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Groschenroman: Das aufregende Leben des Erfolgsschriftstellers Axel Rudolph

Informationen

Literaturangabe:

Keune, Martin
Groschenroman. Das Leben des Erfolgsschriftstellers Axel Rudolph, Berlin 2009

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Groschenroman: Das aufregende Leben des Erfolgsschriftstellers Axel Rudolph

Semlin zum Beispiel war kein schlechter Tipp, das sagte jeder, der sich einmal hinausgeplagt hatte über die Reichsstraße Richtung Hamburg, der verzaubert das Ortsschild des Fontane-Dorfes Ribbeck auftauchen gesehen hatte und dann, wie von Riegel unermüdlich empfohlen, bei Selbelang links abgebogen war, um „über die Dörfer“ zu fahren. „Über die Dörfer“, das war in der Mitte der dreißiger Jahre eine wahre Tortur; die Reichsautobahnen des Führers hatten bisher einen deutlichen Bogen um diese Region gemacht, und die Straßen spotteten jeder Beschreibung. Retzow, Möthlow, Liepe, Damme: keine schmucke Perlenkette der Idylle, wie Fontane sie beschrieben hatte, sondern eine unablässige Folge von Schlaglöchern, unbefahrbaren Schlammpisten und überwucherten Feldwegen. Axel und Gerti bedauerten wahrhaftig, sich mit dem Automobil auf den Weg gemacht zu haben, anstatt den komfortablen Zug vom Bahnhof Zoo nach Rathenow zu nehmen, und Riegel selbst, der mit hochrotem Kopf am Lenkrad saß, gab sich alle Mühe, mit Witzen und Hinweisen auf die doch eher ländlichen Sehenswürdigkeiten von den Unwägbarkeiten der Strecke abzulenken.
„Seht mal da, der Storch! Fenster hoch, Gerti, sonst beißt dich das Biest! Für Nachwuchs reichen Axels Honorare ja wohl noch nicht!“
Fritz Odemar, der verhinderte Hochwohlgeboren und Hofschauspielersohn, war als Erster auf Riegels Semliner Manöver hereingefallen. Riegel hatte vom unberührten See geschwärmt, vom schnuckeligen Dorf mit der zweihundert Jahre alten Fachwerkkirche, vom nahen Rathenow, wo die Armee stationiert war und für Stabilität sorgte und wo die optische Industrie blühte. Auch die schönen Mädchen vom Land hatte er nicht unerwähnt gelassen, denn Odemar ging der Ruf voraus, in dieser Hinsicht unersättlich zu sein.
Und tatsächlich, Odemar, der seine augenblicklich kapitalen Einkünfte irgendwie sinnstiftend anlegen wollte und in Semlin ein von Riegel vermitteltes Haus gekauft hatte, schwärmte von der dörflichen Einöde. Er hatte sogar seine Kleinfamilie neu zusammengetrommelt, zur Abwechslung der eigenen Frau, der Schauspielerin Erika Nymgau, einen Heiratsantrag gemacht, sie nun auch standesamtlich geheiratet und begeistert nach Semlin aufs Land geschleppt.
Stolz wurden auch die Freunde zur Besichtigung des „kleinen Obstgutes“ aufgefordert; deshalb hatten sich Axel und Gerti mit Riegel auf den beschwerlichen Weg gemacht; Axel hatte auf dem Ku’damm eine Flasche Champagner gekauft, die unterwegs kräftig durchgeschüttelt wurde, und Riegel wollte ihnen noch nebenbei und wie immer gänzlich ohne Hintergedanken ein entzückendes Häuschen direkt am See zeigen, das gerade äußerst günstig zu haben war. Also fuhren sie hin.

[Ausschnitt aus dem "Groschenroman" mit freundlicher Genehmigung des Autors]

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