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Biographisches

Informationen

Literaturangabe:

de Bruyn, Günter
Moritz Heimann, Die Mark, wo sie am märkischsten ist. Novellen und Betrachtungen, hrsg. von G. de Bruyn, Berlin 1996 (Märkischer Dichtergarten) (mit Nachwort, Material zur Wirkungsgeschichte und Bibliographie)

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Biographisches

Biographisches

I.
Man sieht eine Erdkarte in Mercators Projektion und erkennt, daß sie ein willkürliches, ein falsches Bild ist. Also läßt man sich einen Globus schenken - und entdeckt, daß er glatt ist. Also gibt man ein großes Stück Geld daran und erwirbt einen Reliefglobus ins Inventar, bei dessen Anschaffung man, bereits gewitzigt, von vornherein gewärtig ist, die Erhabenheit der Gebirge sehr übertrieben zu finden. Trotz dieser prinzipiellen Resignation ist man doch enttäuscht, keine Ahnung von Landschaft, vom Seelenausdruck der Erdoberfläche auf dem Abbild zu gewahren, und ohne zu merken, daß man das Abbild des Dinges mit dem Dinge identisch haben will, also ein Dummkopf ist, fühlt man sich im Augenblick seiner größten Dummheit am überlegensten, verzichtet auf den Globus und richtet sich mit Kagel in der Mark ein, einem Dorfe von etwas über hundert Häusern, drum herum nichts als Sand, See, schütterer Wald, und drüber weg ein Himmel. Nun hat man also die Sache selbst.
Aber nach einem langen, langen Studium weiß man, daß es gar nicht möglich ist, die ?Sache selbst? in den Gehirnkasten zu sperren; man wird sich klar darüber, daß erstens die hundert Häuser nebst Sand, See, Wald und Himmel in hundert Jahren nicht zu bewältigen wären; und zweitens, daß, was man auch anfange und versuche, was und wie und wo und wann, niemals das Ding, sondern immer ein Abbild des Dinges, ein kleiner Globus, nein, eine kleine Karte in Mercators Projektion daraus wird, und - man macht einen Sprung von seinem Schatten weg in seinen Schatten hinein, capitumbulo, Kobolz, und schreibt sich als das Resultat einiger Dezennien den Satz auf: ?Der Künstler will, soll und kann es weder dogmatisch noch kritisch treiben.? Und selbst dieser Satz ist nicht etwa das logische Ergebnis des ganzen Verlaufes.

