Zeitschriftenumschau
Wiebke Porombka
„Das Leben von Meerwasserläufern, Arten der Gattung Halobates, ist ein endloses Forschen. Als Wasserinsekten rucken,
rudern und rutschen sie über die lebhafte Oberfläche der offenen See, auf der Suche nach Nahrung und Partnern (...). Sie
überleben stürmisch niederprasselnde Regenfluten, fürchterlichste Winde und chaotische See.“ So heißt es in dem ebenso
knappen wie wohl vollumfänglichen Einblick, den der amerikanische Autor und Ethnologe Barry Lopez in „Horizon“ in
das Leben Meerwasserläufern gibt. In der aktuellen Ausgabe der Neuen Rundschau (1/2020, 131.Jahrgang) ist ein
Ausschnitt aus Lopez‘ Buch abgedruckt. Die Beschreibung spricht für sich. „Falls der Tod sie nicht in Gestalt eines
Seevogels, eines Fischs oder einer Schildkröte ereilt, sinken sie, wenn ihre Zeit gekommen ist, allein hinab in die Tiefe, so
sachte wie der Schnipsel eines Fingernagels. Ein Leben in Einsamkeit, teils ohne jemals Land zu sehen.“ Es handelt sich
nicht nur um ein Zitat, das man sich sofort anstreichen und immer wieder lesen möchte. Ohne dass Lopez es erläutern
müsste, zeigt sich in ihm auch der – vielleicht im positiven Sinne mitunter trügerische – Reiz, den das in den vergangenen
Jahrenregelrecht zum Trend avancierte Genre Nature Writing ausstrahlt.
Als könne mit der Beschreibung der Natur – in einem transzendentalen Sinne – etwas über das menschliche Dasein selbst
erfahren werden. Als würde das Schreiben über die Natur zu einer großen Erzählung nach dem Ende der großen
Erzählungen, eine Erzählung mithin, die frei von ideologischem Rüstzeug scheint. „Nach der Natur“ lautet der Titel der
Neuen Rundschau, entliehen dem Langgedicht W. G. Sebalds aus dem Jahr 1988. Der Titel birgt Doppeldeutigkeit –
dem „Nach“ im Sinne eines Schreibens, das die Natur sprachlich nachbildet, steht ein zeitlichen „Nach“ gegenüber: dem
Schreiben nicht nur im Bewusstsein ihrer – vom Menschen verursachten – Zerstörung, sondern nach dem Verlust einer
literarischen Sprache, die jenseits von bloßer Selbstbezüglichkeit ein Resonanzverhältnis mit der Natur eingehen kann.
Der Literaturwissenschaftler Bernhard Malkmus (derzeit Professor für Germanistik an der Universität New Castle), der
einen Essay über Robert Macfarlane zur Neuen Rundschau beiträgt, beklagt unter anderem mit Verweis auf Hannah
Arendt diesen zunehmenden Verlust von Resonanzfähigkeit in der Gegenwartsliteratur, was Malkmus zufolge oftmals mit
der – allerdings schon in der literarischen Romantik notorischen – Selbstreferenzialität des künstlerischen Ausdrucks
einhergehe. Dass Malkmus in seinen Ausführungen immer wieder einen maßregelnden, platzanweisenden Gestus
annimmt, als müsse man mit der Natur auch das Nature Writing selbst retten, will dabei nicht recht einleuchten.
„Ökologie tritt in der Gegenwartsliteratur allenfalls in Form einer sentimentalen Projektion oder eines umwelt-
ethischen Rigorismus in Erscheinung. (...) Jetzt darf man endlich über Ökologie reden, ohne auch nur einen Wanderfalken
von einem Mäusebussard unterscheiden zu können.“Aufgelöst wird dieser Eindruck durch die produktiven Prinzipien der
Rückgewinnung einer Resonanzfähigkeit durch das Wiederentdecken von „verlorenen“Wörtern, die man beglückender
Weise von Robert Macfarlane selbst erfährt, in den folgenden Auszügen den „Landmarks: eine Anleitung zur
Wiedererlangung von Erfahrbarkeit von Lebens- und Weltzusammenhängen.
Die Formulierung „Wort-Schatz“ ist bei Macfarlane, der nicht erst seit seinem jüngsten Buch „Im Unterland“ als eine Art
Pionier des zeitgenössischen Nature Writing gilt, durchaus wörtlich zu verstehen. Macfarlane ist ein Sammler von
vergessenen, seltenen oder verschütteten Worten, findet sie in einem alten Torfglossar, einer Liste von „vielen hunderten
gälischen Begriffen für die Moorlandschaft, die sich über einen Großteil des Inneren der Insel Lewis erstreckt“. Oder in
einer Liste der gestrichenen Wörter aus dem Oxford Junior Dictionary, die der Verlag nachträglich veröffentlichte,
nachdem ein Leser festgestellt hatte, dass aus dem Dictionary Wörter, die mit Natur in Verbindung standen, nahezu
systematisch aussortiert worden waren.
