Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Tobias Lehmkuhl
Copyright: Bernhard Ludewig

Tobias Lehmkuhl

Tobias Lehmkuhl wurde 1976 geboren, studierte in Bonn, Barcelona und Berlin Komparatistik und Hispanistik und arbeitet seit 2002 als freier Literatur- und Musikkritiker u.a. für Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und Deutschlandfunk. 2017 erhielt er den Berliner Preis für Literaturkritik. Zuletzt erschienen: „Die Odyssee. Ein Abenteuer“ (2013), „Nico. Biographie eines Rätsels“ (2018).

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Tobias Lehmkuhl

Warum liest man Literaturzeitschriften? Vor allem doch, um neue Texte, neue Autorinnen und Autoren zu entdecken. Zugleich aber sind Literaturzeitschriften ein Ort für Entdeckungen ganz anderer Art: Vergessenes, lange Zeit Übersehenes findet man hier, Texte die jahrzehntelang in Archiven schlummerten oder nie zuvor ins Deutsche übersetzt wurden. Vor allem das Schreibheft hat sich seit jeher hervorgetan, wenn es darum ging, verschollene Schätze der Avantgarde zu heben. Das aktuelle Heft setzt sich diesmal gar ausschließlich aus derartigen Ausgrabungen zusammen. Es bringt einen Ausschnitt aus Raoul Hausmanns „Hyle I“, einem, wie es heißt, „Roman in Traumform“, den Hausmann 1931 geschrieben hatte, für den er aber nie einen Verlag fand. Daneben findet sich ein Auszug aus Boris Luries Roman „Anitas Haus“, der in New York spielt und Luries KZ-Erfahrungen mit einer Art S/M-Pornographie verbindet, die Henry Miller und Charles Bukowski wie Waisenknaben aussehen lässt.

Ein ganzes Dossier schließlich widmet sich Werk und Wirkung Raymond Roussels. Texte von Louis Aragon, Robert Desnos und John Ashbery, die sich auf Roussel beziehen, stehen da neben der Erstübersetzung seines Versepos „Der Anblick“. Spannender als das Epos selbst, ist die hinterhältige Kritik, die Robert de Montesquieu (Vorbild für Marcel Prousts Baron de Charlus) ihm gewidmet hat: „Die Kunst eines Roussel liegt nicht einfach darin, Haare zu spalten, er zerlegt sie millimeterweise. Und das scheint mir doch ein Phänomen, das wert ist, denen mitgeteilt zu werden, die an Zergliederung, Zählung und Zuteilung ihre Freude haben.“

Nicht alle Tage lässt sich ein neuer Schatz heben, eine übersehene Perle der Literaturgeschichte. Aber auch Werke zweifelhafter Qualität werfen doch nicht selten ein neues Licht auf das Schaffen eines Autors oder machen mit Schreibweisen bekannt, die man so für eine bestimmte Epoche, für eine bestimmte Sprache nicht erwartet hätte. Dafür liefert die Zeitschrift Manuskripte, sonst ganz der Gegenwart verschrieben, im aktuellen Heft ein Beispiel: Boris Pasternaks „Thema mit Variationen“ von 1918. Ein im Grunde unübersetzbarer Gedichtzyklus, bei dem es sich, wie der wagemutige Übersetzer Felix Philipp Ingold erläutert, um eine partielle Überschreibung zweier Dichtwerke von Alexander Puschkin handelt. Mit Doktor Schiwago-Romantik hat das nicht im Geringsten zu tun. Vielmehr seien, so Ingold, syntaktische und logische Zusammenhänge in Pasternaks Strophen kaum auszumachen, das Problem des Übersetzens zunächst ein Problem des Verstehens. Verstehen hin und oder her scheint Ingold dann doch viel Vergnügen an seiner Arbeit gefunden zu haben: „Die Wogen treiben Abschaum, aufgedunsne Leichen/ Vor sich her und unterspülen damit Steg und Kai./ Es ist ein Toben und ein Lärmen sondergleichen;/ Gebräu und Schaum, als ob es reines Urpils sei!“

