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Quatsch, Kroll und »Satanella«

Informationen

Literaturangabe:

Gutzkow, Karl
Berlin - Panorama einer Weltstadt, hrsg. von Wolfgang Rasch, Berlin 1995

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Quatsch, Kroll und »Satanella«

Quatsch, Kroll und "Satanella"

Es gibt ein Wort, das man nur in Berlin versteht. Aber auch nur in Berlin finden sich Erscheinungen, die man damit bezeichnen muß. Es ist dies der Ausdruck: Quatsch.

Quatsch ist der Anlauf zum Witz, der, auf dem halben Wege stehen bleibend, dann natürlich noch hinter dem halben Verstande zurückbleibt. Denn man kann eine halbwegs vernünftige Meinung, ein halbwegs ernstes Urteil noch immer als eine leidliche Manifestation gesunder Vernunft gelten lassen. Der halbe Verstand gehört oft der Mystik an, die bis auf einen gewissen Punkt auch gewöhnlich eine Art Logik für sich hat. Der halbe Witz aber ist schrecklich. Er ist das absolut Leere. Er macht die Voraussetzung, etwas Apartes bringen zu wollen und bleibt in der Grimasse stecken. Er schneidet ein pfiffiges Gesicht und sagt eine Dummheit. Quatsch ist nicht etwa der Unsinn. Es lebe unter Umständen der Unsinn! Den Unsinn haben Ästhetiker göttlich genannt, den echten, wahren, natürlichen Unsinn, der die Hälfte z. B. des Wiener Witzes ausmacht. "Ein vollkommener Widerspruch fesselt Weise und Toren", sagt Goethe; aber der relative Widerspruch ist das ewig Gesuchte, das niemals Zutreffende, das herren- und ziellos Herumtaumelnde und Faselnde, mit einem Wort das Quatsche.

Berlin ist groß im Quatschen. Es kichert über jede Grimasse zum Witz, wenn auch der Witz ausbleibt. Irgendeine zweimal wiederholte absonderliche Redensart findet unverzüglich ihr Publikum. Man findet hier Menschen, die für witzig gelten, weil sie keinen Satz enden wie andere Menschen, jedes Ding mit einem andern Namen nennen, Begriffe verwechseln und das Ernsteste im Tone der Ironie sagen. Es herrscht bei ihnen ein ewiges Vermeiden der geraden Linie, die andere Menschen gehen; sie fallen, sie stolpern über sich selbst; die Berliner nennen das alles witzig, während ein Vernünftiger es Quatsch nennen muß. Ich sah "Müller und Schultze bei den Zulu-Kaffern". Der Gegensatz war burlesk genug. Die wilden Hottentotten mit ihrem rasenden Tanze, ihrem Kriegsgeschrei, ihrem gellenden Pfeifen, mit Gebärden, die eine Hetze wahnsinniger Affen zu zeigen schienen und im Grunde Furcht und Entsetzen, Grauen und Mitleid, solches Gebaren menschlich nennen zu müssen, einflößte, und unter ihnen die beiden Stereotypen des "Kladderadatsch", zwar ziemlich treu im Äußern, aber in jedem Worte, das sie sprachen, Vertreter des absolut Quatschen bis zum Ekel. "Schultze!" "Müller!" "Müller!" "Schultze!" "Bist du et?" "Ja, ik bin et." "Hurrjeh!" usw. Man denke sich einen solchen Scherz auf dem Palais-Royal-Théâtre in Paris, wir wollen nicht einmal sagen mit Levassor und Ravel, sondern nur mit Sainville und Kalekaire! Das Krollsche Theater mag die Mittel nicht besitzen, gute Komiker zu bezahlen, aber der Text von Cormon, Clairville, Dennery und wie die Fabrikanten solcher Gelegenheitsscherze in den kleinern Pariser Theatern heißen, würde nicht so unbedingt nur fade sein. Man muß das Pariser Oh! Oh! gehört haben bei jedem abblitzenden Einfall eines solchen Unsinn-Textes, um zu verstehen, wie die Franzosen auch bei solchen Veranlassungen witzig und geistreich sein können. Diese Berliner Dramatisierung der Zulu-Kaffern war aber so widerwärtig, als wenn man sich vorstellen wollte, der Naturgeist selbst erhübe einmal seine gewaltige Stimme, finge zu reden an und verwechselte dabei mir und mich.

