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Steinhöfel

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Literaturangabe:

Kelletat, Andreas F.
Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland 2011, S. 197-205

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Steinhöfel

Andreas F. Kelletat

Steinhöfel


Am vorletzten Tag ihrer Radtour durch das Neißetal und den Spreewald kamen sie bis Steinhöfel. Da waren sie erleichtert, dass sie die sandigen Heidewege der Mark Brandenburg für diesen Tag hinter sich hatten. Sottkowski war außerdem froh, dass es in Steinhöfel auch wieder einen Zigarettenautomaten gab, der ihm sogar rote Gauloises verkaufte, Liberté toujours! Ansonsten gab es in diesem 500-Seelen-Kaff mitten in des Deutschen Reiches Streusandbüchse nicht viel zu unternehmen und zu sehen, außer dem neoklassizistischen Schloss natürlich, in dem jetzt ein Hotel untergebracht ist. Dessen Ambiente und Kundschaft erinnerte sie an jene Fernsehserien, in denen die Försterstöchter immer Agatha heißen. Aber wenn in Steinhöfel mit ihnen auch nichts Besonderes passiert ist, und es eigentlich auch sonst nichts gab, so gab es dort doch die ganze Geschichte, in Stein gemeißelt, wie für immer.

Das Gedenken begann gleich am Ortseingang. Da lasen sie auf einem neben der Dorfstraße abgesetzten Findling: 600 Jahre Steinhöfel, 1401-2001. – Too much history, sagte Olavi, als sei er ein Amerikaner und kein Finne. Die Steinhöfeler history erstreckte sich bis zum Ende des Schlossparks, wo ein Valentin von Massow seinem Pferd mit Namen Hurrah-Pardon einen besonders imposant geratenen Gedenkstein hatte hinstellen lassen, auf dem verewigt ist, dass Hurrah-Pardon mit seinem Herrn Oberleutnant auf dem Rücken in der Rekordzeit von 85 Stunden und 26 Minuten von Berlin bis nach Wien getrabt ist. Dafür hatte Hurrah-Pardon den Conditionspreis erhalten, und später zudem das Gnadenbrot auf Steinhöfel, bis ins Jahr 1900. Mit ihren Leihrädern der Firma Landpartie hätten Olavi und Sottkowski das nicht so schnell geschafft, die Strecke von Berlin bis Wien. Vornehm, unermüdlich und unvergessen! steht ganz unten auf diesem Totenmal.

Wenige Schritte entfernt von dem Memorial für den Gaul Hurrah-Pardon entdeckten sie im Park, den Fontane als einen der schönsten der ganzen Gegend gerühmt hat, einen weiteren Stein, mit einer Urne verziert und ziemlich stark verwittert. Die Inschrift versuchte Sottkowski dennoch zu entziffern: Schlummre sanft du unschuldsvolle Seele, Hier ruhet unsere erstgebohrene Tochter, 1789 bis 1789. Der Name des noch vor ihrem ersten Geburtstag entschlummerten Töchterchens war kaum noch zu erkennen, Johanna Wilhelma oder so ähnlich muss das Kind geheißen haben. Und dann gab es nur noch Wortfetzen, Silbenschutt: Ohne das an ihn ... zärtlich die ... Ich sank auf den ... in des ... mir hat kaum des Lebens ...ott

