Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Anne-Dore Krohn
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Anne-Dore Krohn

Geboren 1977 in Berlin, lebt in Berlin und Brandenburg. Anne-Dore Krohn hat in Florenz, London, Wrocław und Berlin Publizistik und Literaturwissenschaften studiert und die Hamburger Journalistenschule besucht. Nach zahlreichen Reisen für den Reiseteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung arbeitet sie heute als Literaturredakteurin bei rbb Kultur. Krohn ist u. a. Jurymitglied des Preises der Leipziger Buchmesse, des Walter-Serner-Preises, des Schubart-Literaturpreises und des Aufenthaltsstipendiums auf Schloss Wiepersdorf und moderiert regelmäßig Lesungen. Seit 2017 Moderatorin und Beraterin des Erlanger Poetenfests.

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Anne-Dore Krohn

Brennende Urgewalten, kollektive Dorfnarrative und lyrische Raumzeitstrudel
Ein Spaziergang durch drei Literaturzeitschriften


Ob die Bibliothek von Alexandria 48 v. Ch. wirklich brannte, lässt sich kaum mehr klären, dass aber Feuer mit am gefährlichsten für Bücher ist, bleibt unbestritten, ganz abgesehen von politisch motivierten Bücherverbrennungen. Man denke nur an die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, in der mehr als 50 000 wertvolle Bücher verbrannten, als das Gebäude 2004 in Flammen aufging. Ein profaner Kabelbrand war es, der die Katastrophe auslöste, noch Stunden später regnete es verkohlte Buchseiten vom Himmel. Oder Südafrika, als 2021 Teile der historischen Bücher in der Universitätsbibliothek Kapstadt verbrannten, weil sich die Buschfeuer auf den Hängen des Tafelbergs ausbreiteten und ihre Flammenfinger auch nach den Gebäuden ausstreckten.

Und dennoch ist das Feuer gleichzeitig ein Freund und Förderer der Literatur, um nicht zu sagen: ein Brandbeschleuniger. Erst in der Frühzeit lernten wir Menschen, die Naturgewalt zu beherrschen, zumindest ein bisschen. Seither können wir nicht nur gefährliche Tiere abwehren, die Hütte warmhalten und Lebensmittel garen – sondern auch: ums Feuer herumsitzen – und das ist ja fast das Gleiche wie Geschichten erzählen. Die Unterhaltungen, die rund ums Feuer stattfinden, waren für die Evolution des Menschen entscheidend. Die allerbesten Geschichten werden am Feuer erzählt. „Wohltätig ist des Feuers Macht, wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht“, schreibt Schiller – und hätte er am Schreibtisch gefroren, hätte er sein „Lied von der Glocke“ vermutlich später als 1799 veröffentlicht. Oder auch gar nicht.

So ist es nur konsequent und charmant, dass die Zeitschrift Am Erker, die zweimal jährlich erscheint, sich in ihrer 83. Ausgabe zurückbesinnt auf jene flammende Naturgewalt. Unter der Redaktion von Marcus Jensen versammelt die Ausgabe Geschichten, Gedichte und Essays zum Thema Feuer. Traditionsgemäß stellt die in Münster bei Daedalus erscheinende Zeitschrift statt eines einordnenden Vorworts Zitate voran – Motti, in deren Nachhall alle folgenden Texte stehen. „Die Sonne würde nicht aufgehen, brächte nicht der Priester beim Anbruch der Morgenröte das Feueropfer dar“, lautet das erste Zitat, aus dem zweiten Buch von Shatapatha-Brahmana, erstes Jahrtausend vor Christus. Das zweite Zitat ist ungleich jünger, ein Ausschnitt aus Schwarze Spiegel von Arno Schmidt aus dem Jahr 1951, in den er eine Zeile aus Friedrich Hölderlins An die Parzen einfließen ließ: „Ich faltete schamhaft den Bogen wieder, und grüßte mit Haupt und Hand den Kollegen Schattenreisenden: fahr nur zu Deiner Johanna! Hoffentlich hast Du sie noch erreicht, ehe die Wasserstoffbombe neben Eure Umarmung schwebte, einmal lebt ich wie Götter und mehr bedarfs nicht (…).“