Das Quatsche ist doch wohl in den Berliner dadurch gekommen, daß sein ursprünglich einfacher, sogar naiver und kindlicher Sinn den Anforderungen einer immer mehr anwachsenden und über seine geistige Kraft hinausgehenden Stadt nicht gleichkommt. Schon das verdorbene Plattdeutsch, das den Volksjargon bildet, trägt den Stempel der Unzulänglichkeit an sich. Es ist die absolute Sprache der Unterordnung, der Beschränktheit; es ist die Sprache der Hausknechte, Hökerinnen, kleinen Rentiers, der Kinder, des in die Stadt versetzten Bauers. Die Sprechweise der Gebildeten trägt so sehr noch die Spuren vom Tonfall des Volksdialekts, daß es zu einer ganz freien Sprachbehandlung im Sinne des reinen Oberdeutschen hier nur bei sehr wenigen kommt. Wird nun ein so beschränktes und in seiner Art doch wieder sehr scharf ausgeprägtes Sprachmaterial bestimmt, dem großen Ideenkreise einer Stadt, die eine Hauptstadt der deutschen Intelligenz sein will, zum Ausdruck zu dienen, so entsteht dadurch jenes absolut Alberne, das man eine Art Geistespatois nennen möchte. Diese Mißgeburt entstand erst mit der Zeit, wo Berlins Trieb nach öffentlicher Bewährung wuchs. Seine Bevölkerung emanzipierte sich zum Großstädtischen. Die Schusterjungen machten wohl die öffentliche Meinung schon zu Friedrichs des Großen Zeit; der König sagte den Katholiken, die das Fronleichnamsfest öffentlich feiern wollten: Er hätte nichts dagegen, wenn die Schusterjungen es nicht hinderten. Allein die literarische Vertretung des Schusterjungentums ist neu und schreibt sich von den bekannten Eckensteherwitzen her. Dieser Fortschritt war an sich nicht unwichtig. Es ist mit diesem Neu-Berlinertum viel gesunde Vernunft zur Geltung gekommen und wer würde verkennen, daß "Kladderadatsch" ganz Deutschland, von Saarlouis bis Tilsit, vorm Einschlafen geschützt hat? Aber die "Gelehrten des Kladderadatsch" sind witzige Ausländer, die sich nur berlinischer Formen bedienen. Ohne die Schärfe dieses Blattes würden diese Formen, wie die Erfahrungen auf den neueröffneten hiesigen Bühnen zeigen, ganz ins Quatsche zurückfallen.