Vom Park gingen sie durch eine Kastanienallee in die Ortschaft hinein. Im Kaufladen neben dem Zigarettenautomaten gab es noch die Bild-Zeitung vom Vortag mit der Schlagzeile Frau ohne Kopf im Grunewald. Und in kleinerer Schrift darunter Grusel-Fund beim Spaziergang. Ein paar Schritte weiter stießen sie auf ein etwa zwei Meter hohes, pyramidenartiges Denkmal, bekrönt von einem fünfzackigen ebenfalls blutroten Stern aus Blech, mit verkrautetem Rasen ringsum und einem niedrigen Zaun. Auf Deutsch und Russisch teilte ihnen diese Pyramide mit, dass den sowjetischen Soldaten Ruhm und Ehre gebühre, die im Kampf gegen den Faschismus zwischen 1941 und 1945 gefallen seien, v borbe s fašismom. In dem Geviert, in dem diese Feststellung getroffen wurde bzw. diese Aufforderung die Zeitläufte überdauert hat, fanden sie im Gras fünf kleine Grabplatten mit den Namen und Lebensdaten und Diensträngen von fünf in Steinhöfel zu Ruhm gelangten Sowjetsoldaten. Der erste, Andrej Grigorjewitsch Woloschko, hat von 1918 bis zum 20. April 1945 gelebt. Der zweite, Fjodor Wassiljewitsch Garbus, von 1910 bis zum 23. April 1945. Der dritte, Leutnant Serafim Aleksandrowitsch Poljakow, von 1913 bis zum 22. April 1945. Der vierte, der Schütze Andrej Sabolta, von 1907 bis zum 26. April 1945. Und der fünfte, der im Kampf gegen den Faschismus in Steinhöfel geblieben ist, hieß Aleksandr Semjonowitsch Wedorow, und der ist 1922 geboren und hat sich ebenfalls bis zum 20. April 1945 Ruhm und Ehre erworben, bis zum letzten Geburtstag des letzten deutschen Reichskanzlers, des Führers des von Wedorow und seinen neben ihm ruhenden vier Kameraden bekämpften Faschismus.

Drei Gehminuten entfernt von den sowjetischen Heldengräbern, gleich hinter dem von Gesträuch umgebenen Dorfteich und neben dem ehemaligen Landgasthaus, gab es eine zweite Pyramide, doppelt so hoch wie die den sowjetischen Soldaten Ruhm und Ehre verkündende, aber nicht gipsweiß verputzt, sondern aus Feldsteinen gemauert und mit drei Marmortafeln behängt. Die Toten mahnen, lasen sie auf der ersten. Um welche mahnenden Toten es den Textern der Tafeln gegangen sein muss, konnten Olavi und Sottkowski auf der zweiten und dritten herausfinden: 1914-1918. Zum Gedenken an die 32 Gefallenen aus Steinhöfel. Gefallen sind einspunktachtnullnull¬punkt¬null¬nullnull Deutsche. Und dann, auf der dritten Marmortafel: 1939-1945. Zum Gedenken an die 47 Kriegsopfer aus Steinhöfel. Opfer des Krieges wurden sechspunkt¬fünfnullnullpunkt¬nullnullnull Deutsche.

So viele Nullen. Und alle sollen sie Opfer sein, sagte Sottkowski, als er mit Olavi diese beiden Pyramiden beschaut hatte. Sie sprachen darüber, wer alles da mitgezählt worden sein könnte, als deutsches Opfer, und wer nicht. Zählten die Juden Berlins und Memels und Mannheims, die exakt tausend im Neunten Fort von Kaunas erschossenen Münchener Juden auch als deutsche Kriegsopfer? Und die in den Heil- und Pflegestätten des Reiches ermordeten Behinderten? Und die im KZ umgekommenen Männer mit dem rosa Winkel? Und jene fünfzehn Jugendlichen, die hier in Steinhöfel, auf dem Gut, auf ihr zweites Leben als Landarbeiter in Palästina vorbereitet wurden, von Clara Grunwald, mit der sie dann nach Birkenau deportiert wurden, 1943 mit dem 37. Osttransport? Oder wurden diese Deutschen als Opfer der Deutschen separat geführt und addiert? Zählte man die Toten, entsprechend den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens, nur in den Grenzen von 1937, oder wurden die Österreicher, die Memelländer, die Elsässer und die Sudetendeutschen mitgerechnet? Und was hat man mit den Kriegsgefangenen gemacht, mit den Fremd- und Ostarbeitern, die in Dresden doch mitverbrannt sind? Wurden deren Aschehäuflein subtrahiert vom großen Rest? Und welcher Buchhalter nur mag diese Berechnungen durchgeführt haben, das Einteilen in Spalten, das Aufteilen nach Regionen, Alter und Geschlecht? Das Aufrechnen und Abziehen und Addieren der Zwischensummen? In welcher Behörde könnte das gewesen sein, bei welcher Rentenkasse, in wessen Auftrag, mit welcher Rechenmaschine? Oder wurde damals nach dem Krieg noch nicht per Hand sondern im Kopf addiert? Und wenn schon diese Zahlen den Leuten in Steinhöfel und ihren Schlossgästen für alle Zeit eingemeißelt vorgezeigt werden sollen, könnte man dann nicht, sagte Olavi, die Zahlen der Opfer jener Länder und Völker hinzuaddieren, in denen die Deutschen ihre Kriege geführt haben? Vom Mittelmeer bis zum Eismeer, vom Atlantik bis zur Wolga und in den Kaukasus. Zumindest grob geschätzte Zahlen? Aber bitte aufgeteilt nach Militär- und Zivilpersonal, sagte Sottkowski, und der musste dann sogar von den Pferden reden, die von Steinhöfel aus in den Krieg geritten worden waren. Was ist mit all den Nachfahren Hurrah-Pardons, die kein Gnadenbrot mehr bekommen hatten auf Steinhöfel? Sondern einfach nur verscharrt worden waren, vermoderte Knochenhaufen irgendwo im Osten?

