Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Claudia Kramatschek
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Claudia Kramatschek

Claudia Kramatschek ist Moderatorin und Literaturkritikerin mit Schwerpunkt Literaturen aus dem Globalen Süden (Indischer Subkontinent, Maghreb, arabische Welt). Seit 2010 ist sie Mitglied der Litprom-Bestenliste „Weltempfänger“; 2011-2013 war sie Jurymitglied beim „Internationalen Literaturpreis Haus der Kulturen der Welt“, 2015 war sie Vorsitzende der Deutschen Buchpreis-Jury, 2016-2019 Jury-Mitglied des Clemens-Brentano-Preis für Literatur (Heidelberg). Seit 2019 ist sie festes Mitglied des Kulturamts- und Koordinationsteams der UNESCO City of Literature Heidelberg. Wenn sie nicht gerade liest, liest sie.

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Claudia Kramatschek

„Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.“ Diese Zeilen von Brecht – 1939 geschrieben, vielzitiert und eben deshalb womöglich gar nicht mehr zitierfähig – scheinen mir seit kurzem wieder schrecklich aktuell. Werfen sie doch ihr Schlaglicht auf eine drängende Frage der Gegenwart. Diese lautet: Was kann Literatur – angesichts von Krieg, Gewalt und sinnloser Zerstörung?

Denn: „kann“ sie überhaupt etwas? Oder ist im Gegenteil der ihr implizite Anachronismus – die Tatsache, dass sie letztlich immer schon „zu spät“ kommt – womöglich das radikale Element, mit dem die Literatur punkten kann?

Nr. 13 der Zeitschrift Schliff etwa mag im Frühjahr 2022 bereits veraltet gewirkt haben: Denn sie verhandelt mit Erde einen Themenkomplex, der bis Kriegsbeginn in aller Munde war – seitdem aber völlig in Vergessenheit geraten scheint: Das ist die Notwendigkeit eines nachhaltigen Lebens – und davon ausgehend die Überlegung, wie nicht zuletzt die Literatur das wirkmächtige Zusammenspiel von Mensch und Natur sowie von Natur und Kultur in den Blick nimmt. Ein öffentlicher Diskurs über Krieg und Ökologie findet derzeit nicht statt; selbst die Grünen und Fridays for Future schweigen. Darf man das also überhaupt: in Zeiten des Kriegs von dessen ökologischen Kollateralschäden sprechen? Sich fragen, wie es den Wiesen, den Feldern oder den Vögeln in der Brutsaison ergeht, welche Spätfolgen zerbombte Häuser und Panzer hinterlassen werden? Wie auch immer man das für sich selbst beantwortet: Die hochkarätig besetzte Ausgabe bietet unerwartet und sicher ungewollt zahlreiche Resonanzen zur gegenwärtigen Lage – wenn etwa Ulrich Peltzer den Schriftsteller Schuldt zitiert, der in seiner Hamburgischen Schule des Lebens und der Arbeit schreibt: „Wo die Vergangenheit weggewischt wird wie verschüttete Milch, wie etwas Ungehöriges, da ist es die Aufgabe der Dichter, Forscher und Historiker, die geschichtliche Dimension wiederherzustellen.“ Die Lyrikerin Kerstin Preiwuß wiederum beleuchtet anhand von Maria Stepanowas Gedichtband Der Köper kehrt wieder, inwiefern der Boden, sprich die Erde bei Stepanowa ein Grab darstellt für Knochen, Körper und Tote. „Was also geben wir der Erde mit“, heißt es an einer Stelle. Dichtung selbst ist somit Palimpsest und Ausgrabungsort zugleich. Und bietet auf diese Weise zugleich der menschlichen Vergänglichkeit die Stirn. Was in allen Texten in dieser Ausgabe von Schliff deutlich wird, ist eine neu gedachte und neu zu denkende Grenze zwischen Natur und (menschlicher) Kreatur. Was einst voneinander getrennt galt, wird nun, nicht zuletzt unter Rückbezug auf Donna Haraway, als fluide ausgedeutet: „Nach dem Ende der Welt wendet sich der Blick also ein weiteres Mal zurück – hin zu den kleinsten Dingen, die wir (auch) sind: zu Pilzen, Wurzeln, Bakterien und dem Schleim, der sie verbindet“. Spätestens dann wandern die Gedanken nach Tschernobyl und in die sogenannte Zone, die von der Natur heimgesucht und renaturiert worden war – und die nun, aufgestört durch menschliches Einwirken, erneut ihr tödliches Werk verrichtet.  Das Element der Luft spielt dabei eine tragende Rolle; lange aber war Luft kein Thema der Kulturwissenschaft. Das hat sich spätestens mit Corona geändert – Grund umso mehr für die Philosophin Eva Horn, der Wirkkraft von Luft eine eigene Aisthesis zu widmen.

