Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriften-Umschau

Vincent Sauer
Copyright: Renate von Mangoldt

Vincent Sauer

Vincent Sauer, geboren 1994 in Karlsruhe, lebt in Berlin. Studium am Peter-Szondi-Institut der FU Berlin. Viele Jahre in der Redaktion von Sprache im technischen Zeitalter am Literarischen Colloquium Berlin. Von 2021 bis 2024 Mitherausgeber der Edition Bildfäden im Schlaufen-Verlag; 2023/24 Theaterredakteur beim nd. Journalistische Texte u. a. in Süddeutsche Zeitung und Tagesspiegel. Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen für Edit, mütze, Neue Rundschau.

Zeitschriften-Umschau

Vincent Sauer

Essays und Dossiers, Literaturgeschichte und historische Avantgarde

Über die frische „Edit“, das neue „Schreibheft“ und die aktuelle „Neue Rundschau“

Zum Einstieg Poesie:

„Ich krieche auf allen vieren
Durch meine Straße
Und lecke die Steine
Warum
Weil es so schön ist
Mit der Nase den Mond zu berühren
Und davon den Vögeln zu erzählen“

Diese sieben Zeilen kommen mit einfachem Vokabular aus und wahren doch das Geheimnis einer Erfahrung, die sich nicht ausbuchstabieren lässt. Sie stehen am Anfang der aktuellen Ausgabe der „Neuen Rundschau“. Sie ist die älteste bestehende Literaturzeitschrift deutscher Sprache. Die Hefte, die 2024 erscheinen, bilden bereits den 135. Jahrgang. Und der Autor dieses Gedichts wird Ende November 82 Jahre alt: Rosa von Praunheim. Schwulen-Aktivist, Filmemacher, Schriftsteller, queere Ikone.

Über das Heft verteilt finden sich seine kurzen Versfolgen wie kleine Angebote zum Luftholen, Einkehren, Trauern, Lachen. Die zweite aufblitzende Kontinuität sind Fotos von Sébastien Lifshitz, der Transvestiten, Trans-Frauen, Drag Queens porträtierte in einer Zeit, als der queere Begriffsapparat noch nicht so weit entwickelt war: die 1950er und -60er Jahre.

Die neue „Neue Rundschau“ hat gleich fünf Schlagworte zum Titel: „Glam“, „Performance“, „Drag“, „Critical Queerness“, „Camp“. Es finden sich Essays, erzählerische Prosa, historische Funde und eben Lyrik. Die jüngste Beiträgerin, Leone Loren Wyss ist Jahrgang 1997, und gibt in ihrem Text, der in seiner Gestalt wie ein narratives Langgedicht anmutet, aber auch auf einer Bühne gesprochen werden könnte, u. a. Einblicke in Peinlichkeiten der Club-Szene, wo heterosexuelle Männer mit Nagellack auf Queer-Parties verzweifelt versuchen, doch irgendwie bitte, bitte dazuzugehören.

Das ist aber vermutlich nur von mono-generationellem Interesse, deshalb zweihundert Jahre zurück: In einer kurzen Märchen-Erzählung, die immer wieder von kleinen, frechen Hymnen unterbrochen wird, erzählt Dincer Gücyeter die Geschichte von Illias und Fadi: zwei Kastraten, die in Konstantinopel zusammenkommen zu Seiten des Sultans und später in einer Döner-Bude Arbeit finden. Gücyeters Text hat Mut zur Fantasie ohne Zügel. Große Gefühle, surreal, magisch, profan erzählt.

Um Gefühle geht es fast überall im Heft, aber strenger Diskurs kommt auch nicht zu kurz. Norma Schneider berichtet aus der Queer-Szene im georgischen Tblissi. Franziska Gänsler stellt sich die Frage, ob und inwiefern Barbie als „camp“ gelten kann, stellt Thesen auf, wirft einen kritischen Blick auf die Diversifizierungskampagne des Herstellers Mattell und denkt über Greta Gerwigs Filmerfolg nach. Jovana Reisinger berichtet in kurzen Anekdoten aus den letzten Jahren von Rache durch Mode und ihrer Rehabilitation des Sozial-Typus „Tussi“.

Ein besonderes Verdienst der Ausgabe liegt in der historischen Breite, die erlaubt nachzuvollziehen oder zumindest darüber zu spekulieren, wie sich Schreibweisen von Queeren, Lesben und Schwulen, die ihr Begehren in den Texten nicht verheimlichen, verändert hat im Lauf der Jahrzehnte. Deshalb ist das Heft nicht nur interessant für diejenigen, die auf der Höhe eines Diskurses sein wollen. Zwei Prosa-Werke aus dem Archiv der Weltliteratur liegen dank der Herausgeber*innen erstmals in deutscher Sprache vor: Eine Erzählung von Pedro Lemebel aus Chile, lateinamerikaweit bekannter Anti-Pinochet-Aktivist, Schriftsteller und Drag Queen, wurde von Karin Genschow ins Deutsche übersetzt.