So plapperten sie, Sottkowski und sein finnischer Lebensgefährte Olavi, vor diesen beiden Steinhöfeler Kriegspyramiden. Sie versuchten, den ost- und westdeutschen und sowjetischen Kriegstotenkult mit jenem in Finnland zu vergleichen. Den fanden sie sympathischer, stiller, angemessener. Auch über die Macht der Toten und ihrer Gräber sprachen sie, über Jesus in Jerusalem, Abraham/Ibrahim in Hebron, Hitlers Grab im Nirgendwo, Hindenburgs in Tannenberg, die sowjetrussischen Gräber in Estland und Lettland, das mit Serbenblut getränkte Amselfeld, die SS-Gräber in Bitburg und den Kanzler Kohl. Too much history, sagte Olavi noch einmal und sie landeten schließlich bei seinem Lieblingsonkel, der noch ganz jung in die finnische Armee gemusst hatte und seine Kriegstraumata nie losgeworden war, und bei Sottkowskis Vater, dem Fallschirmjäger und einsamen Helden von Rethymno. Der hatte seine Söhne in den 60er Jahren jedes Jahr mitgenommen zum Heldengedenktag, wie er das nannte, auf ihren Soldatenfriedhof in Quettingen, wenn dort der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete zum Volkstrauertag, wie der das nannte, über die Soldaten der Wehrmacht seine Rede hielt, deren Sterben nicht umsonst gewesen sein soll, denn es mahne uns ja zum Frieden. Und am Ende sangen die deutschen Veteranen, die vierzig- und fünfzigjährigen, in gleichem Schritt und Tritt Vaters Lieblingsheldentrauerlied, ein Trommler der Freiwilligen Feuerwehr Quettingen schlug ihnen den Takt: Ich hatt einen Kameraden, einen bessern findst du nit. Die Trommel schlug zum Streite, er ging an meiner Seite, in gleichem Schritt und Tritt ... Will mir die Hand noch reichen, derweil ich eben lad. Ich lass mich nicht erweichen, sein Blick, der wird schon zart. So geht das mit den Leichen, so rasch und gar nicht hart. Bleib mir beim ewig Gleichen mein treuer Kamerad.