Eine ähnlich große thematische und stilistische Amplitude wie die beiden Motti beschreiten die Texte des Bandes, u. a. von René Hamann, Frank Schmitter, Saskia Scheer, Alexander Nitsche, Volker Kaminski Sebastian Galyga, Silke Andrea Schuemmer und Katharina Körting. Eine überzeugende Galerie an Feuer-Variationen, glücklicherweise aber nicht zu aufdringlich, häufig spielt das Feuer zunächst nur eine subtile Rolle. Es beginnt mit einem Antonym, mit dem Gedicht Frost von Helmut Blepp. Da ist Eis, es ist kalt, der Atem gefriert, die Füße sind blau gefroren, doch dann tauen die trüben Blicke „im Kreis sitzend in die Flammen starrend“. Ein gelungener Auftakt, hier ist alles drin über die Ambivalenz der Urgewalt, wenn es heißt „(…) über dieses flackernde Fanal hinweg das ebenso verlockend wie beängstigend (…)“.

Man möchte diese Ausgabe von Am Erker mit einem Notizzettel und einem Stift lesen, um all die schönen Feuerwörter und Flammenbegriffe für kältere Zeiten zu sammeln: Feuer fangen, anzünden, Scheiter(n), kokeln, Streichholzliebe, Aschefetzen, flammend, Flammenblume, ofenfrisch, Aschelauge, Rauchzeichen. Da verbrennen verlassene Störchennester im Kamin, Menschen stecken Häuser an, eine Trennungsmutter wehrt sich mit CO2 gegen ihre widerborstige Familie, Blitze zucken durch Gedichtzeilen, und auch die religiöse Dimension, das Osterfeuer, fehlt nicht – wenn auch mit Bratwurst und Bier in die Moderne übersetzt. Auch die Phantastik zieht ein, wenn eine Landschaft „wie ein Taschentuch“ zusammengerafft wird zu einem Ballen und ein Streichholz drangehalten wird.

Miguel Peromingos Essay Von Götterzorn und brennenden Hotels breitet auf vier Seiten klug und komprimiert die Feuersymbolik in der Literatur aus, in all ihren Ambivalenzen. Feuer, so Peromingo, sei „ein echter Gamechanger“, ein „Spender und Zerstörer von Leben“. Und im Gedicht Geister schreibt Silke Andrea Schuemmer: „Das Abendrot verlangt nach einer Kerze/sie flackert scheiterhaufenschön“ – und fängt damit die ideale Lesesituation dieser Zeitschriftenausgabe ein: Am offenen Feuer, am besten am Kamin, aber eine Lektüre im Kerzenschein tut’s auch.


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Dass ein ganzes Dorf nicht nur für die Erziehung eines Kindes förderlich ist, sondern auch für die Entstehung einer Literaturzeitschrift, das beweist Narr. Das narrativistische Literaturmagazin in seiner 35. Ausgabe. Auf 168 Seiten schreiten die Autorinnen und Autoren die Wege und Pfade eines Dorfes ab und bleiben damit der Tradition und Qualität dieses mehrfach ausgezeichneten Magazins aus Zürich treu. Seit 2011 erscheint das Narr als Forum für junge, frische Texte. 2014 wurden das Konzept und Layout des Magazins von den Designern Mirko Leuenberger und David Lüthi überarbeitet, zahlreiche Preise hat es schon gewonnen, u. a. war es für den Schweizer Design Preis nominiert.

Nachvollziehbar, denn das Narr möchte man ungern wieder aus der Hand geben. Mit seiner schmalen Erscheinung hat es etwas taschenbuchartiges, hebt sich mit seinem hohen Format aber von gängigen Taschenbüchern ab – bei der ungefähren Breite eines Reclambandes ist es etwa so hoch wie ein A5 Heft. Mit diesen Maßen lässt es sich hervorragend in die meisten Jackentaschen stecken und mitnehmen.