Von einer anderen Art Rausch erzählt Roberto Bolaño in der aktuellen Neuen Rundschau. Sein „Mexikanisches Manifest“, handelt von einem Liebesrausch, mehr aber noch handelt es sich bei diesem Manifest, dem letzten Kapitel des aus dem Nachlass veröffentlichten Romans „Der Geist der Science-Fiction“, um eine Art Erinnerungsrausch — an die erste Liebe wie an eine Zeit ungewohnter Freiheit in Mexiko Stadt Mitte der siebziger Jahre. Der Held des Buches ist, wie Bolaño selbst, vor der Pinochet-Diktatur geflüchtet und entdeckt nun nicht nur die Möglichkeiten der Welt, sondern zugleich auch die unendlichen Möglichkeiten der Literatur. Da der Roman inzwischen erschienen ist, ist dieser Vorabdruck aus dem Nachlass mithin selbst historisch geworden. Da das Thema der Neuen Rundschau allerdings „Geschichte schreiben“ heißt und die Zeitschrift zahlreiche Aufsätze zu einer postkolonialen Geschichtsschreibung enthält, die auch Hautfarbe und Gender mit einbezieht, lohnt der Blick in die aktuelle Ausgabe dennoch.

Sinn und Form in seiner Ausgabe von Juli/ August schließlich bringt in Auszügen eine Erstübersetzung der Reiseaufzeichnungen von William Beckford. Der Erfinder des Schauerromans reiste 1780 durch Deutschland, und was er dort sah, erschien ihm ganz und gar nicht schauerlich, sondern außergewöhnlich schön: „Wohin wir uns auch wandten, unser Blick traf auf ein bemerkenswertes Gebäude oder auf einen Marmorbrunnen, in dessen Becken Skulpturen von Flußgöttern reichlich ihr Wasser ergießen.“ Ebenso wie die Städte begeistert ihn die Natur zwischen Elbe und Rhein, in geradezu romantischer Verzückung erlebt man Beckford in seinen Aufzeichnungen als einen Vorreiter des Nature Writing: „Ich könnte hier Monate kampieren, ohne müde zu werden. Es verginge kein Tag ohne die Entdeckung eines neuen Felsvorsprungs, einer unbetretenen Grasweide, eines ungeahnten Tales, wo ich unter Wäldern und Felsschroffen weilen könnte, verschollen und vergessen.“

Unbetretene Grasweiden gibt es nun heute nicht mehr in deutschen Landen (und gab es damals vermutlich ebensowenig), aber Beckfords Neugier und Genügsamkeit könnte doch auch dieser Tage manchem als beispielhaft erscheinen. Dies führt direkt zu der Frage, mit der Gert Loschütz seinen Nachruf auf Günter Herburger in der Sinn und Form-Ausgabe von September/ Oktober eröffnet: Was ist ein glückliches, was ein geglücktes Leben? Eine Frage, die sich jeder, der Herburger kannte, wohl selbst einmal gestellt hat, denn ein wirklich erfolgreicher Autor war er nie, ein Mann zudem, der sich bis zuletzt um sein behindertes Kind kümmern musste, einer aber auch, der, wenn ihn nicht gerade selbst die dunklen Geister der Depression heimsuchten, beneidenswerte, ja unglaubliche Energie und Lebensfreude ausstrahlte. Nicht unwahrscheinlich, dass auch seine Werke in dreißig oder vierzig Jahren in irgendeiner Literaturzeitschrift wiederentdeckt werden. Bevor sie dem temporären Vergessen anheimfallen, sollte man aber noch einmal nach ihnen greifen, nach „Humboldt“, nach „Schlaf und Strecke“ oder nach den Gedichten. Es lohnt sich.