Die Art, wie hier in neuerer Zeit Bühnen eröffnet worden sind (um diese Fährte des Geschmacklosen weiter zu verfolgen), ist eine der unglaublichsten Inkonsequenzen einer Regierung, die in allen andern geistigen Fächern so außerordentlich schwierig ist. Das Ministerium Ladenberg ging auf eine so gewissenhafte Revision der Theaterkonzessionen aus, und in Berlin durften Kaffeehäuser und Tanzlokale sich in Theater verwandeln! Es ist noch ein wahres Glück, daß unser Schauspielerstand durch die sogenannten Tivolitheater nicht ganz verwildert ist, was freilich in einigen Jahren immer mehr der Fall sein wird; es finden sich immer noch einzelne Darsteller, die den Ehrgeiz besitzen, mit ihrer Kunst nicht ganz zugrunde zu gehen. Kaum ist die nächste materielle Not befriedigt, so werden sie bestrebt sein, den glücklicher gestellten Kollegen an den Hof- und großen Stadttheatern gleichzukommen und Besseres und Edleres zu spielen. So hat sich das hiesige Friedrich-Wilhelmstädtische Theater, besonders durch die Bemühungen der trefflichen HH. Görner und Ascher, zu einer überraschenden Geschmacksrichtung, die sich in den schwierigsten ästhetischen Aufgaben versucht, emporgearbeitet, allein im Sommer verwandelt es sich wieder in ein Parktheater und noch ist die Bevölkerung zu sehr geneigt, an dem Ton Freude zu haben, der auf einigen andern Theatern im Sinne des Quatsch angeschlagen wird. Theater über Theater! Hier gehen Menschen herum, die, ohne die geringste geistige Bildung, ohne Geldmittel sogar, eine Theaterkonzession in der Tasche haben; andere glauben sie ohne weiteres durch ein geeignetes Fürwort an hoher Stelle erlangen zu können. Einen Zirkus zu eröffnen oder eine Bühne scheint nach den Gesetzen der Gewerbefreiheit einerlei und allerdings hat jeder Spekulant recht, wenn er sich auf seine Vorgänger beruft und z. B. fragt: Wie kommt der Cafétier Kroll zu einer Bühne, wie kommen zwei Gebrüder Cerf, Handlungsbeflissene, dazu, wie kommt jener einst zum Gespött der Vorstädte deklamatorische Vorstellungen gebende Rhetor Gräbert dazu? Wer ist Herr Carli Callenbach, der auch ein Theater besitzt? Diese Anarchie auf dem dramatischen Gebiete macht dem Freunde der Literatur ganz denselben Eindruck, wie es dem Freunde militärischer Ordnung peinlich war, sogenannte Bürgerwehr in rundem Hut und Überrock die Armatur der königlichen Zeughäuser tragen zu sehen. Nicht daß die Bürgerwehr als solche zu verwerfen war, aber sie bedurfte der Organisation, sie bedurfte jener Haltung, die dem Waffendienste geziemt; ebenso verletzt wendet sich die dramatische Muse ab, wenn man ihr opfert wie dem Gambrinus in bayrischen Bierstuben. Man kann die treffliche Organisation der Pariser Theater mit diesen Polkawirtschaften Thaliens in keine Vergleichung bringen, man vergleiche wenigstens die Theater der Wiener Vorstädte. Die Josephstädter Bühne ist vielleicht diejenige unter ihnen, die am tiefsten steht und doch hat sie eine bestimmte Spezialität; manches Talent, z. B. Mosenthals, entwickelte sich zuerst auf ihr, "Deborah" erschien zuerst auf der Josephstädter Bühne.

Das Repertoire des Königlichen Theaters fand ich im Schauspiel sehr wenig anziehend, "Waise von Lowood", "Deutsche Kleinstädter", "Geheimer Agent" usw. Es herrscht hier eine Unsitte, mit der sich kein noch so wohlmeinender ästhetischer Sinn vereinbaren läßt, nämlich die Befolgung der Spezialbefehle, welche die einheimischen und fremden höchsten Herrschaften über die Stücke aussprechen dürfen, die sie zu sehen wünschen. Es ist dies eine Form des Royalismus, die in der Tat etwas auffallend Veraltetes hat und in dieser Form in keiner Monarchie der Welt vorkommt. Bald heißt es: "Auf höchstes Begehren", bald: "Auf hohes Begehren", bald: "Auf Allerhöchsten Befehl", bald nur einfach: "Auf Befehl", unter welcher bescheidenem und auch seltener vorkommenden Form sich die Wünsche des Königs zu erkennen geben. Was ist das aber für eine Unsitte, daß die Kammerherren auch jeder durchreisenden, prinzlichen Herrschaft die Stücke bestellen, welche diese zu sehen wünschen! Die geistigen Armutszeugnisse, die sich Prinzen, Prinzessinnen, ab- und zureisende kleine Dynasten und Dynastinnen mit ihren Wünschen um dieses Ballet, um jene Oper, um eine kleine Posse geben dürfen, sind schon an sich kläglich und fallen ganz aus der Rolle, welche die Monarchie heutigen Tages zu spielen hat; aber der Gang der Geschäfte wird dadurch auch auf eine Art unterbrochen, unter welcher Kunst und Publikum leiden. Hat eine Prinzessin eine Empfehlung von auswärts bekommen, die ihr eine Schauspielerin oder Sängerin überbrachte, so bestellt sie die Stücke, in denen sie auftreten soll. Kommt der Hof aus Mecklenburg-Strelitz, so legt man ihm die Stücke vor, die gerade leicht anzurichten sind, er streicht sich einige an und man liest: "Auf höchstes Begehren: ?Der geheime Agent?", ein Stück, das jetzt auf jedem Liebhabertheater gesehen werden kann. Der König besitzt so viel Geist, daß ihm diese Manifestationen des Privatgeschmacks seiner Brüder oder Neffen oder Vettern ohne Zweifel viel Heiterkeit verursachen; er sollte aber einen Schritt weitergehen und diesen Mißbrauch der von den Kammerherren veränderten Repertoires im Interesse der Kunst und des Publikums verbieten. Es macht sich dies öffentlich kundgegebene Denken und Mitreden der "Herrschaften" in einem Staate, der ja doch wohl ein konstitutioneller sein soll, sehr wenig nach dem Geiste der in ihm allein anständigen Öffentlichkeit.

