Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriften-Umschau

Nadine Kreuzahler
Copyright: Gregor Baron

Nadine Kreuzahler

Nadine Kreuzahler ist freie Kulturjournalistin, Literaturkritikerin und Moderatorin und arbeitet seit 20 Jahren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Geboren und aufgewachsen im Ruhrgebiet, Studium der Filmwissenschaft, Neueren Geschichte und Publizistik in Berlin und Barcelona. Beim rbb ist sie eine der Hosts und Autorinnen des Literaturpodcasts „Orte & Worte“. Sie berichtet über die Berliner Kultur- und Literaturszene, rezensiert regelmäßig Belletristik, sitzt in Literaturpreis-Jurys und moderiert auf Bühnen.

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Nadine Kreuzahler

Schöne neue Welt? Drei Literaturzeitschriften auf der Suche nach der Zukunft

Aldous Huxley und seine Brave New World zucken beim Lesen aller drei Zeitschriften durchs Hirn, ein bisschen auch 1984 von George Orwell oder Die Maschine steht still von E. M. Forster. Die Zeit, in der wir gerade leben, erscheint manchen bereits wie die Erfüllung gleich mehrerer Dystopien. Die drei hier im Folgenden vorgestellten Zeitschriften befassen sich mit der Welt von morgen, dem Gefühl, am Wendepunkt zu einer neuen Zeit zu stehen.

Reportagen

Reportagen ist eine zweimonatlich erscheinende Zeitschrift, die sich der klassischen literarischen Text-Reportage verschrieben hat, sich selbst „Das unabhängige Magazin für erzählte Gegenwart“ nennt. In der Juli-Ausgabe hat es sich das Motto Alles wird anders verschrieben, getreu dem dominierenden Gefühl der Gegenwart, in turbulenten Zeiten mit bahnbrechenden Veränderungen auf verschiedensten Gebieten zu leben. Der allumfassende Selbstoptimierungswahn gipfelt beispielsweise im Versuch, auf immer jung sein und den Tod gleich ganz abschaffen zu wollen, nachzulesen im Artikel Forever Young. Longevity – Langlebigkeit – ist nicht länger bloß ein ewiger Menschheitstraum, sondern ein millionenschweres, wachsendes Geschäftsmodell, an dem das Silicon Valley und die Wissenschaft in schwindelerregend hoher Geschwindigkeit gemeinsam bauen. „Wer bis 2045 lebt, hat gute Chancen, nicht mehr zu sterben!“, lockt der Start-Up-Unternehmer da die Investoren-Community im Text von Margrit Sprecher. Sie schafft es in ihrer Recherche auf beeindruckende Weise uns in die abgehobene, aber gleichzeitig längst real existierende Parallelwelt der Longevity-Besessenen mitzunehmen und dabei die Getriebenheit einer neu entstehenden Branche zwischen Wahn, Wissen und Währung mit kritischer Distanz und zuweilen feiner Ironie auszuloten. Was wie Science-Fiction anmutet, ist im Übrigen auch in der Literatur dieses Jahres zu finden, man denke an Jackie Thomaes Roman Glück oder Wir werden jung sein von Maxim Leo.

Reportagen kooperiert diesmal, getreu dem gesetzten Motto „alles anders“, mit der seit 1938 erscheinenden Schweizer Frauenzeitschrift Annabelle. Mit einem QR-Code kann man sich das Heft herunterladen, am Ende eines Artikels ist jeweils der Verweis auf einen Text in der Partner-Zeitschrift zu finden, der sich mit einem anderen Aspekt desselben Themas auseinandersetzt. Im Falle der „Forever-Young-Longevity“-Recherche ist es in der Annabelle bloß eine Foto-Strecke zur aktuellen Sommerkollektion, ausnahmsweise präsentiert von Senior Models. An anderer Stelle liefern die verschwesterten Texte aber tatsächlich einen anregenden Weiterdreh des Themas. So kann die fundierte, philosophisch grundierte und nachdenklich stimmende Reportage von Eva Wolfangel über Das manipulierte Gedächtnis und die Möglichkeiten, Erinnerungen zu verändern und zu löschen, z. B. mit Hilfe von KI oder sogenannter Mixed-Reality-Brillen, gekoppelt werden mit Sarah Laus Versuch in der Annabelle, gemeinsam mit ihrem 12jährigen Sohn der technischen Seite von Künstlicher Intelligenz auf die Spur zu kommen.