So blöd verfremdet sang und summte Sottkowski seinem finnischen Freund das Lied jetzt vor. Aber von solch gedankengebärendem Mechanismus schlichtester Reimwörter spricht auch Theodor Fontane im Steinhöfel-Abschnitt seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Als er im Mai 1862 nach Steinhöfel kam, zeigte man ihm nämlich auch den Entwurf zu einem Versbrief, den Friedrich der Große geschrieben hat, im August 1739 in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad in Preußisch-Russland. Der Brief, schreibt Fontane, stamme noch aus Friedrichs Zeit als Kronprinz. Wenige Monate später wurde er König und brach den Ersten Schlesischen Krieg von Zaune, um endlich die aus dem Schwiebuser Vertrag von 1537 resultierenden Ansprüche auf einige schlesische Fürstentümer durchzufechten, gegen Maria Theresia, die 1740 ebenfalls den Thron bestiegen hatte und sofort seine Lebensfeindin wurde, über den Dritten Schlesischen Krieg hinaus, den Siebenjährigen. In dem seien auch die vier älteren Brüder jenes Massow geblieben, schreibt Fontane, der den herrlichen Schlosspark von Steinhöfel angelegt haben soll, nach englischem Vorbild. In dem Briefentwurf, der jetzt werweißwo herumliegen mag, ging es indes nicht um Schlesien und die kommenden Schlachten, sondern auf diesem Quartblatt standen, laut Fontane, lauter einzelne Reimwörter, in Reih und Glied, in kurzen und längeren Formationen, untereinander angeordnet. Zuerst: hyperbole, parole, dann pretendu, venu, parvenu, dann magnifique, rustique, implique, philosophique, intrique, musique, inique, poetique; endlich aprouvé, depravé, annoncé, consumé, alarmé etc. Das seien, sagt Fontane, Aufzählungen, aus denen ersichtlich werde, dass Friedrich II. oftmals nicht eine Hülle für den Gedanken gesucht, sondern einen Gedanken für die Hülle gefunden habe, eher zufällig. Aber das sei, sagt Fontane, für Schriftsteller gar nicht ungewöhnlich, auch wenn dieses Vorgehen auf den ersten Blick ganz und gar unpoetisch wirke, solches Suchen nach der Form, aus der sich danach erst ein Gedanke entwickle, ein Inhalt. Aus seinen Reimwortkolonnen jedenfalls hat der preußische Kronprinz einen ganzen Brief gebastelt, in Versen, und ihn nach Frankreich geschickt, an Voltaire. Dessen Sonne und Licht, soleil et lumière, dessen Geist und Herzensgaben, esprit et qualités du cœur, bedeuteten ihm unendlich viel mehr als alle Politik. Diese fixe Idee gewann der Kronprinz aus der Reihe carrière, lumière, du cœur und tout ambassadeur. Am ergreifendsten findet Sottkowski die Reimpartner Lithuanie, génie und tragédie. Mit denen bekennt Friedrich seinem Brieffreund und frankophonen Reimexperten, wie ihm im hintersten Preußen, im finstersten Litauen das Licht der Voltaire’schen Philosophie erschienen sei, in dessen Mahomet, jene Philosophie, die den Fanatismus bezwingen werde: Au fond de la Lithuanie ... Ce rayon de votre génie.

Am Samstagmorgen, vor ihrem Frühstück mit dem Blick auf die im Schlosspark schon in Gang gesetzte Fontäne des Springbrunnens und auf die Königseiche, unter der Preußens Fredericus rex im August 1759 mit seinem Stab vor der Schlacht bei Kunersdorf noch einen Imbiss eingenommen haben soll, ging Sottkowski noch einmal die Dorfstraße herunter, um sich die mahnenden Texte und die russischen Namen zu notieren. Wozu er das tat, weiß er nicht mehr. Von den beiden KriegsHeldenOpferPyramiden folgte er jedenfalls der Dorfstraße bis zum Kirchhof. Eine schöne und alte und große Kirche ist das, im Schatten riesiger Eichen. Alle vier Wochen gibt es einen Gottesdienst, stand auf der Informationstafel am Tor zum Kirchhof, wo auch noch eine Einladung hing für ein sommerliches Volksliedersingen auf den Stufen des Chinesischen Teehauses im Park, das vor sechs Wochen stattgefunden hatte. Dort hinter der verschlossenen Kirche fand Sottkowski die 28 Gräber derer von Massow. 1930 sollen sie ihren Steinhöfeler Landbesitz an einen Bauern verkauft haben. Der Bauer wurde 1945 enteignet, als es in der SBZ, der Sowjetisch besetzten Zone hieß: Junkernland in Bauernhand.