Natürlich ergibt sich unter solchen Umständen, wo die Großen und Mächtigen öffentliche Fingerzeige über ihren eigenen Geschmack geben dürfen, die Förderung des Gedankenvollen und Notwendigen an einer Bühne weit schwieriger. Wenn sich die Großen "Satanella" oder "Aladins Wunderlampe" kommandieren, wenn Pferde auf dem Königsstädter Theater agieren, Klischnigg, der Affenspieler, und die Zulu-Kaffern auf dem Krollschen Theater ihr Wesen treiben, kann eine erste Aufführung eines neuen Dramas im Schauspielhause nur ein kleines Publikum finden; vor einem halbbesetzten Hause sah ich die erste Aufführung des "Demetrius" von Hermann Grimm. Es war ein kleines Geheimratspublikum aus der Gothaer Richtung; ein paar Offiziere, einige Professoren, wenig Studenten, auf zehn Menschen immer ein bestallter Rezensent. Die Darstellung war ebenso warm wie die Ausstattung glänzend. Das funkelte von Farbenpracht, Frische und Neuheit der Kostümstoffe, überall, in den kleinsten Ausschmückungen der Wände zeigte sich ein vorhergegangenes Studium der betreffenden Geschichte, Sitten und Kleidertrachten der Zeit, in welcher die Handlung spielte. Das Stück war eine Anfängerarbeit, die kaum Talent verriet (nur aus Überfülle sprudelt der Quell einer geistigen Zukunft, nicht aus einer Dürftigkeit, wo sich Armut den Schein der Einfachheit geben will), aber die Darstellung ging von einem schönen Glauben an den Wert des Stückes aus; nirgends sah man ihr eine Mißstimmung über die aufgebürdete, undankbare und für die Zeit der besten Saison verlorene Aufgabe an und mit dem halbunbewußten Pflichtgefühl verband sich die noch immer außerordentlich ansprechende Natürlichkeit der Hendrichsschen Spielweise. Rollen, die keine Schwierigkeiten der Dialektik bieten, wird Hendrichs immer vorzüglich spielen. Dieser Künstler ist ein schwacher Hamlet, aber ein liebenswürdiger und überredender Romeo. In seiner Passivität liegt Poesie und da er nur die Konturen ausfüllt, die der Dichter ihm vorzeichnet, so nimmt er durch die Treue und Einfachheit, mit der er sich seinen Aufgaben unterzieht, überall für sich ein, wo einmal die Macht der Gewöhnung ein Publikum für ihn gewonnen hat, wie in Berlin, Frankfurt und Hamburg, wo er gewohnte Triumphe feiert.

