an. Sie überreichte mir das Paket mit unangenehmem Nachdruck, als ich auf dem Rückweg vom Leergutcontainer ihre Etage passierte. Fast, als hätte sie mir aufgelauert. Martin hatte mal erzählt, Postboten würden eingesetzt, um zu kontrollieren, ob Leute, die zu Hause rumhocken und nichts tun, für dieses Nichtstun auch wirklich zu Hause bleiben. Das Prekariat kontrolliert den Sozialschmarotzer. Ich hatte wenig Anlass anzunehmen, dass sich daran inzwischen etwas geändert hatte oder dass Nachbarinnen nicht Teil dieses Komplotts sein könnten.
Nachdem meine Nachbarin mich abgefangen hatte, nahm ich zum ersten Mal seit Monaten mein Handy wieder in Betrieb. Ich gab die Absenderadresse der Pakete ins Suchfenster ein. Großbeeren. Ein kleines Städtchen in einem beinahe leergefegten Brandenburg, einen Steinwurf von Berlin entfernt. Unter der angegebenen Hausnummer waren mehrere Betriebe aufgelistet: Spedition, Logistik, Transport.
Ich verfasste eine E-Mail an alle drei mit der Frage, warum sie mir Styropor zuschickten und der Bitte, das in Zukunft zu unterlassen.
Ich schaffte es nicht, die Mails in meinem Postfach zu ignorieren, wie ich es mir eigentlich geschworen hatte. Dreiundfünfzig ungelesene Mails. Größtenteils Newsletter. Dann acht Mitteilungen, am Vortag sei ein Paket geliefert worden oder ein Paket warte in der Postfiliale auf mich. Und schließlich eine automatische Antwort, frisch eingetroffen, von einem der Betriebe aus Großbeeren: Standardversand leicht gemacht! Ihr Anliegen ist uns wichtig. Wir bearbeiten Ihre Anfrage innerhalb von fünf Arbeitstagen.
Nicht eine einzige Mail von Martin. Vielleicht war das der Grund, warum ich Facebook öffnete, allen Vorsätzen zum Trotz. Ich scrollte durch meinen Feed, der nach wie vor aus denselben leeren Versprechungen bestand: der hitzige Sommer mit Goldrand, die rauschenden Feste, die Grenzen, die dringend überwunden werden mussten. Nach Deutschland? Ich sah die letzten PNs, die ich verschickt hatte, vor Monaten. Von Martin war nie eine Antwort gekommen.
Großbeeren hatte eine Facebookgruppe. Meine Beitrittsanfrage wurde innerhalb von einer Stunde genehmigt. An diesem Tag gab es zwei neue Beiträge:
Wir suchen dich! 450-Euro-Hilfskraft.
Rathaus aktuell für Publikumsverkehr geschlossen. Termine ausschließlich nach vorheriger Vereinbarung.
Ich schrieb einen Post über die leeren Pakete. Nach einer Stunde hatte ich ein Like, eine Umarmung, den Kommentar: Sie sind wohl nicht von hier, oder? mit einem Link zum Umschlagbahnhof Großbeeren, und eine PN.
Robert: Hübsches Foto, wie wär’s mit einem Kaffee?
Dieser Mann wollte mich treffen? Ich erschrak, legte das Handy weg, setzte mich eine Weile ans Fenster, wo mich das pausenlose Hin und Her der Lieferwagen ganz fahrig machte, und beschloss dann, die Pakete, die ich die ganze Zeit leicht chaotisch in einer Zimmerecke aufbewahrt hatte, an der Wand zu stapeln. Hatte Martin nicht behauptet, wir müssten neue Formen finden? Die Pakete hatten jedenfalls immer noch dieselben Maße wie zu Krisenzeiten, was mir gelegen kam; es erleichterte das Stapeln.
Die Nervosität blieb. Ich griff wieder zu meinem Handy und schrieb Robert eine PN, in der ich ihm von den ungefragten Paketen aus Großbeeren erzählte.
Was ist denn drin?, fragte er.
Nichts, schrieb ich.
Nichts?
Nur Styropor.
[6] So’n Quatsch. – Lach-Emoji.
Robert erzählte mir, er sei nach der Wende jahrelang arbeitslos gewesen, habe die Region leerlaufen sehen und liefere jetzt seit ein paar Jahren als Subunternehmer, meistens sogar als Subsubunternehmer, Pakete aus. Er habe schon alles Mögliche transportiert.
Aber mit Styroporpaketen herumbrettern, das ist mir auch neu.
Er beklagte sich über die schlechten Löhne im weitestgehend privatisierten Postsektor, Kollegen würden im Lieferwagen schlafen und beiläufig ließ er fallen, es sei Napoleon gewesen, der aus der Post eine öffentliche Dienstleistung gemacht habe. Von da an habe im ganzen Land ein einheitlicher Tarif gegolten. Standardversand.
Bei Großbeeren wurde Napoleons Armee geschlagen! – Bizeps-Emoji.
Waterloo war mir ein Begriff, aber die Schlacht von Großbeeren sagte mir nichts.
Ein historischer Ort!, schrieb Robert. Lohnt sich. Komm doch mal vorbei. Ist ja jetzt wieder alles erlaubt.
Als Antwort schickte ich ihm meine Adresse, in der Hoffnung, mal etwas anderes in Empfang zu nehmen als Styropor.

