Zeitschriftenumschau
Beate Tröger
Kein Schreiben ohne Lesen.
(Bodo Kirchhoff: "Dämmer und Verlangen", FVA 2018.)
Zur passionierten Zeitschriftenleserin bin ich im Laufe meines Hauptstudiums an der FU Berlin geworden. Damals saß ich regelmäßig bis zur Schließzeit in der bis 22 Uhr geöffneten germanistischen Fachbibliothek, die sich damals unter der Obhut des den Büchern und ihren Benutzern gleichermaßen zugetanen Bibliothekars Christian Büttrich befand, der im Juli 2000 in den Ruhestand ging, was zufällig ziemlich genau mit dem Abschluss meines Studiums zusammenfällt. Die Zustände in der Bibliothek samt Wunschbuch und geduldigen Antworten auf die abseitigsten Fragen behalte ich als paradiesisch in Erinnerung - ein verlorenes Paradies, die Fachbibliothek ist inzwischen auf- und untergegangen in der geisteswissenschaftlichen Zentralbibliothek.
Obwohl mir einige Literaturzeitschriften auf dem Postweg zugehen, lese ich noch immer, aus Berliner Nostalgie, Zeitschriften am liebsten als Unterbrechung meiner Arbeit in der Bibliothek, heute in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main, die mit einem wohlsortierten (Literatur-)Zeitschriften-Freihandbestand aufwartet. Alle paar Wochen hole ich mir aus den „Hasenställen“, den nach oben aufklappbaren Fächern im ersten Stock, die jüngsten, noch nicht gebundenen Exemplare an meinen Arbeitsplatz: Sinn und Form, Merkur, SpritZ und Text+Kritik, Akzente sind immer dabei. Selten lese ich die Zeitschriften systematisch durch. Ich blättere im Zustand schwebender Aufmerksamkeit in ihnen, lese mich fest, wo ich neugierig werde, wo Beiträge eigene Lektüren und Interessenlagen berühren. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auch nach den über die Jahre gewachsenen Bekanntschaften und Gesprächen im Literaturbetrieb.
So erfuhr ich von den Plänen für ein Sonderheft der von Leonard Keidel in Heidelberg gegründeten Zeitschrift Die Wiederholung über den 1951 im rumänischen Horia geborenen Werner Söllner durch die beiden Gastherausgeber: Alexandru Bulucz und Paul-Henri Campbell, beide Autoren, Übersetzer und Literaturwissenschaftler, erzählten mir Ende 2016 von der Arbeit an der im Spätsommer 2017 erschienen Ausgabe des Hefts, das, für eine Literaturzeitschrift ungewöhnlich, mit einem Kochrezept der Übersetzerin Lydia Böhmer für „Kalte Soße“ beginnt. Die Söllner-Ausgabe der Wiederholung sammelt Essays von und über den Autor, ehemals Leiter des Hessischen Literaturforums, der, über seine Verstrickungen mit der rumänischen Securitate in Verruf gekommen, 2010 von seinem Amt zurücktrat, und 2015, nach 20 Jahren, in denen er als Dichter geschwiegen hatte, und mit „Knochenmusik“ wieder mit fiktionalen Texten an die Öffentlichkeit getreten war.
Dem Kochrezept folgt ein Interview mit Söllner, das voller Sätze steckt, die ich angestrichen habe, entweder, weil sie Zustimmung oder Widerrede provoziert haben, darunter diesen: „Schreibende tun nichts Anderes, als alle anderen Menschen auch, sie tun etwas, was ihnen wichtig ist und was sie im besten Fall, wenn sie es können, gut können, und sicherlich versuchen sie mit dem, was sie tun, etwas zu verändern, nicht im parteipolitischen Sinne, nicht im Sinn irgendeines politischen oder ideologischen Programm, sondern man setzt sich in Beziehung zur Welt und man verarbeitet, meinetwegen politisch, poetologisch, die Erfahrungen, die man macht […]“
Söllner setzt im Gespräch die Biographie des Schreibenden über die Poetologie. Darüber ließe sich diskutieren, ebenso wie über die These Ingo Ebeners, der in dem Aufsatz „Das war nicht / ich, das war Celan. Bemerkungen zu Werner Söllners Gesprächen mit Paul Celan“, davon ausgeht, dass sich Dichter nach Celan ob der Erschütterungen, die dessen Werk für alle Formen des Wissens über lyrisches Schreiben bedeutet, in der misslichen Lage befänden, sich stets zu diesem Werk ins Verhältnis zu setzen. Ob der großen Erschütterungen, die Celans Werk für alle Formen des Wissens über lyrisches Schreiben bedeute, so Ebener mit Verweis auf Werner Hamacher, bewege sich der Dichter nach Celan im Spannungsfeld zwischen Vermeiden und Nachahmen.