II.
Es gibt autobiographische Erlebnisse, die für die geschichtliche Betrachtung eines Lebens ohne Bedeutung sind, die scheinbar keine Folgen gehabt haben und die trotzdem von der Erinnerung mit einer besonderen Auszeichnung gehegt werden. Weil sie über die Persönlichkeit als solche kaum etwas aussagen, spielen sie in den Lebensbeschreibungen keine Rolle. Sie sind aber wichtiger als die persönlichen, und so sei einiges davon mitgeteilt.
Ich bin auf einem Dorfe in der Mark herangewachsen, wo sie am märkischsten ist, das heißt zwischen Sand, See und Kiefern. Ich lernte sehr früh Schreiben und Lesen und kam, mit diesen Fertigkeiten ausgerüstet, in die Dorfschule. Als ich sechs Jahre alt war, las ich in dem geschichtlichen Anhang zu meinem Lesebuch folgenden Satz über das Jahr 1812: ?Da sprach Gott zu ihm (Napoleon) in seinem Zorn: Bis hierher und nicht weiter, hier sollen sich legen deine stolzen Wellen." Und ich habe diesen Satz verstanden. Was das aber heißt und bedeutet, kann ich heute weder mir noch irgendeinem deutlich machen. Denn ich habe den bildlichen Ausdruck nicht etwa als einen bildlichen genommen, sondern als einen vollkommen realen, als etwas Sichtbares, und ich konnte es sehen. Ich wußte ja kaum, was eine Welle ist, und doch sah ich, daß die stolzen Wellen sich legten. Ich sah auch ?Gott". Noch jetzt ist der Zustand meines Gemütes von damals so deutlich in mir, daß ich das Glauben zu glauben vermag, obgleich ich nicht mehr imstande bin, so zu glauben. Mir scheint, daß Erzieher sich nicht darüber täuschen dürften, wie oft ihr uneigentliches Wort in einem Kinde zum eigentlichen wird.
Ungefähr in demselben Alter begegnete es mir, daß ich mich beim Versteckspielen mit meinen Schwestern hinter einer Kellertür in unserm Hause befand und den Blitz von Trunkenheit erfuhr: genau in dieser Lage bist du schon einmal gewesen. Es ist das ein Riß im Ablaufen der Zeit, der wohl jedem bekannt ist, dessen Bedeutung für das Lebensgefühl aber für gründlicher angesehen werden müßte, als man vermutet. Ich litt in meiner Kindheit, ja bis über die Zwanzig hinaus viel und zeitweise schwer und aufreibend an Alpdruck, Schlafwandel und Anfällen von Starrsucht; alle diese Zustände schienen mir von jeher mit jenem trunkenen Blitz in Verwandtschaft zu stehen. Das hindert nicht, daß ich ihn mir später so rationell wie möglich erklärt habe. Bekanntlich wurde Nietzsche von dem Gedanken der ewigen Wiederkehr zum erstenmal im Engadin beim Anblick eines gewaltig aufgetürmten Felsblocks überfallen. Ich zweifle nicht, daß der Vorgang mit dem meinen hinter der Kellertür identisch ist. Wenn die Zeit in uns zerrissen wird, so hat die Dauer dieses durch das Klaffen hereinbrechenden Nichts keinen Sinn von Maß: der Bruchteil einer Sekunde und Jahrmillionen sind dasselbe im Nichts. Zeit ist Kontinuität der Welt, ob auch ihre Rolle im Gehirn schneller oder langsamer laufe. Die furchtbarste Zerreißung der Kontinuität geschieht im epileptischen Anfall; und jener wunderliche Schreck: das hast du schon einmal erlebt, ist ein solcher Anfall, abgeschwächt, gefahrlos, wie ein spielendes Warnen. Denn was ist geschehen? Die Dinge um uns stehen da, sie schreiben sich in unser Gemüt ein, - und finden sich, in ihrem stetigen Eindringen durch einen unmeßbar winzigen Zeitsplitter unterbrochen, zu ihrer ungeheuren Überraschung schon dort vor, wohin sie wollen. Wir sind alle Epileptiker, sonst gäbe es keine Epilepsie; genau so wie wir auf dem letzten, unbiegbaren, mitleidlosen Grunde unsres Charakters Wahnsinnige sind, sonst gäbe es keinen Wahnsinn.
Und alle diese Zustände, die Zerreißung der Zeit, der Alpdruck, der Schlafwandel, sind Formen der Wollust, die uns formt und treibt. Sie sind Formen der Ungeduld, denn Wollust ist Ungeduld, Ungeduld ist Wollust. Wenn wir als junge Menschen das All umarmen, wenn wir uns ratlos auf den Boden werfen und in den Sand beißen, immer ist es die große, herrliche Ungeduld. Die Geschichte jedes Mannes ist die der Wandlung zur Geduld.
Es steckt aber für einen jungen Menschen in allen den gemeinhin abnorm genannten Seelenzuständen eine beträchtliche Gefahr, die nämlich, daß man sich durch sie wie durch einen stolzen, keinem anderen zugänglichen Besitz ausgezeichnet fühlt. Das eigentliche, verpflichtende, soziale Leben verblaßt neben den Erregungen des unheimlichen Individuums in uns; man genießt seine Zustände; man genießt sich; und die daher rührende Vernachlässigung der Wachheit kann zum Laster werden. Zum Glück wurde es mit mir in dieser Hinsicht nur ?halb so schlimm?, obgleich auch das schon schlimm genug ist. Zwar weiß meine Erinnerung noch heute genau, daß ich innerhalb der Gemeinschaft meines Knabendaseins wie von einer undurchdringlichen Schicht isoliert und mit mir allein war: aber ich lebte doch die Tages- und Jahreszeiten von Dorf und Dorfjugend als ein derber, untersetzter, kräftiger Bursche mit, spielte auf der damals noch ungepflasterten Straße - nichts hat mir das heimatliche Gefüge unseres Dorfes so sehr verwandelt wie die Befestigung und Erhöhung der sandigen, von den Wagenspuren durchschlängelten Straße -, trieb mich herum, bis der abendliche Ruf der Mutter uns sammelte: ?Kinder, die Füße waschen!?, half beim Viehhüten, griff Krebse unter den Weidenstumpfen des Fließes und scheute mich nicht, sie am Flackerfeuer zu rösten.