Danach kam der Paketbote nicht mehr. Keine Styroporlieferungen, kein Paket von Robert. Ich saß am Fenster, sah hinaus, wo mir die Enttäuschung schöne Augen machte bei jedem Lieferwagen, der nicht vor meiner Tür hielt, sondern den Motor vor den Häusern der Nachbarn laufen ließ und höhnische Rauchsignale ausstieß. Mich übermannte eine innere Leere.
Robert meldete sich nicht noch mal. Einer der Betriebe, denen ich gemailt hatte, forderte mich dringend auf, mein Anliegen über das Online-Serviceportal abzuwickeln. Die anderen beiden schwiegen sich aus. In der Großbeeren-Facebookgruppe herrschte miese Stimmung. Das Siegesfest, die alljährliche Gedenkfeier anlässlich der Schlacht gegen Napoleon, war schon zum zweiten Mal in Folge abgesagt worden. Es tröpfelte ein paar Schmähkommentare (So viel ist Geschichte unserer Gesellschaft noch wert. – Traurig. – Ich sag mal so: alles dichtmachen!) Wie leer das Dasein mancher Leute doch sein musste, die sich Jahr für Jahr daran ergötzten, sich in historische Gewänder zu werfen und in einem Feld in der Nähe ihres Wohnortes eine Schlacht nachzuspielen, an der sie nicht beteiligt gewesen waren, zu der sie keinen Beitrag geleistet hatten und die den Lauf der Dinge kaum verändert hatte. Und trotzdem wünschte sich ein Teil von mir, bei den Feierlichkeiten dabei zu sein.
Ich legte mein Handy weg. Draußen fuhr ein Lieferwagen vorbei. Er hielt nicht vor meiner Tür. Ich stand auf, ging zur Zimmerecke und öffnete den gesamten Stapel Pakete. Die Styroporbröckchen schüttete ich auf den Boden. Sie leuchteten blässlich im Lampenschein. Eine weiße Fläche. Ich ließ mich hineinfallen. Es knirschte unangenehm. Ich drückte Spuren ins Weiß, rollte durch das schützende Material, bedeckte mich damit. Alles blieb, wie es war. Die Leere breitete sich weiter in mir aus.

Ist es diese Leere, die mich auf die Straße getrieben hat? Ich drücke mich eine Weile vor den Nachbarhäusern herum, erkunde die Route der Lieferwagen. Überall hasten Menschen an mir vorbei, schnell, schnell, sie müssen irgendwo hin, immer unterwegs. Alles ist wie früher. Trotzdem denkt ein Teil von mir, diese Menschen seien, genau wie ich, gerade erst aus einer tiefen Abschottung erwacht. Und ihnen würde, genau wie mir, zum ersten Mal bewusst, dass jeder radikale Schnitt bloß aufgesetzt ist. Die ganze Zeit denken wir, am Ende zu sein. Wollen entweder das ultimative Erlebnis oder die Apokalypse. Und dann geht alles einfach weiter.
Es dauert nicht lange, bis ein Lieferwagen zwei Häuser weiter sein Tempo drosselt. Ich weiß, was jetzt kommt: Anhalten, Aussteigen, ein paar schnelle Schritte zum Laderaum, das Paket, die Strecke zur Haustür des glücklichen Empfängers. Währenddessen der brummende Motor, die entweichenden Auspuffgase. Jetzt, wo ich das Szenario zum ersten Mal nicht hinter Glas beobachte, rieche ich den Diesel.
Sobald der Paketbote die Straße überquert, setze ich mich in Bewegung. Ich muss mich beeilen. Es scheint ein leichtes Paket zu sein, er hält es locker in einer Hand. Ich renne zum Lieferwagen, öffne die Fahrertür, steige ein, löse die Handbremse und trete aufs Gaspedal. Irgendetwas erfüllt mich, vielleicht Robert oder Martin, oder einfach die Aussicht, wegzukommen. Letzten Endes ist alles der Versuch, Distanzen zu überbrücken. Logistik.
Zwischen Fahrerkabine und Laderaum gibt es kein Fenster. Ich sehe nicht, wie die Pakete aus der offenen Tür fallen und der Lieferwagen sich in den Kurven entleert. Ich trete das Gaspedal weiter durch. Den Weg kenne ich, er war der letzte Sucheintrag, bevor ich mein Handy wieder ausgeschaltet habe. Die Route habe ich abgeschrieben, auf das leere Blatt, das ich für Einfälle bereitgelegt hatte, es steckt zusammengefaltet in meiner hinteren Hosentasche. 750 Kilometer in östlicher Richtung, da liegt Großbeeren.

Übersetzung: Ruth Löbner

Der Text entstand im Rahmen des Projektes Besmette Stad/Befallene Stadt von deBuren:

https://deburen.eu/project/50/besmette-stad

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