Ebeners erhellende Analysen von Söllners Auseinandersetzung mit dem Werk Celans, über den Söllner seine Diplomarbeit verfasst hat (in Auszügen in der Zeitschrift Neue Literatur. Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der Sozialistischen Republik Rumänien, Heft 11, November 1975 veröffentlicht), verdeutlichen das „Wiederbewegen Celanscher Zeilen und Motive“. Sie zeigen, wie der affektive Umgang mit dem Werk Celans sich in Gedichten Söllners manifestiert, ohne ins Epigonale abzugleiten.
Vom Söllner-Sonderheft der Wiederholung ist es nicht weit zur Lektüre des Literaturboten. Söllner, der ehemalige Leiter des Hessischen Literaturforums, war lange an der Herausgabe des 1985 gegründeten Hessischen Literaturboten beteiligt, der inzwischen als L. Der Literaturbote unter der Redaktion von Björn Jager, dem Leiter des Hessischen Literaturforums und Malte Kleinjung weitergeführt wird. Das Heft mit der Nummer 129 trägt den Titel „Anfänge“, das Layout der Zeitschrift hat sich geändert, ist, frischer und luftiger, in ansprechender Weise verjüngt, und konzentriert sich inhaltlich auf fiktionale Texte.
In Heft 129, das mir Björn Jager am Gründonnerstag bei einer beruflichen Begegnung in die Hand gedrückt hatte, las ich am Karfreitagsmorgen. Es versammelt Texte von Autoren, die allesamt irgendwann einmal Gäste des Literaturforums waren. Am Anfang der „Anfänge“ findet sich ein rührend unprätentiöser, nachdenklicher Bericht eines der erfolgreichsten Autoren deutscher Sprache, Daniel Kehlmann, der sich an seine erste Lesung im Mousonturm im Jahr 1997 erinnert, zu der er aus Wien angereist war, um dann in einem Raum zu landen, „klein, aber dennoch zu groß, denn natürlich waren keine Leute gekommen“. Den Abschlusstext, eine Geschichte von Edgar Keret, die das Erzählte, die Überwindung einer Schreibkrise, zugleich performt, las ich aus lauter Entzücken dreimal hintereinander. Man lernt mit ihr, dass sich der Teufel mit Mozartkugeln ein bisschen bestechen lässt (Schokolade hilft doch!), dass man sich Talente in Seelen eingebettet vorstellen darf, wie in Täschchen, die mit Klettverschlüssen verschlossen werden. Kerets Erzählung begeisterte mich so, dass ich sie tagelang meinen Mitmenschen vorlesend aufnötigte, nachher waren auch diejenigen entzückt, die anfangs dagegen Widerstand zu leisten versucht hatten. Und las weiter Keret — noch ein Anfang!
„Kein Schreiben ohne Lesen.“ Ich habe als Leserin mit dem Schreiben für Literaturzeitschriften begonnen: Im Jahr 2008 war ich die erste und einzige Lesestipendiatin, der in Graz gegründete Literaturzeitschrift schreibkraft, die anlässlich ihres zehnjährigen Bestehens ein kurioses Stipendium ausgelobt hatte. Sein Zweck war es, angesichts der Flut literarischer Publikationen einmal bezahlt zu lesen und darüber zu berichten. Bewerben sollte man sich mit einer zehn Titel umfassenden Literaturliste, sie sollte fünf Titel lebender deutschsprachiger Autoren enthalten, dazu mindestens drei aus dem Programm eines deutschsprachigen Klein- oder Kleinstverlages.