Ich bedauerte, Dessoir nicht beschäftigter zu finden. Dieser geistvolle Schauspieler leidet hier an der üblichen Abgrenzung unserer Rollenfächer. Der Begriff eines Charakterspielers, den er zu vertreten hat, ist so vieldeutig. Man kann Hamlet als Liebhaber spielen, man kann ihn aber auch, wie Dawison und Dessoir tun, als Charakterzeichnung geben. Dessoir ist einer jener Schauspieler, die zwar in jedem Ensemble eine Zierde sein werden, selbst wenn sie nur zweite Rollen spielen, aber Dessoir hat den ganzen Beruf, eine Stellung einzunehmen, die ihn zum Matador einer Bühne macht und jede bedeutende Aufgabe, die nicht ganz dem Liebhaberfache angehört, ihm zuweist. Alle die Rollen indessen, auf die ihn sein künstlerischer Trieb hinführen muß, sind noch im Besitze der Herren Rott und Döring. Es spricht für die geistige Anregung, die Berlin bietet, für die Belohnung, die man im Beifall eines natürlich sich hingebenden Publikums findet, daß Dessoir darum doch seinen hiesigen, höchst ehrenvoll behaupteten Platz mit keinem andern vertauschen möchte.

Vom Schauspiel sagt man an der Verwaltungsstelle, es würde keineswegs vernachlässigt und es hat sich seit Düringers Mitwirkung sehr gehoben; dennoch muß man bei dem Vergleiche der unverhältnismäßigen Pracht, die das Opernhaus umgibt, wünschen, es würde doch endlich ganz von der Musik und dem Ballett getrennt, es verfolgte seine ernste und schwierige Aufgabe für sich allein. Das Schauspiel kann nur ein Stiefkind erscheinen gegen die Art, wie die Leistungen des Opernhauses nicht etwa von der Verwaltung geboten, sondern vom Publikum empfangen werden. Neun glänzende Proszeniumslogen ziehen fast ebensoviel Aufmerksamkeit auf sich wie die Leistungen der Szene. Das Opernhaus ist das Stelldichein der höhern und mittlern Gesellschaft, der stete Besuchsort der Fremden, die Sehnsucht der allgemeinen Schaulust und ein Tempel des Genusses. Nicht Paris und Wien finden im Ballett ihre speziellsten sinnlichen Bedürfnisse so befriedigt wie Berlin. "Satanella" und "Aladins Wunderlampe" sind die Ballette des Tages, die jeder gesehen haben muß und die derjenige, der die Mittel besitzt, nicht oft genug sehen kann. Welche Fülle von Licht, Farbe, Glanz aller Art, von Jugend, Schönheit und Gefallsucht! Die musikalischen Kräfte sind hier so groß, daß z. B. an einem Abend im Opernhause der "Prophet" gegeben werden kann, im Schauspielhause die Zwischenaktmusik zu "Egmont" vollständig da ist und noch in der Singakademie ein Konzert mit der königl. Kapelle begleitet werden kann. Es ist dies nur möglich durch die Unzahl von Akzessisten und Exspektanten, die zwar nicht die Leistungen vorzüglich, aber alle Fächer, auch die des Chors und des Ballettkorps so vollständig machen. Auf dreißig Tänzerinnen, welche die Verwaltung besoldet, kommen ebensoviel junge, hübsche, talentvolle Mädchen, die unentgeltlich mitwirken, nur um der Anstalt anzugehören und vielleicht einmal in die besoldeten Stellen einzurücken. Vor der Auswahl von jungen Leuten, die Eltern und Angehörige "um Gotteswillen" der Verwaltung zu Gebote stellen, kann diese sich kaum retten. Daher auf der Szene die überraschendste Massenentfaltung. Die Kunst der Beleuchtung, der Glanz der Kostüme, der Geschmack der Dekorationen ist aufs höchste getrieben. Da steigen Feentempel aus der Erde, da senken sich Wolkenthrone mit allen Heerscharen des orientalischen Himmels nieder, da leuchten und blitzen unterirdische Grotten von Edelsteinen, da sprudeln natürliche Springbrunnen im Mondenschein und fallen, vielfach gebrochen, in Bassins herab, an deren Rändern die lieblichsten Gestalten schlummern. Jede Demonstration der Szene ist ganz und vollständig. Nirgendwo erblickt man die Hilfsmittel der bloßen Andeutung, die an andern Bühnen die Illusion vorzugsweise in die ergänzende Phantasie der Zuschauer legt; hier ist die Schere der Ökonomie verbannt, die aus Amazonenröcken von heute für morgen Pantalons für Verschnittene macht. Hier fangen alle Schöpfungen immer wieder von vorn an. Kein Kostümier und Dekorateur ist an die Wiederaufstutzung alter Vorräte gewiesen; hier regieren jene Warenmagazine, wo es immer wieder neue Seide, neuen Sammet und für die geschmackvollsten Maler neue Leinwand gibt.