Wie anregend diese Schatzsuchen sind, zeigt sich in den zahllosen „Wortgeschenken“, die ihn nach der Erstveröffent-
lichung von „Landmarks“ erreichten, erzählt Macfarlane in einem der Taschenbuch-Ausgabe angefügten Kapitel, das
ebenfalls Eingang in die Neue Rundschau gefunden hat. Über Monate hinweg hätten ihn mitunter mehrere dutzende
Zuschriften erreicht, in denen Menschen Wörter mit ihm teilen wollten. Wörter für Orte, Landschaften, oder auch –
wie die damals 96 Margaret Cockcroft – eigene Wortschöpfungen: „lighty-dark (‚lichtig-dunkel‘): ein Wort für das Licht,
das am Rand der Dunkelheit nach einem kalten klaren Tag aufscheint. Von mir erfunden (im Alter von 11), während ich
am Abend durch die schöne Landschaft Lancashires, die nie angemessen gewürdigt wird, nach Hause ging.“
Eine Haltung, die Macfarlane unmittelbar einnehmend macht: Seine Grabungen in der Sprache sind weder didaktisch
noch sentimental, vielmehr staunend – so nennt er seine Haltung selbst immer wieder – und dabei eher pragmatisch-
optimistisch als verstiegen utopisch. „Ich glaube selbstverständlich nicht, dass diese Wörter uns auf zauberhafte Weise
zu einer reinen Harmonie und einem ungetrübten Austausch mit der Natur führen werden. Eher, dass sie ein Vokabular
bieten könnten, das im Sinne des Philosophen Ivan Illich Zusammenleben ermöglicht: Es kann das Leben bereichern und
Einbildungskraft befeuern, es kann zu ‚schöpferischen Beziehungen sowohl unter Menschen als auch zwischen Mensch
und Natur anregen‘. Man möchte sofort selbst mit dem Sammeln beginnen. „Landscape Writers“, schreibt Herausgeber
Hans Jürgen Balmes im Editorial der Neuen Rundschau, solle man die im Titelthema dieser Ausgabe versammelten
Autor*innen vielleicht eher nennen als Nature Writers. „Nicht immer geht es um unseren Umgang mit der Naturge-
schichte, aber immer um die Landschaft, ihre Prägung auf uns und unser Eingreifen in sie.“
*
In der aktuellen Ausgabe der Horen – neben Selbstauskünften von Alida Bremer, einem Schwerpunkt über Engel oder
Korrespondenzen zu Barbara Köhler – stößt man auf eine schöne Korrespondenz, auf einen anderen Abzweig oder eine
Variation des Landscape Writing – in den Beiträgen zum 100. Geburtstag Federico Fellinis. Die Landschaften freilich
sind andere, wir befinden uns in jenem oftmals tristen Zwischenreich, in dem der urbane und der natürliche Raum
ineinander wuchern.
Wolfram Nitsch nimmt in „Schauplatz Ödland“ ein für Fellinis neorealistisches Frühwerk symptomatisches Setting in den
Blick: die Brache, das leere Gelände, und erinnert dabei an eine Szene des Films „Le notte di Cabiria“, Fellinis sechstem.
Sieben Minuten umfasst diese Zentralsequenz, die auf einer Brache am Stadtrand von Rom spielt und die noch in der
Premiere in Cannes im Jahr 1957 zu sehen war, aus der Kinofassung aber auf Betreiben des Produzenten entfernt wurde.
Erst vier Jahrzehnte später wurde die vollständige Originalfassung des Films wiederhergestellt.
Die Verfasstheit der Protagonisten korrespondiert mit der Verfasstheit der Landschaft. „Als ebenso leere wie unbestimmte
Gelände bilden sie Lücken im dichten Gefüge der Stadt, in denen einem alles Mögliche zustoßen kann.“ Treffend scheint
hier die französische Benennung: „terrains vagues“.
Esther Kinsky, in deren Lyrik und Prosa die Landschaft – ebenfalls selten idyllische Natur in herkömmlichen Sinne - stets
eingeschrieben ist und sich als Resonanzraum öffnet, hat sich anlässlich des Geburtstags des Regisseurs ebenfalls noch
einmal dessen Klassiker „La Strada“ angeschaut. Die Geschichte, so Kinsky, könne man getrost vergessen – genauer findet
sie diese in ihrer klischierten Genderdynamik sogar ärgerlich – , wesentlich aber für das Erzählens Fellinis seien ohnehin
die Orte, erklärt Kinsky ähnlich wie Nitsche. Richtiger: die „Nirgendsorte“. „Aus solchen Nirgendsorten und
Niemandsplätzen ist der Film gemacht, sie sind die Textur. Unlandschaften, in denen sich ein Wegrandleben abspielt. Man
isst, schläft, sitzt, schaustellert, wartet, tötet am Wegrand.“ Und so wird „La Strada“ für Kinsky gerade deswegen zu einem
guten Film, weil die Geschichte der Beachtung nicht lohnt. Deshalb könne sie ihn immer wieder anschauen und neue
Details in seiner Textur entdecken. „Lauter kleine Fäden, die im Gewebe der Bilder aufscheinen. Wie an einem Weg,
den man immer wieder geht. An dem die winzigen Veränderungen in der Beschaffenheit des Wegrands wichtiger werden
als Richtung und Zielort.“ Die öden Landschaften werden nicht nur zu Landkarten des Inneren, sie sind die eigentliche
Erzählung.
