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Rottrang

Informationen

Literaturangabe:

Handtmann, Eduard
Neue Sagen der Mark Brandenburg, Berlin 1883

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Rottrang

Rottrang

Vom Marienberg führt nach Süden ein versteckter Fußsteig zum Dorf Wustrow hin. Er trägt den Namen "Priestersteig". Einst ein Pfad zum Heidentempel, dann eine Wallfahrtstraße zum Marienberg, jetzt der Weg, auf dem die Konfirmandenkinder aus den fernen Dörfern Görnitz und Bochin quer durch die Kirchspiele Lenzen und Boberow nach dem Pfarrort Wustrow pilgern. Sonst wird der Steig von niemand benutzt. - Im Jahre 1000 der christlichen Zeitrechnung bewegte sich ein besonders zahlreicher Zug auf diesem Pfad zur Frühlings-Tagundnachtgleiche. Die Elbe war ungeheuer angeschwollen, so daß sich ihre Wogen mit dem Wasser der Löcknitz mischten, die ihr in dieser Gegend auf zwei Kilometer Abstand parallel lief. Immer höher stieg das Gewässer und drohte dem Ort Wustrow den Untergang. Da schickten die Leute aus Wustrow eifrigst Boten zum Heiligtum, die Gottheit um Hilfe anzuflehen. Und der Gottesspruch erscholl: "Der Gott verlangt sein Opfer; laßt es ein freiwilliges sein!"

Ja, nun war guter Rat teuer. Wer würde sich opfern, wer freiwillig in das Wasser gehen? Nach langem Hin- und Herreden machte der Dorfälteste folgenden Vorschlag. Auf meinem Hof, sprach er, ist eine schlechte Dirne. Sie hat geheimen Verkehr mit den Christenleuten am andern Ufer der Elbe gehabt, und ihr fremdes Kind läuft auf meinem Hof umher. Die Dirne möchte wieder ehrlich unter ihrem Volk werden. Wohlan, laßt uns ihr Kind kaufen, sie gibt es willig hin. Dann ist uns und ihr geholfen.

Der Rat gefiel, die Dirne stimmte zu. In feierlichem Zug brachte man zuerst das Kind zum Tempel. Von dort her trugen es Priester in noch größerem Geleit zurück, dem aufsteigenden Wasser zu.

Doch das Opfer sollte ganz freiwillig sein. Wie war es anzufangen, daß das Kind, ohne geworfen zu werden, ins Wasser kam?

Wieder schaffte der Älteste Rat. Er stellte eine große Wippe her, deren eines Ende auf dem Land lag, indes das andere Ende über dem Wasser schwebte. Auf das letztere Ende mußte auf des Ältesten Befehl die Dirne einen Kuchen mittels einer Stange schieben und dem Kind zurufen: "Nun lauf und hole dir den Kuchen."
Das Kind lief hin, die Wippe schlug um. Laut schrien alle auf, da jeden doch Mitleid erfaßte mit dem armen Würmchen, nur die Mutter blickte gleichgültig hin. Da toste das Wasser fürchterlich los, wie ein Berg stieg´s empor. Eine Riesenfaust langte aus dem Wasserberg heraus und riß die Dirne in den Schwall hinein. Und indem diese mit gellendem Schrei versank, da trugen sanfte Wellen das Kind mit´dem Kuchen dem Dorfältesten vor die Füße. Es war dies der letzte Vorstoß des Hochwassers, welches von nun an zusehends sank. Da sprach einer der Priester zu dem Dorfältesten: "Wott Rack" (d. h. "Siehe, ein Krebs"), das sollte bedeuten: Es, nämlich das Wasser, geht rückwärts. Dieses Wort hatte aber noch einen anderen Sinn, nämlich diesen: Es kommt anders, als wir gemeint.

Der Dorfälteste zog das gerettete Kind wie sein eigenes auf. Als der Junge zum Mann herangewachsen war, kam es mit ihm noch anders als je einer gedacht: als erster aus Wustrow nahm er den Christenglauben an und ließ sich an derselben Stelle taufen, wo einst die Wogen des Hochwassers es zum Leben zurückgeführt hatten und wo, ?Rottrang? geheißen, seitdem ein Gewässer geblieben war. Dem Erstling folgten schnell viele; bald war Wustrow ein christlicher Ort, der erste in der Umgebung von Lenzen.

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