Ein Ballett in Berlin zu sehen wie "Satanella" ist in vieler Hinsicht lehrreich. Dem Ästhetiker macht vielleicht die Grazie und herausfordernde Keckheit z. B. der jungen Marie Taglioni eine besondere Freude, aber die Vorstellung im großen und ganzen mit allem, was dazu auch von Seiten des Publikums gehört, ist kulturgeschichtlich merkwürdig. Dieser Marie Taglioni sollte man eine Denktafel von Marmor mit goldenen Buchstaben und mitten in Berlin aufstellen. Sie tanzt die Hölle, aber sie ist der wahre Himmel des Publikums; sie tanzt die Lüge, aber sie verdient ein Standbild als Göttin der Wahrheit. Denn man denke sich nur dies junge, reizende, übermütige Mädchen mit ihren beiden Teufelshörnchen an der Stirn, mit dem durchsichtigen Trikot, mit den allerliebsten behenden Füßchen, mit den tausend Schelmereien und Neckereien der Koketterie, wie nimmt sie sich unter den ehrwürdigen Tatsachen des gegenwärtigen Berlins aus! Dieser kleine Teufel da, im rosaseidenen, kurzen Flatterröckchen, ist sie etwa die in der Vorstadt tanzende Pepita? Nein, sie ist das enfant chérie der Berliner Balletts, und das Berliner Ballett ist das enfant chérie der Stadt, des Hofs, ist die Kehrseite der frommen Medaillen, die hier auf der Brust der Heuchelei von Tausenden getragen werden. Büchsel, Krummacher, Bethanien, Diakonissen, Campo-Santo, Sonntagsfeier, Innere Mission - was ist das alles gegen einen Sonntagabend, wenn Berlin in "Satanella" seine wahre Physiognomie zeigt! Die Prinzen und Prinzessinnen sind anwesend. Hinten auf der Szene funkelt ein Ordensstern neben dem andern, jede Kulisse ist von einem Prinzen besetzt, der sich mit den kleinen Teufelchen des Corps de ballet unterhält. Der erste Rang zeigt die Generale und Minister, das Parkett den reichen Bürgerstand, die Tribüne und der zweite Rang die Fremden, die den Geist der Residenz in der Provinz verkünden werden, die obern Regionen beherbergen die arbeitenden Mittelklassen und selbst die halbe Armut, der man sonst nur Traktätchen in die Hand gibt, hat hier das Frivolste aller Textbücher mühsam nachzustudieren, um die stumme Handlung der Szene zu verstehen. Welche Wahrheit deckst du doch auf, du echte Berliner, in der Treibhauswärme der speziellsten, königlich preußischen Haus-Traditionen großgezogene Pflanze, Marie Taglioni geheißen! O so werft doch, ihr besternten Herren, eure Masken ab! Verratet doch nur, daß euer Privatglaube nichts mehr liebt als die Götter Griechenlands und daß nicht etwa hier der Kultus des Schönen, sondern draußen euer offizielles System eine Komödie ist.

