Lesen ist eine Schnittstellenkunst, die zweierlei erst erzeugt, den Text und seine Leser·innen. Nur, wenn letztere sich lesend selbst in die Waagschale werfen, als ganze Personen mit allen Vorurteilen, Sehnsüchten und Wünschen, realisiert sich für sie ein literarischer Text in seiner Wahrhaftigkeit und seine Lektüre ergibt mehr als ein Geschmacksurteil. Zum zweiten Mal bietet Thomas Hettche, Honorarprofessor an der TU Berlin, sein Seminar »Emphatische Lektüren« an, das auf eine solche Lesepraxis zielt, die in unserem medialen Zeitalter zunehmend verloren zu gehen droht. Stand vor einem Jahr Heinrich von Kleists Novelle »Das Erdbeben in Chili« auf dem Programm, so ist es 2019 Wilhelm Raabes Erzählung »Zum wilden Mann«. Vier Schriftsteller·innen haben auf Einladung Thomas Hettches exklusiv Essays, Weiter- oder Umschreibungen zu dieser Erzählung verfaßt, die sie im Seminar vortragen und mit den Studierenden diskutieren werden: Daniel Kehlmann, Sibylle Lewitscharoff, Monika Rinck und Ingo Schulze. Am Vorabend des Seminars stellen die vier und Thomas Hettche ihre Lektüre im LCB der Öffentlichkeit vor.