Einer der Massows auf Steinhöfel, so notierte sich Sottkowski das in seine Kladde, war Königlich Preußischer Ober-Marschall gewesen und hatte von 1752 bis 1817 gelebt. In Sanssouci war er gestorben, sorgenfrei hoffentlich nach all den Kriegsjahren, in denen sein Sohn Valentin von Massow vielfach Heldenhaftes gegen die Unterdrücker seines Vaterlandes geleistet haben soll, bei Fontane kann man die Details nachlesen. Ein anderer hieß Joachim von Massow, geboren 1872, und er ist, so ist das zumindest in seinen Grabstein neben der Kirche eingemeißelt, für sein Vaterland gefallen bei den Kämpfen in Ostpreußen am 8. Februar 1915. Dort in Masuren hatte auch Sottkowskis Großvater gekämpft, Heinrich Sottkowski, aber der hat die Schlacht gegen die Russen überlebt, unbeschadet sogar. Ein anderer Massow hieß mit Vornamen Carl, geboren 1797, gefallen in der Schlacht von Leipzig am 16. Oktober 1813, sechzehnjährig. Ein auffliegender Pulverwagen hat ihn mit in die Luft genommen, steht bei Fontane in genau diesen Worten. Ein weiterer Massow, ein Valentin erneut, ist am 23. Juli 1899, ein Jahr vor Hurrah-Pardon, in Kirikiri, im westafrikanischen Togo, ums Leben gekommen, mit 35 Jahren. Durch wen und unter welchen Umständen, wird auf dem Kirchhof von Steinhöfel nicht mitgeteilt. Erst längeres Herumgoogeln fördert bei den Suchwörtern Kirikiri, Togo und Massow eine an der Universität der Bundeswehr entstandene kolonialgeschichtliche Studie herbei, aus der Sottkowski erfährt, dass Valentin von Massow in Kirikiri am Schwarzwasserfieber gestorben sein soll, bei dem die roten Blutkörperchen derart zerfallen, dass ihr Farbstoff, das Hämoglobin, mit dem Urin ausgeschieden wird. Daher wohl der Name. Und für 2005 war – laut Literaturverzeichnis – sogar eine Edition der Tagebücher und Briefe des am Schwarzwasserfieber verendeten von Massow angekündigt: Mit Maschinengewehr und Militärkapelle. Die Eroberung von Nordtogo 1896-1899.

Ein weiterer Massow, Wilhelm mit Vornamen, ist im Kriege auf Sumatra gefallen, am 9. Juli 1874, als Königlich niederländischer Lieutnant, und sein Andenken soll mit dem Evangelium des Johannes, Kapitel 13, Vers 35 geehrt werden: Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt. Jürgen von Massow, geboren im Januar 1907 in Berlin, starb in Stolp am 20. November 1943 an einer, so steht es auf seinem Stein, im Felde zugezogenen Krankheit. Seinen Sohn Jürgen, den letzten von Massow auf diesem Heldenacker, hat er nicht mehr kennen lernen können, der kam erst nach dem Tod seines im Felde tödlich erkrankten Erzeugers zur Welt, in Klosterfelde am 7. April 1944. Oder ist dieser späte Jürgen vielleicht ein Sohn des Hans-Joachim von Massow, geboren 1912 in Berlin und gefallen in Bilogrej, Polen, am 23. Juli 1944, drei Tage nach dem Attentat? Und ist dieses Bilogrej identisch mit Bi?goraj? Neunzig Kilometer südlich von Lublin? Wo am 4. Juli 1944 die bei der Operation Sturmwind II in deutsche Gefangenschaft geratenen Partisanen erschossen worden sind? Dann hätte der Vater seinen Sprössling doch noch auf den Arm genommen haben können, rein rechnerisch. Wie auch immer: Gestorben ist der kleine Sohnemann Jürgen von Massow in Potsdam, am 20. April 1945, kurz nach seinem ersten Geburtstag, auf der Flucht, steht auf seinem Stein, am 56. Geburtstag seines Reichskanzlers und Führers, am selben Tag wie zwei ruhmreiche Helden von Steinhöfel bei ihrem Versuch, die Faschisten in die Flucht zu schlagen: der Leutnant der Sowjetarmee Aleksandr Semjonowitsch Wedorow und der Sergeant der Sowjetarmee Andrej Grigorjewitsch Woloschko.