Satanella verführt einen jungen Studenten, dem das Repetieren seiner Collegia bei Stahl und Keller zu langweilig scheint. Er hat eine Verlobte, die vielleicht Geibel und "Amaranth" liest, aber niemand wird zweifelhaft sein, daß der junge, künftige Referendar besser tut, sich an Heinrich Heine, an die schöne Loreley und die Taglioni zu halten. Wie kalt und nüchtern ist auch die Liebe eines Fräulein Forti gegen die Liebe einer Satanella! Es geht mit letzterer allerdings bergab und geradewegs in die Hölle, aber welcher Zuschauer wird der Narr sein und nicht einsehen, daß der Satan den jungen Lebemann nur anstandshalber holt! Kann das eine echte Hölle sein, in der sogar schon kleine Kinder tanzen, schon kleine Kinder mit Satanshörnern umherspringen und, wie von Selma Bloch geschieht, ein recht widerliches Solo tanzen? Kann das die echte Hölle sein, deren Vorhof die wunderbarste Mondscheinnacht von Gropius mit dem reizendsten Château d´eau und der stillschlummernden antiken Marmorwelt ist? Wird irgend ein Vernünftiger einräumen, daß die Konsistorialräte Recht haben, wenn sie die Venus von Milo eine schöne "Teufelinne", die Antiken des Vatikan überhaupt, wie Tholuck getan, "schöne Götzen" nennen? Verwandelt sich all´ diese Lust und Liebe, all´ diese Freude und Behaglichkeit nicht vielmehr nur rein "anstandshalber", d. h. um dem Vorurteil zu genügen, in Pech und Schwefel, und wird irgend jemand eine solche Vorstellung, wo besternte Prinzen jede Attitüde der Solotänzerinnen beklatschen, mit einer andern Meinung verlassen als der: Ich fühle wohl, es muß einen Mittelweg zwischen Elisabeth Fry und Marie Taglioni, einen Mittelweg zwischen Bethanien und dem Opernhause, einen Mittelweg zwischen den Konzerten des Domchors und Satanella geben? Diese Berliner Ballettabende wecken einen ebenso großen Abscheu vor der mätressenhaften Sinnlichkeit, die durch sie hindurchblickt, wie vor der Kasteiung des Fleisches in der neuen Lehre vom Gefangengeben der Vernunft und dem fashionablen Büßertum, dessen neupreußische Früchte wir hinlänglich kennen.

Beide Extreme gehen in Berlin auf eine erschreckende Art nebeneinander. Sie gehen nicht etwa getrennt nebeneinander, sondern im Durchschnitt in denselben Personen. Die Heuchelei und die Rücksicht auf Karriere mietet sich einen "Stuhl" in der Matthäuskirche, nur damit an dem Schilde desselben zu lesen ist: "Herr Assessor N. N." und die stille Sehnsucht des wahren innern Menschen ist hier doch allein - der Genuß. Dem Genuß bauen auch andere Städte Altäre; die buntesten, mit Rosen geschmückten Altäre baut z. B. Wien. Aber Berlin ergibt sich immer mehr einer Form des Genusses, die nur ihm ganz allein angehört. Es ist dies die Genußsucht eines Fremden, der in vierzehn Tagen durch seine gefüllte Börse alles bezahlt, was man in einer Residenz, die er vielleicht in Jahren nicht wiedersieht, für Geld bekommen kann. Es ist die Genußsucht des Gutsbesitzers, der seine Wolle in die Stadt fährt und sich mit vierzehn Tagen Ausgelassenheit für ein Jahr der Entbehrung auf seiner Scholle entschädigt. Dies Berliner Lecken und Schlecken hat die Bevölkerung so angesteckt, daß man mit Austernschalen die Straßen pflastern könnte. Wohlleben und Vergnügen ist die Devise des hiesigen Vegetierens geworden, nirgend wird man z. B. den Begriff "Bowle machen" jetzt so schleckerhaft ausgesprochen finden. Die Betriebsamkeit wird durch den Luxus wohl eine Weile gestachelt werden, an Großstädtigkeit der Unternehmungen fehlt es nicht; aber wenn die natürlichen Kräfte versagen, tritt das Raffinement ein und das Raffinement des Verkehrs, gewöhnlich Schwindel genannt, soll hier in einem Grade herrschen, der keine Grenzen mehr kennt. Denn was ist die Grenze, die man Bankrott nennt? Aus Nichts werden die glänzendsten Unternehmungen hervorgerufen. Mit einem Besitze von einigen tausend Talern mutet man sich die Stellung eines Kapitalisten zu. Der Kredit gibt nicht dem Redlichen mehr Vorschub, sondern dem Mutigen. Die Entschlossenheit des industriellen Waghalses leistet das Unglaublichste. Wo die größten Spiegel glänzen, wo die goldenen Rahmen tief bis zur Erde niedergehen, wo in den Schaufenstern der Butiken die fabelhafteste Scheinfülle des Vorrats mit dem Geschmack der Anordnung zu wetteifern scheint, kann man gewiß sein, auf hundert Fälle bei neunzig nur eine Grundlage anzutreffen von eitel Luft und windiger Leere.