Ganz anders, aber doch ähnlich

Alle drei hier vorgestellten Literaturzeitschriften setzen sich unabhängig und sehr unterschiedlich mit der Welt von morgen auseinander, den Verheißungen und Gefahren, den Veränderungen und Umbrüchen, den Ängsten und Hoffnungen. Trotz der je eigenen Annäherung und der Unterschiedlichkeit in Aufmachung, Stil und Erscheinungsweise der drei Zeitschriften zeigen sich dabei auch Gemeinsamkeiten.

So warnt Eva Wolfangel am Ende ihrer Reportage vor den Möglichkeiten manipulierter Erinnerungen, vor der Entwicklung hin zu einer „geschichtslosen Gesellschaft“. Wer Schmerz und Traumata von der Festplatte lösche, könne nicht mehr daraus lernen, verliere letztendlich den Zugang zur eigenen Identität. „Wer wir sind und was uns ausmacht", so schreibt sie, „ist eine der letzten Domänen, die Tech-Unternehmen, Geheimdienste und Kriminelle erobern können.“

Das Wespennest

Das Wespennest wiederum wählt in seiner aktuellen Ausgabe einen Zugang zur Zukunft über den Umweg zurück in die Geschichte. Die halbjährlich erscheinende Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder aus Wien, herausgegeben von Andrea Roedig und Andrea Zederbauer, steht diesmal unter dem Motto No Future. Der Slogan der Punk-Bewegung, die sich Ende der 70er Jahre in den USA und Großbritannien formiert und Anfang der 80er Jahre auch in Deutschland ankommt, steht im Zentrum von „Softies, Punks und Mettwurstscheiben“, einem Text des Popjournalisten und -theoretikers Jens Balzer, „über die popkulturelle Bewirtschaftung apokalyptischer Gefühle in den Achtzigerjahren“. Dem Geschäft mit der Angst und der apokalyptischen Grundhaltung jener Zeit spürt Balzer anhand von populären und Protest-Songs nach, vor der Folie der politischen Entwicklungen von damals, um am Ende auch einen Bogen zu Heute zu spannen, zu den Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation zum Beispiel, und mit einem Lied des griechischen Komponisten Evangelos Odysseas Papathanassiou zu schließen: Ich hab' keine Angst. Tatsächlich versucht Das Wespennest  insgesamt mit dieser Ausgabe, uns die Angst vor der Zukunft zu nehmen und ganz im Sinne der Sex Pistols ein Aufruf zu Furchtlosigkeit, Wut und Widerstand zu sein. Die Lektüre, das Blättern, das Sich-Vertiefen macht unerwarteten Spaß. Etwa beim Blick zurück in die Kunstkammern der Renaissance, die von Einhörnern bevölkert waren. Einer der Texte, die am meisten bewegen, stammt von der 1945 in London geborenen, in Wien aufgewachsenen und lange schon in Berlin lebenden Schriftstellerin Hazel Rosenstrauch. Sie lässt uns daran teilhaben, wie sie kurz vor ihrem 80. Geburtstag versucht, ihren schriftstellerischen Nachlass zu ordnen und zu sortieren: „Das Testament ist gemacht, eine Grabstelle gebucht ,aber da sind diese Texthaufen, die sich erstaunlicherweise über all die Umzüge erhalten haben, vieles davon aus Zeiten vor der Digitalisierung." Rosenstrauch verzweifelt nicht nur an der schieren Fülle des Materialbergs, sondern auch an der Frage, was sich lohnt für die Nachwelt aufbewahrt zu werden. „Sind in oft nicht mehr existierenden Zeitschriften und Broschüren historisch relevante Spuren enthalten?“ sinniert sie und beschließt, jeden Text einzeln in die Hand zu nehmen und danach zu befragen. Beim Blättern in von ihr verfassten Buchrezensionen aus den 70er Jahren wird sie nostalgisch, damals sei Literatur nicht im zweieinhalb-Minuten-Interview mit der Autorin erledigt worden, ihr hätten tatsächlich für einzelne Titel eine halbe Stunde Sendezeit zur Verfügung gestanden. Verhältnisse, von denen heutige Rezensentinnen und Rezensenten nur noch träumen können.