In dieser 35. Ausgabe möchte das Narr dieses Mal gleich ein ganzer „Dorfroman“ sein, so heißt es im Vortext: ein Dorf ohne Namen, „aber die Häuser reihen sich entlang der Stolperstrasse“. Das Narr selbst reiht sich damit auch ein, in den Dorfroman-Topos – ein immer wiederkehrendes, beliebtes literarisches Trendthema, mit tiefen Fußstapfen von u.a. Jeremias Gotthelf, Theodor Storm oder Ludwig Ganghofer, und mit zahlreichen neuen Beschreitungen und Beschreibungen von Autorinnen und Autoren der Gegenwart wie Mariana Leky, Andreas Maier, Monika Helfer, natürlich Péter Nadás oder auch Christoph Peters, der seinem Buch über seinen Heimatort am Niederrhein konsequent gleich den Titel Dorfroman gab.

Den Narr-Dorfroman schreiben (noch) etwas weniger bekannte Autorinnen und Autoren gemeinsam, u.a. Lilith Tiefenbacher, Anne Klapperstück, Fabio Kilcher, Rebekka Salm, Philip Hart, Jan Decker, Eva Burmeister und Shpresa Jashari. Jede Geschichte richtet den Scheinwerfer auf ein anderes Haus des Dorfes, zieht die Vorhänge beiseite und schlüpft in die Gedankenwelt einer Bewohnerin oder eines Bewohners. Da ist das Mädchen Julia Frey, das bei Pflegeeltern aufwächst und Nacktschnecken rettet. Da ist Jonas Burger, der in Haus Nummer 2 lebt und sich mit seinem Nachbarn Otto befreundet – 79 Jahre alt, eine Art Flaschengeist, der das Gefühl hat, „sich langsam, aber sicher aufzulösen, wie der Wasserdampf über seiner Teekanne“. Oder Martin und Katherine, die zur Paartherapie gehen und sich ein Tandem gekauft haben.

Das Editorial dieses Magazins findet man erst weiter hinten, nach den Dorfgeschichten, dort erfährt man von der Genese des Heftes. Am Anfang war hier das Bild, nicht das Wort. Zuerst gab es die Illustrationen von Hanin Lerch und Alexandra Kaufmann, die gemeinsam das Künstlerinnen-Kollektiv „Walter Wolff“ bilden. Schwarz-weiße Zeichnungen, die mit Comicpanels spielen, karierte Schnecken und Fische, eine lesende Frau mit Hochsteckfrisur und ihre schwarze Katze. Die Figuren hatten schon Namen, und auch eine Straßenkarte gab es schon, bevor die Texte entstanden. „Walter Wolff“ betreiben übrigens, so erfährt man in einem Interview, auch ein Tattoo Studio. Und ein weiterer fun fact: Auch ihre Kennenlerngeschichte spielt auf dem Dorf.

Wer durch dieses Narr streift, geht spazieren. Durch ein Dorf mit all seiner Homo- und Heterogenität: eine Straße, ein Fluss, ähnliche Häuser, aber verschiedene Blickwinkel, Charaktere und Schreibansätze – die alle gemeinsam ein großes Ganzes ergeben. Ein Dorf, groß wie die Welt, mit nur 140 Gramm ungefähr so schwer wie anderthalb Tafeln Schokolade. Hält aber länger.


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Brasilianische Lyrik der Gegenwart hat die 170. Ausgabe der in Graz beheimateten Zeitschrift Lichtungen zu ihrem Thema gemacht. Den Schwerpunkt verantwortet in diesem Heft der Schriftsteller und Spoken Word Künstler Ricardo Domeneck, 1977 in Brasilien geboren. Die Idee, verschiedene Stimmen zeitgenössischer brasilianischer Lyrik zu versammeln, kam bei einem Redaktionsbesuch auf, als er eine Weile in Graz lebte und die Lichtungen besuchte. Neun Autorinnen und Autoren hat er nun versammelt und alle zusammengefasst unter dem Titel „Wir nennen es jetzt Zuhause“, eine Zeile aus André Capilés Gedicht Kuzuela.