Es ist mannigfach schon eine Aufgabe der neuern Poesie, der sozialen Romantik geworden, den Lebenswirren, die sich aus solchen Zuständen ergeben müssen, nachzuspüren. Der Totenwagen rasselt still und ernst durch dies glänzende Gewühl. Rauschende Bälle, in der Faschingsnacht ein Wagendonner bis zum frühen Morgen und die Chronik der Verbrechen, die Statistik der Selbstmorde gibt dem heitern Gemälde doch eine dämonische Beleuchtung. Erschütternd war mir z. B. die Nachricht, daß der Philosoph Beneke von der Universität plötzlich vermißt wurde und wahrscheinlich sich entleibt hat. Erst jetzt kam zur Sprache, daß dieser redliche Forscher, der sich in der Erfahrungsseelenkunde einen Namen erworben und besonders auf die neuere Pädagogik einen nützlichen Einfluß gehabt hat, seit länger als zwanzig Jahren nicht endlich ordentlicher Professor werden konnte und sich mit einem jährlichen Gehalte von 200 Talern begnügen mußte! Zweihundert Taler jährlich für einen Denker, während es hier Geistliche gibt, die es auf jährlich 5000 Taler bringen! Beneke war ein Opfer des Ehrtriebes, der hier noch zuweilen einen edeln Menschen ergreift, nicht auf der allgemeinen Bahn des Schwindels gehen zu wollen. Des Mannes Erscheinen war einfach, war fast pedantisch. Er hatte vor zwanzig Jahren die etwas steifen Manieren eines Göttinger Professors nach Berlin gebracht. Seine Vorträge waren etwas ängstlich, seine Perioden allzu gewissenhaft, sein System knüpfte wieder an Hume und Kant an, er ging über die endlichen Bedingungen unsers Denkens nicht tollkühn in die Unendlichkeit; was sind Kennzeichen solcher altbackenen Solidität in einer Stadt wie Berlin, wo nur die glänzende Phrase, der saillante Witz und Esprit, das kecke Paradoxon und jener doktrinäre Schwindel etwas gilt, den Hegel aufbrachte, Hegel, der jahrelang die trivialsten Köpfe, die nur in seiner Tonart zu reden wußten oder die es verstanden, ihrem sogenannten Denken eine praktische Anwendung auf beliebte Religions- und Staatsauffassungen zu geben, zu ordentlichen Professoren befördern konnte! Hamlet ist auch darin das große und Shakespearen auf den Knien zu dankende Vorbild aller mit der Welt verfallenen Geistesfreiheit, daß er auf des Königs Frage, wie es ihm ginge, antwortet: "Ich leide am Mangel der Beförderung."

- Wer ertrüge
Den Übermut der Ämter und den Kummer
Den Unwert schweigendem Verdienst erweist!

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