Mit dem ersten Teil von „Rauch Lilien Jade“ von Richard Bruce Nugent findet sich ein elliptischer, rasend schnell durch Gedanken und Bilder treibender Text aus dem Jahre 1926 am Ende des Hefts, in dem erstmals schwules Begehren in der Schwarzen US-Literatur zur Darstellung kam. Der ist rigoros modern geschrieben, erschöpft sich nicht in Selbstbezogenheit, sondern lässt Leiden, die mit Klasse, Rasse und Geschlechterfragen zusammenhängen, Leiden, das alle diese Kategorien zusammenschnürt, sich in eine poröse wie stimmige Prosa verwandeln. Leider konnte Nugent den Roman nie fertigstellen.

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Für Dossiers zu moderner Literatur, die es nicht in den Kanon geschafft haben, weil oftmals doch höhere Konfektion bevorzugt wird, ist das „Schreibheft“ bekannt. Den Rahmen der aktuellen Ausgabe bilden zwei Langgedichte: Stefan Ripplinger hat Claude Favre ins Deutsche übertragen, eine französische Lyrikerin, die mit „Kaputte Thermoskanne“ eine scharfe Anklage in Versform niederschrieb, gespickt mit Referenzen an poetische, revolutionäre Vorbilder, voller zeitgeschichtlicher Bezüge. Eine dichterische Parteinahme gegen Krieg, Armut und Hass auf die Schwachgemachten. Am Ende des Schreibhefts stehen kosmologische wie intime Gedichte der Amerikanerin Mei-mei Berssenbrugge, übersetzt von Sonja vom Brocke, der es gelingt frei von Kitsch und Tiefsinn in die Sterne zu schauen.

Jürgen Brocan hat ein Dossier über Gustaf Sobin zusammengestellt, einen großen amerikanischen Außenseiter, der nach einigen Übersetzungen im Berlin-Verlag im deutschsprachigen Raum leider keine größere Bekanntheit erreichte. Zudem wird die Laudatio von Frank Witzel auf die Dichterin Diane Seuss und ihren deutschen Übersetzer Franz Hofner dokumentiert.

Das umfangreiche Dossier „Ort ist Dichtung“ korrigiert ein großes Versäumnis: Hier wird auf fast 60 Seiten Iain Sinclair vorgestellt, mit Gedichten, Fotos, Prosa, Interviews. Sein Studium am Trinity College taugt ihm als Bildung nicht, so wurde er antiquarischer Buchhändler im noch nicht zu Tode gentrifizierten London der 70er Jahre. Damals gab es eine lebendige Szene kleiner Verlage. Wer etwas machen wollte, wartete nicht auf Stipendien oder den großen Publishing-Deal, sondern wurde selber tätig. Wenn man, wie Iain Sinclair, sich vor allem für die „Tiefentopografie“ des Landes interessierte, das vergessene London unter dem Beton barg und Reste versammelte, wo eine andere Gesellschaft möglich gewesen wäre, wird einem nie langweilig. Das Dossier bietet mittels eines hervorragenden Exponenten Einblick in einen ernsten, gelehrten, ästhetisch radikalen Untergrund in Großbritannien. Wir folgen Sinclair bei einer Reise auf den Spuren des großen Seher-Dichters William Blake, lesen engagierte und experimentelle Gedichte gegen die Verkümmerung seiner Stadt, erfahren von einem Literatur-Betrieb, der sich auf keinen wohlwollenden Staat – Thatcher kam an die Macht – mehr irgendwie verlassen konnte. Professioneller Schriftsteller im strengeren Sinne wurde Sinclair übrigens mit 50.

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Eine gegenwärtig immer beliebtere Form, um zwischen den Genres, den formalen Erwartungen, Fiktion und Fantasie zu schreiben, weil man etwas zu sagen hat, aber es vielen unplausibel vorkommt, ausgedachte Figuren an Handlungssträngen entlang durch aufgeschriebene Welten wandeln zu lassen, ist der Essay. Die Zeitschrift „Edit“ aus Leipzig, mittlerweile auch in ihrem 31. Jahr, widmet dem Essay ein umfangreiches Doppelheft, das wie immer aufwändig gestaltet ist von Studio Pandan, künstlerische Positionen, also Bildstrecken, beherbergt und einen Beitrag enthält, in dem grafisch und kollektiv erkundet wurde, was ein Essay sein kann, der sich nicht mit dem Format Fließtext zufriedengibt.