*
Ebenfalls einem Raum, allerdings weder einen natürlichen noch mentalen, vielmehr einem politischen und ideellen
widmet sich die März-Ausgabe der in Salzburg erscheinenden Zeitschrift Literatur und Kritik, herausgeben von
Arno Kleibel und Karl-Markus Gauß. Man habe, erläutert Zweiterer die editorische Idee dieser Nummer, acht
Autor*innen vier weitgehend unbekannte Texte Stefans Zweigs zu Europa gesandt mit der Bitte, auf diese zu
reagieren. Es handelt sich um die Rede „Die moralische Entgiftung Europas“, 1932 verfasst, aber nie öffentlich
gehalten; auch von 1932 um die in Florenz gehaltene Rede „Der europäische Gedanke in seiner historischen
Entwicklung“; um den Vortrag „Einigung Europas“ (gleichfalls nicht gehalten) von Mitte der dreißiger Jahre sowie
um die 1936 in Rio de Janeiro vorgetragene Rede „Die geistige Einheit Europas“. Das Sprechen über Europa ist
angesichts seiner prekären Verfassung zweifelsohne ein wesentliches Thema unserer Tage, und damit wird dies
auch die Relektüre Stefan Zweigs.
Dass kuratierte Schwerpunkte dennoch nicht durchweg bezwingende Texte hervorbringen, zeigt sich etwa an dem
Beitrag des slowakischen Schriftstellers Michal Hvorecky. In Form eines fiktiven Briefes wendet er sich an Zweig
selbst, um diesem – kurz und leicht überspitzt gefasst – dessen eigenes Denken noch einmal zu erklären, und mit
dem Plädoyer zu schließen: „Die Atmosphäre ist wieder vergiftet von Misstrauen, Uneinigkeit und Angst. ‚Wir
dürfen um der Wahrheit willen nicht verschweigen, dass mächtige, egoistische Kräfte jeder Verständigung entge-
genarbeiten.‘ Als hätten Sie das nicht 1936, sondern 2020 geschrieben! Deswegen braucht Europa heute jeden, der
an mehr denkt als nur an sich selbst.“ Wer wollte das ernsthaft bestreiten.
Instruktiver indes sind die gleichermaßen kritischen wie zugewandten Betrachtungen von Zweigs humanistischen
Ideen, wie man sie in den Beiträgen von Arturo Larcati, der den Schwerpunkt initiiert hat, Richard Swartz, Ioana
Pârvulescu oder György Dalos findet. In diesen Beiträgen finden sich jene Widerhaken, die es braucht, um
produktive Auseinandersetzungen allererst zu beginnen. Larcati etwa weist auf den Bruch in Zweigs –
öffentlichem - Denken hin. Mit „Der Turm von Babel“ habe er sich 1916 erstmals publizistisch zum Pazifismus
bekannt und für ein Ende der Kriegshandlungen appelliert. Bis dahin habe er während seiner Tätigkeit im Kriegs-
archiv propagandistische Texte über Heldentum und Patriotismus österreichischer Soldaten verfasst. Richard
Swartz schaut ebenfalls auf Bruchlinien und nimmt Zweigs Verhältnis zur Technik in den Blick, in die er in späten
Jahren wieder, wenngleich nicht annähernd so verherrlichend wie Anhänger der futuristischen Idee, einige Hoffnung
setzen wollte, was Swartz durchaus zwiespältig betrachtet. „(…) er wiederholt sein technokratisches Mantra mit
zunehmendem Eifer, fast beschwörend, als wäre aus dem Idealisten und Humanisten ein Materialist geworden.
Geschieht das aus Verzweiflung? Wie jemand, der im finsteren Wald laut vor sich hinsingt, um Mut fassen?
Wenn ihm der Glaube an positive Impulse der Technik Mut verlieh, dann wissen wir, dass dieser nicht lange halten
sollte. Sein Werkzeugkasten, schreibt Swartz, war ausgeschöpft. Wir können an dieser Stelle weiterdenken.
Zu Beginn seines Beitrags „Auf den Ruinen des Humanismus“ erinnert Richard Swartz, wie er am Ende der
sechziger Jahre sein Exemplar von „Die Welt von gestern“ im Keller eines Stockholmer Antiquariats gefunden hat.
Auf einem verstaubten Regalbrett habe der Band gestanden, zehn Regalmeter deutschsprachige Literatur, die
niemand hier las, oder besser: die niemand mehr lesen konnte, längst war Englisch zur verbreiteten Zweitsprache
avanciert. Dass beim Lesen dieser Szene der anfangs zitierte Wasserläufer wieder in den Kopf kommt, ist sicher kein
Zufall. Bücher, Texte, Ideen mögen für eine Weile versinken, nicht aber so unwiederbringlich wie das winzige
Wasserinsekt. Den unermüdlichen Zeitschriftenherausgeber*innen ist zu danken, dass sie Text-, Wort- und Ideen-
schätze immerfort bergen und initiieren.