Die Redaktion, die ihre Zeitschrift mit auf den ersten Blick ein wenig abseitig wirkenden, auf den zweiten Blick überaus diskursfähigen thematischen Schwerpunkten versieht, wählte damals meine Liste aus. Ich kam in den Genuss, dreieinhalb Wochen im November und Dezember in der schönen Autorenwohnung des Grazer Literaturhauses wohnen zu dürfen. Von den zehn Büchern, die zu lesen ich ausgesucht hatte, las ich sieben, manche in der Wohnung in der Elisabethstraße, manche im Kaffeehaus, damals noch rauchend, die Zeit vergessend, gelegentlich schreibend und durch Graz spazierend, es war herrlich. Anschließend berichtete ich über meine Grazer Zeit. Der Bericht war meine erste Veröffentlichung in einer Literaturzeitschrift und ein Dankesschreiben an die Grazer Auslober. Seitdem beneide ich Autoren um die Fülle von Stipendien, plädiere ich für die Einführung weiterer Lese- und Kritikerstipendien und bin der schreibkraft weiter lesend und schreibend verbunden, nicht nur in Erinnerung an glückliche Tage, sondern weil ihre Initiatoren nunmehr seit zwanzig Jahren — Wird es wieder ein Lesestipendium geben? —, die aus fiktionalen Texten, Kritik und Rezensionen zusammengestellten Zeitschrift lebendig halten.
Heft 32 der Schreibkraft setzt den Schwerpunkt: „durchlesen“ — eine Provokation für die flanierend-blätternde Zeitschriftenleserin. Ich bleibe gleich hängen an dem Essay „Zwischen den Zeilen“ von Andrea Scrima, der neben einem Bekenntnis zu einer hemmungslosen Lust am Lesen ein Desiderat formuliert: dass wir lesend in einem politischen Umfeld, das zunehmend vom Verfall von Sprache und Sinngehalt beherrscht wird, unsere Fähigkeit zu kritischem Denken bewahren. Der Essay „Warum liest einer! Wer immer nach dem Zweck fragt, braucht sich nicht zu wundern, wenn auch er bloß zum Zweck wird“ von Helge Streit lobt das gedruckte Buch, ein Lob, das sich auch auf die gedruckte Literaturzeitschrift übertragen lässt: „Bücher sind für mich wie Räume. Will ich eine Stelle nachschlagen, weiß ich oft, ob ich sie auf der rechten oder der linken Buchseite, oben oder unten suchen muss.“ Es mag altmodisch sein, aber das Räumliche eines Buches oder einer Zeitschrift, ihr „Saloncharakter“ stützt auch mein Gedächtnis.
Weniger feuilletonistisch, dafür serviceorientierter gibt sich das Literaturblatt Baden-Württemberg, 1994 von der Literaturwissenschaftlerin und Journalistin Irene Ferchl ins Leben gerufen, seither unermüdlich weitergeführt. Alle zwei Monate informiert die Zeitschrift über literarische Termine in Baden-Württemberg. Mit Schwerpunkttexten, Autorenporträts, einem „Seitenblick“, in dem Verleger und Verlegerinnen aus kleinen unabhängigen Verlagen über Entdeckungen in den Programmen anderer Verlage schreiben und mit einem Arsenal an Kritiken, ermöglicht sie vertiefte Blicke auf Werke, Strömungen, Neuerscheinungen und literarische Trends.
In Heft 4/2018 denkt Irene Ferchl anlässlich des neunten Baden-Württemberger Literatursommers und dem Thema „Frauen in der Literatur“ über „Selbstdenkerinnen“ nach. Ist, es, fragt Ferchl in ihrem Essay, im Jahr 2018 noch immer nötig, den Fokus auf Schriftstellerinnen zu lenken? Mit der Schriftstellerin Marianne Ehrmann, die bereits ab 1800 die Öffentlichkeit trat und ganz im Geiste der Französischen Revolution verhaftet, wirft sie ein: „Man lasse doch dem weiblichen Geschlecht auch einmal Freiheit zu denken, zu handeln […] soll denn dies tyrannisierte Geschlecht ewig von dem Genuß der Freiheit ausgeschlossen bleiben und nur von dem männlichen Geschlecht geachtet werden, wenn es von ihm Liebe erbetteln will?“, um dann weiter auszuführen, dass trotz aller Veränderungen bezüglich der Genderfragen im Literarischen die Missverhältnisse zwischen Männern und Frauen noch immer nicht beseitigt sind, was Ferchl durch entsprechendes statistisches Material eindrücklich belegt.
Frauen können zu Selbstdenkerinnen werden, sich einmischen in das Gespräch über Literatur, indem sie kritisch lesen, schreiben, handeln wie Irene Ferchl, die mit vielen anderen Literaturbegeisterten engagiert dafür sorgt, dass es in den Weiten der Literaturzeitschriftenlandschaft lebendig zugeht.