Zu den interessantesten Essays gehören die der vier Stipendiat*innen des Jürgen-Ponto-Stiftung-Programms, das „Spaltmaße — Vermessungen aus Alltag und Gesellschaft“ getauft wurde. Hinter diesem etwas sperrigen Titel, der an sozialwissenschaftliche Fachliteratur mit Pfiff erinnert, verbergen sich Texte von Felix Gaisbauer, Irina Nekrasov, Jehona Kicaj und Juli Mahid Carly, die allesamt Klassismus zum Thema haben und dabei ganz unterschiedliche Akzente setzen: Es geht um das Widerständige wie Bloßstellende im und am Dialekt, Handwerkerehre, die Unmöglichkeit von Freundschaften über Klassengrenzen hinweg, das Auseinanderleben nach der Schule und unausgesprochene Selbstverständlichkeiten im bürgerlich geprägten Literaturbetrieb. Es sind harte Texte mit brutalen Schilderungen seelischer Verheerungen, die aber ausnahmslos „Klassismus“ nicht als modisches Buzzword verstehen, sondern Lebenswirklichkeiten erzählerisch-essayistisch, ohne festgefahrene Begriffe, ausleuchten.

Verwandt ist auch John Sauters Essay „Gehen (oder bleiben?)“, weiter hinten im Heft: Sauter berichtet von seinem Heranwachsen, Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter als PoC in Ost-Deutschland. Der Suff kleinmütiger Männer, oft ohne Arbeit, die in neuen „West-Karren“ sich nicht das Hirn einrasen, gibt den Ton an. Ein Sohn schlägt seinen ehemaligen Schulfreund, weil er anders aussieht, regelmäßig zusammen. Dessen „Social Skills wuchern“, weil er ohne eine Gruppe, eine Mannschaft der Nazi-Gewalt nach der sogenannten Wende fast schutzlos ausgeliefert wäre. Die Schuhe immer gut gebunden, um im Notfall rennen zu können. Fragen der Sprache, elterliche Autorität — es geht um viel in Sauters Text und ihm gelingt ein „Personal Essay“, in dem Selbsterlebtes in Szenen durchdacht wird, um so ohne besserwisserische Abstraktion an den Fragen dranzubleiben, die eine Biografie wirklich mitbestimmen.

Wer sich um Vermessungen des Essays als Gegenwartsliteratur bemühen möchte, kommt um dieses Heft nicht rum. Die „Edit“- Nummer 92/ 93 ist klug kuratiert und verlässt auch die engen deutschsprachigen Gefilde. Es findet sich ein Vorabdruck aus dem Meta-Roman-Essay „Drift“ von Kate Zambreno, die von „Edit“-Chefredakteur Giorgio Feretti interviewt wurde, sowie Sabrina Imblers Coming-Out-Geschichte mit Mitteln der Geologie, der den Titel „Dyke (Geologie)“ trägt und die von Mari Molle und Linn Penelope Rieger übersetzt wurde. Und wie man Essays in Versen schreibt, demonstrieren auch gleich mehrere Beiträge im Heft von Ulrike Feibig, Janin Wölke und in gewisser Weise auch der Vorabdruck aus dem neuen Buch von Kookbooks-Verlegerin Daniela Seel, das da heißt „Nach Eden“.

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Literaturzeitschriften haben es nicht leicht. Es ist allgemein anerkannt, dass sie für die Redakteur*innen eine ziemlich selbstausbeuterische Arbeit darstellen. Förderungen gibt es zwar hier und da, aber viel Geld kommt nicht rum. Die Honorare für Beiträge in Deutschland sind, gelinde gesagt, in aller Regel mickrig, wenn es überhaupt welche gibt. Viele Buchhandlungen führen keine Zeitschriften mehr, wenige Hefte können viermal oder öfter im Jahr erscheinen. Für manche Autor*innen sind Lesereihen oder Online-Selbstdarstellung hilfreichere Einstiege ins Geschäft, als ein Textlein hier, ein Textlein da in einer Zeitschrift.

Wenn die Frage gestellt wird, wozu denn Literaturzeitschriften überhaupt noch taugen heutzutage, wo man sich doch als Lyrik- und Prosa-affines Leserlein also auch online schlau machen kann, was Trends und Shooting Stars betrifft, auf Social Media, in digitalen Leseproben, auf Plattformen — dann übergeht man so die simple Kompetenz von Redaktionen ohne die keines der drei vorgestellten Hefte die Qualität hätte, die sie nun mal haben. Selektion, Komposition, Recherche, Redigate: Mit Zeitschriften macht man Entdeckungen abseits der Algorithmen, abseits der Sichtbarkeitsgesetze des Internets, die bekanntlich von Qualität nichts verstehen können. In den drei vorgestellten Heften finden Sie also Lektüren, auf die Sie allein nicht hätten stoßen können. Das ist eine beachtliche Freiheit.