Am selben Frühlingstag wie das Leben des 35jährigen sowjetischen Gefreiten Fjodor Wassiljewitsch Garbus, am 23. April 1945, ging in Steinhöfel auch noch das Leben des 67jährigen Karl Voigt zuende. Dessen Grabstein steht gleich neben dem von Massow’schen Massengrab. Und da liest man: Hier ruht in Gott mein lieber Mann, unser guter Vater, der Bauer Karl Voigt. Geboren 14. August 1877, gestorben 23. April 1945.

Wie mag der Bauer Karl Voigt ums Leben gekommen sein? War er doch noch zu Goebbels’ Volkssturm eingezogen worden? Hatte er sich den sowjetischen Helden bis zur letzten Patrone entgegenstemmen wollen, den asiatischen Horden auf ihrem Sturmlauf Richtung Berlin? Hatten ihn die Sowjets gleich neben ihrer Gulaschkanone erschossen? Wegen verschwundener Kartoffeln und faschistischer Sabotage? War es vielleicht um seine Lieblingstochter, um die sechzehnjährige Agatha gegangen? Die er hatte schützen wollen? Es war Frühling und alle Rotarmisten sollen immerzu gerufen haben Komm Frau, komm. Oder ging es um seine Uhr? Uri, Uri, hatte ein Russe ihm ins Ohr geflüstert. Aber der Bauer besaß gar keine Armbanduhr, der liebe Mann und gute Vater, und war dann umgelegt worden, einfach so, von einem der Helden, die aus der Kälte kamen und die dieses mal kein brandenburgisches Mirakel von Müllrose nach Lieberose einfach abmarschieren ließ, wie damals nach der Schlacht bei Kunowice, als Friedrich der Große schon ausgerufen hatte: Ich werde den Untergang meines Vaterlandes nicht überleben. Adieu für immer! Oder hatte sich Karl Voigt so sehr erregt über die Schießerei an den Kastanien- und Ahornbäumen rings um den Dorfanger von Steinhöfel, dass ihn der Schlag getroffen hatte? Und er war einfach in den Armen seiner lieben Bauersfrau tot zusammengesunken, wie ein Kartoffelsack? Oder war er an Lungenkrebs gestorben? Weil er immer noch qualmte wie ein Schlot? Auch jetzt noch gegen Ende des von GröFaZ, seinem Führer und größten Feldherrn aller Zeiten, bis nach Stalingrad und hinter die Tore Berlins geführten Schlachtens?

Sottkowski weiß es nicht. Er hat sich danach auch nicht erkundigt, an jenem Sommertag in Steinhöfel, auf ihrer Radtour durch den Spreewald. Er wird somit auch nie erfahren, wer der Bauer aus Steinhöfel war, dieser Karl Voigt. Denn sein in die Suchmaschine eingetippter Name bringt es zwar auf viele tausend Treffer, aber er selbst ist nicht dabei. Auch Google hilft bei diesem Toten nicht, herauszufinden, ob er ein Täter war oder ein Opfer oder einfach ein lebensmatter brandenburgischer Landmann. Es kann daher nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gesagt werden, ob Karl Voigt mitgezählt worden sein müsste, als nach dem 8. Mai die Bilanz gezogen wurde und diese glatte siebenstellige Zahl herauskam, dieser Fake mit den vielen Nullen, allein für die deutschen Opfer. Und Sottkowski möchte jetzt beim Schreiben dieses Textes bei den Fakten bleiben. Er mag sich heute nicht kopflos und befeuert von einigen Gläsern Rosé in seine viel leichter zu formulierenden Fiktionen hineinfantasieren. Aus Pietät mag er das nicht, und aus Respekt vor ihrer Erinnerung an die Toten von Steinhöfel, dem kleinen Dorf im Brandenburgischen, nur einen letzten Landpartie-Radtourtag noch vor Berlin.


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