Domeneck stellt in seiner Einleitung konsequenterweise erst einmal auf den Prüfstand, was brasilianische Lyrik überhaupt ist, und klopft die Begriffe „brasilianisch“ und „lyrisch“ ab – außerdem stellt er die unvermeidliche Frage, inwiefern die mündliche Tradition der brasilianischen Ureinwohner heute noch gehört werde.

Viele der Gedichte, alle übersetzt von Odile Kennel und Timo Berger, besinnen sich durchaus auf das langfristige Erbe des Landes und handeln von Vergangenheit und Verortung. Der 1978 in Rio de Janeiro geborenen André Capilé rekurriert zum Beispiel stark auf die alten Traditionen, u.a. auf jene der Bantu. In Kuzuela heißt es: „unsere großeltern verließen vor langer zeit ihre wurzeln/ doch der stock wirkt weiter allen erfindungen zum trotz/ das hier ist die erde und sieh nur/ was aus ihr wurde/ wir wiederholen uns immer wieder“.

Auch der jüngste Lyriker der Auswahl, Caetano Romao, 1997 in Sao Paolo geboren, fokussiert auf seine Herkunft und richtet den Blick auf seinen Großvater. Das Gedicht Opa verhandelt, wie er mit sechs Jahren den Großvater beobachtete, als der einen Hund im Hof beerdigte – ein Großvater mit einem starken Akzent und einer stockenden Aussprache: „er kam von anderswoher/die alten kommen immer von anderswoher“.

Lichtungen fühlt sich zuständig „für Literatur, Kunst und Zeitkritik“ und das spiegelt sich auch in der Mischung der Zeitschrift: Die brasilianischen Gedichte stecken in der Mitte der Zeitschrift – eingebettet zwischen deutschsprachiger Gegenwartsliteratur von u.a. Moritz Grote, Dong Li und Alexander Weinstock auf der einen Seite, und Kunst und Zeitkritik von u.a. Astrid Kury, Ulrike Königshofer und Dmitrij Gawrisch auf der anderen Seite. Wenn die Physikerin und Schriftstellerin Olga Flor über Schwarze Löcher nachdenkt und Sätze schreibt wie „Denn diese Singularitäten rotieren samt allem innerhalb des Ereignishorizonts: was für ein schönes Wort! Selbst der Raum rundherum wird mitgerissen, ein Raumzeitstrudel entsteht … “, dann zeigt das nicht nur den faszinierenden Blick einer wortbegeisterten Physikerin, sondern man merkt auch, wie der eigene Ereignishorizont vom Raum rundherum tangiert wird – die flankierenden Texte und Bilder der Lichtungen beeinflussen die Lektüre des Schwerpunkts in der Mitte. Unmittelbar nach den brasilianischen Gedichten folgen Arbeiten der Künstlerin Ulrike Königshofer, die über Licht und Schatten nachdenkt und die Frage nach Sichtbarkeit stellt. „Can we pretend/what we would see/in a black hole/ if there was light?” steht neben einem der Fotos.

Und auch die großartige Lichtungen-Serie am Anfang des Magazins von Clemens J. Setz flankiert den Lyrikschwerpunkt auf produktive Weise. In „Poesie an unvermuteten Stellen“, Folge 11, nimmt sich der österreichische Autor dieses Mal Anno vor, eine Sammlung historischer Zeitungen und Zeitschriften der Österreichischen Nationalbibliothek und nennt sie die „große Cut-up-Kathedrale“. Er studiert historische Heiratsannoncen und genießt das „herrliche Nebeneinander dieser in fruchtbarer Spannung stehenden Anzeigentitel“. Anno, so empfiehlt Setz, eigne sich hervorragend als „sanfte Therapie“, wenn einem „die eigenen Poesiefühler eintrocknen“ oder einem die „Alltagssprache vollkommen leer und freudlos zu werden droht“. Mit diesem Heft kann einem das nicht passieren, man liest es mit großer Freude und hoch aufgestellten Poesiefühlern.