In diesem Sinne sind Literaturzeitschriften die Mariannengräben im Meer der Oberflächlichkeiten. (Verzeihung, ein bisschen Pathos muss an dieser Stelle erlaubt sein). Das Wespennest besticht durch seine Tiefenbohrungen, die dabei auch auf Humor, Leichtigkeit und Kurioses stoßen und sich den kippelnden Verhältnissen unserer Gegenwart zum Beispiel auch über sprachliche Analysen annähern. Wie der Begriff des „Kipppunktes“ zum Beispiel von der Politik aus dem wissenschaftlichen Kontext herausgelöst, gekapert und alarmistisch aufgeladen wird. Warum überhaupt richten wir unsere Vorstellung von Zeit immer nur an der Zukunft aus, fragt Sandra Lehmann an anderer Stelle, und plädiert für eine radikale Gegenwärtigkeit. Eingerahmt wird der Kern aus „No-Future“-Texten des aktuellen Heftes vorne von sieben Gedichten aus der Feder Mirko Bonnés über das Vergehen der Zeit, und hinten von einem Auszug aus Ulrike Draesners Poetikdozentur Literatur und Religion, die sie im Mai 2023 an der Wiener Universität als Vorlesung hielt: Das ZumZum - Sieben Annäherungen an das Unsagbare. Das Wespennest Nummer 186 ist ein Heft, das apokalyptisch beginnt und einen nach der Lektüre versöhnlich Mut schöpfend zurücklässt.

Akzente

Im Gegensatz dazu stimmt die aktuelle Ausgabe der „Hanser Akzente" mit dem Titel Automatensprache nicht gerade fröhlich. Die 1953 gegründete Akzente gehört zu den ältesten deutschsprachigen Literaturzeitschriften. Seit 1954 erscheint sie im Hanser-Verlag, zunächst alle zwei Monate, seit 2014 vierteljährlich. Jede Ausgabe widmet sich einem Thema, in immer neuer Herausgeberschaft. Dieses Heft, wobei die äußere Erscheinungsform der eines Buches deutlich näher kommt, wird von der Autorin und Literaturübersetzerin Claudia Hamm herausgegeben und widmet sich der „Automatisierung von Schreiben, Übersetzen, Denken und Entscheiden, wie man sie von Chatbots und Übersetzungssoftware kennt“. Ein brandaktuelles Thema, das sich im Inneren in vorwiegend politischen, kämpferischen, philosophischen und journalistisch-essayistischen Texten widerfindet. Etwa wenn die in Berlin lebende US-amerikanische Schriftstellerin Isabel Fargo Cole die Frage nach dem Göttlichen stellt, der Sehnsucht nach Erlösung, die die KI „als Vervollkommnung und Entgrenzung des Menschlichen“ eventuell verspricht. Auf diesen Gedankengang folgt eine Kurzbiografie des Mathematikers Alan Turing, ein berühmter Mathematiker und Pionier der Künstlichen Intelligenz mit tragischer Lebensgeschichte, verfasst von Emmanuel Carrère und aus dem Französischen übersetzt von Claudia Hamm. Analysen und Zwischenrufe, poetische Einmischungen und sachlich-journalistische Essays wechseln sich ab. In der Mitte dieser Akzente wird dazu an einem praktischen Beispiel – Goethes Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh' – deutlich gemacht, was durch Übersetzungsprogramme wie DeepL verloren geht. Am Ende stehen fünf Manifeste mehrerer Verbände und Initiativen aus Europa, die dazu auffordern, die Produktion von Texten nicht leichtfertig und unkontrolliert einem Algorithmus zu überlassen, die „Nein zu einer seelenlosen Übersetzung“ sagen, Lesekompetenz als Grundbedingung der Demokratie identifizieren und den Schutz von Urheberschaft einfordern. Insgesamt liefert diese „Akzente“ eine Bestandsaufnahme der aktuellen Diskussionslinien in Sachen KI. Ein wenig mehr Fokussierung wäre angesichts der zusammengestellten Texte wünschenswert gewesen. Es bleibt die Erkenntnis, dass die schon von E. M. Forster 1909 prophetisch beschriebene Maschine – einmal in die Welt gesetzt – niemals „still steht“. Und dass wir gut daran tun, sie von allen Seiten einzukreisen und zu verstehen, um uns nicht einem entmenschlichten Algorithmus zu ergeben. Dazu tragen alle drei Zeitschriften auf nachhaltige Weise bei.