Ich will hier nicht von der Poesie jener Frühzeit reden, wiewohl sie das unvergänglich Zeugende in uns bleibt; und nur eine Tatsache möchte ich noch berichten, weil auch sie, außer dem poetischen, ein isolierendes Element enthielt. Wir waren die einzige jüdische Familie im Dorf. Fremd in einem gemeinen Sinne waren wir darum nicht, und insbesondere hat meinen Vater - er starb, als ich zehn Jahre alt war - niemand von Jungen und Alten anders als mit ehrender Liebe angesehen. Aber es ging streng nach dem Gesetz in unserm Hause zu; und wie wir an den Festen der Kirche nicht teilnahmen, so hatten wir unsre jüdischen Feiertage für uns, nach ihrem abweichenden Kalender. Es gehört zu meinen unzerstörbaren Erinnerungen, daß das Sabbatende und also das Lichtanzünden nach der Sichtbarkeit der ersten Sterne bestimmt wurde; daß der Neumond nicht ohne Gebetsauszeichnung blieb; vor allem aber, daß über die großen Festzeiten des Jahres immer derselbe Mond, da sie seinem Wandel untertan waren, bestätigend leuchtete, immer über dem Abend des Versöhnungstages die schon ins zweite Viertel hinüberschwellende, immer über dem Passahabend die volle Scheibe, - ich habe davon bis in die härteren Jahre des Gemütes eine romantische Erregung gehabt. Und hiermit hängt es vielleicht zusammen, daß mir der Jahresablauf auch sonst schon in der frühen Knabenzeit empfindlich wurde; insbesondere erfüllte mich das Kürzerwerden des Tages mit einer großen, Winter für Winter wiederkehrenden Angst. Hörte dann der Siegeslauf der Nacht auf und das neue Jahr erholte sich am höhersteigenden Licht, so kam ich mir jedesmal wie aus einer unheimlichen Gefahr gerettet vor.
Wie gern nimmt man doch von der Natur, was immer sie gibt, ihre Drohungen so gern wie ihre Verheißungen! Ein ?Spiel von jedem Druck der Luft? zu sein, demütigt unser Selbstgefühl das eine Mal, und wird ein andres Mal tiefes Glück. Denn was es eigentlich auf sich hat mit diesem Selbst, welches so erpicht darauf ist, sich zu fühlen, wir wissen es nicht. Wenn wir leiden, glauben wir es zu wissen, aber wenn wir noch tiefer leiden, hören wir wieder auf, es zu wissen; und wenn wir uns freuen, verläuft es ebenso; und wenn wir Musik hören, ebenso. Daß ich teilhabe an dem erhabenen Wissen, nicht zu wissen, was ich bin, das zieht sich von meiner frühesten Jugend her; und ich verdanke es zuallerletzt der Armut, äußerer und innerer. Die äußere grenzte nie an Dürftigkeit, hatte keine Demütigung zu erleiden, und da sie nicht verglich, war sie auch vom Neide frei. Die innere aber kannte sich selbst noch weniger. Kein Gemälde und kein Maler, keine Musik und kein Musiker, kein eigenes Talent zu einer dieser Künste, nichts von alledem belebte meine Existenz. Ganz rätselhaft ist es mir noch heute, daß an meinem zehnten Geburtstage zwischen meiner ältesten Schwester und mir ausgemacht wurde, ich sollte ein Dichter werden, ich hatte nie von einem solchen gehört; die Gedichte, die ich kannte, standen im Lesebuch und waren nicht verfaßt. Es fehlte an jeder sogenannten Anregung, an jeder Aufreizung und jeder Verführung; und vielleicht könnte ich aus jener Zeit nicht einmal von Sehnsucht berichten. Aber es wurde auch nichts abgenutzt. Jenes Namenlose, das nach dem chinesischen Weisen der Ursprung von Himmel und Erde ist, wurde nicht verletzt. Es gab keinen Besitz, aber es gab eine wunderbare Spannung. Ich war nicht, aber alles war.
Und dann wird man, und alles geht in Trümmer. So muß es sein, doch die Erinnerung an das selige Nichts und Alles hörte nicht auf.

[Moritz Heimann (1868 - 1925) wurde in dem Dorf Werder bei Rehfelde geboren, kam mit seinen Eltern aber bereits 1870 nach Kagel, wo er aufwuchs. 1895 trat er als Lektor in den Verlag von Samuel Fischer ein und betreute hier Autoren wie Jakob Wassermann, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal u.a. Daneben machte sich Heimann als Novellist und Lyriker einen Namen. Das elterliche Haus in Kagel nutzte Heimann als Sommerwohnung. Durch eine Erkrankung an seiner Arbeit als Lektor gehindert, lebte er seit 1922 wieder ständig in Kagel. Zu seinem Begräbnis sprach Oskar Loerke: "Heimann entstammt einem märkischen Dorfe. Sein Haus und der Baum davor liegt an der Landstraße in alle Welt. Wenn er von ihnen spricht, sieht sein Auge und hört sein Ohr dabei das über die ganze Welt Verhängte."]

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