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Der Türträger in der Wallstraße

Informationen

Literaturangabe:

Grässe, Johann Georg Theodor
Sagenbuch des preußischen Staates, Glogau 1868

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Der Türträger in der Wallstraße

Der Türträger in der Wallstraße

Eins der ältesten Wahrzeichen der Stadt Berlin befindet sich am Haus Nr. 25 der Wallstraße. Es ist der sogenannte Türträger und besteht aus einem Relief, auf welchem ein nackter, nur mit einem Schurz um die Hüften versehener kräftiger Mann dargestellt ist, welcher den Flügel eines Stadttores mit gewaltigen Riegeln auf seinem Rücken von einer im Hintergrund sichtbaren Stadt bergaufwärts zu tragen scheint. Nach der prosaischen Erklärung wäre dies weiter nichts als die Abbildung des Simson, der nach der Bibel die Torflügel der Stadt Gaza auf die Höhe von Hebron trug, und würde sich als eine Gedenktafel auf das frühere Köpenicker Tor (dieses verschwand um 1735) beziehen, wie denn in demselben Haus, welches eben jetzt noch dieses Bildwerk trägt, die eisernen Haspen von dem abgetragenen Tor aufbewahrt werden sollen.

Die Sage selbst aber, wie sie noch im Volk lebt, lautet anders. Es lebte nämlich einst in der Stadt Berlin ein armer Schuhmacher, der sehr sparsam war und was er sich und seiner Familie am Mund abdarben konnte hinlegte, um sich ein Lotterielos kaufen zu können, weil er sich einmal fest eingebildet hatte, auf diesem Weg allein sei es ihm beschieden, reich zu werden. Endlich hatte er auch das nötige Geld beisammen, kaufte sich ein Los, und als der Tag der Ziehung gekommen war, eilte er auf das altköllnische Rathaus, wo dieselbe stattfand, um selbst anwesend zu sein, wenn sein Los mit einem Gewinn herauskäme. Siehe da, seine Ahnung ging in Erfüllung, er hörte seine Nummer ausrufen und gleich darauf den höchsten Gewinn. Er eilte spornsteichs nach Hause, teils um sich zu überzeugen, daß er auch wirklich die glückliche Nummer im Besitz habe, teils um sein Los herbeizuholen. Allein nicht wenig erschrak er, als er das Los nicht mehr an seinem Ort fand, er schaute sich überall um, und wie war ihm, als er es dann plötzlich an der Stubentür haftend erblickte. Eins seiner Kinder hatte sich in seiner Abwesenheit den Spaß gemacht, das Los mit Schusterkleister an die Tür zu kleben. Er versuchte es anfangs mit Wasser abzulösen, allein dies gelang ihm nicht, und da er sich nicht anders zu helfen wußte, so hing er die Tür aus, nahm sie auf den Rücken und trug sie auf das Rathaus, um sich so als Besitzer des Glückstreffers auszuweisen. Trotz der sonderbaren Form der Aufbewahrung des Loses erhielt er aber seinen Gewinn ausgezahlt, baute sich ein eigenes Haus und ließ sich selbst über der Tür als der entschlossene Türträger mit dem Los, das der Beschauer aber freilich nicht sehen konnte, in Stein aushauen.

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