Dichtung als ein Resonanzkörper für das Kleine und Kleinste – und überhaupt die Frage, was Dichtung eigentlich sei und wofür sie überhaupt gut sei: Das verhandeln auch die Beiträge in der Mütze Nr. 33. Der Name dieser so kleinen wie feinen Literatur-Zeitschrift ist Programm: Hier kommt unter einen Hut, was andernorts womöglich obdachlos bliebe. Für die aktuelle Ausgabe hat Herausgeber Urs Engeler unter anderem das allererste Gedicht von Christian Filipps ausgegraben. Nils Röller liefert wiederum Datengedichte, in denen Konsonanten, Vokale und Buchstaben den Ausgangspunkt bilden für ein fast kosmisches Einssein mit Meer und Klang. Die Erde und die Frage, wie sie sich einschreibt in das gegenwärtige Schreiben, bildet überraschenderweise auch hier den Grundton aller lyrischen Beiträge: Sie führen Saharastaub und Meteoritenreste, Meeresschnecken und Feuchtlanddung mit im Gepäck – und erheben, so wagemutig wie unbelehrbar zugleich, einen Refrain auf die Ewigkeit (Brigitte Struzyk). Aufhorchen lassen in dieser Ausgabe zwei Gedichte des jemenitischen Dichters Galal Al-Ahmadi, der 2016 mit einem Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung nach Deutschland fliehen konnte und seit 2020 mit seiner Familie in Berlin lebt. Bildstark sprechen seine Verse von den Mühen der Flucht sowie des Ankommens – und von den Knochen derer, die es nicht geschafft haben, zu fliehen vor Krieg und Zerstörung. Auch seine Lyrik ist somit Erd-Dichtung im Sinne von Maria Stepanowa und hebt die Grenzen zwischen dem menschlichen Körper und den Elementen der Natur radikal auf: „Was am Meer hängt, kehrt zu ihm zurück / Was aus der Erde kam, kehrt zurück zu ihr“, so heißt es in Ein Dritter Leichnam.

„Jetzt bin ich Flüchtling“ – dieser Satz springt einen auf der ersten Seite der Lichtungen Nr. 169 quasi an. Zärtlich und doch unerbittlich beschreibt die ukrainische Autorin Kseniya Chartschenko wie die Rede über den Weg zurück, den es nicht mehr gibt, nunmehr neue Bedeutung erlangt hat, für sie und für ihresgleichen. Und schon zeigt die Literatur, was sie eben doch kann: in Worte fassen, was eigentlich unfassbar ist. Da passt es, dass Clemens J. Setz in einem Essay der Frage nachgeht, was Realismus in der Literatur bedeutet, warum er uns so fesselt – und welche Aporien einen Hardcore-Realismus begleiten: Denn wo der Erzähler hinter einem planen, da rein Dokumentarischen scheinbar zu verschwinden vermag, macht dieser sich als Erzähl-Instanz umso sichtbarer. Die Mikrodramen, die Daniel Wisser aus der Welt der Angestellten liefert, sind dagegen so sublim wie sublim ironisch. Und lassen einen darüber nachdenken, dass auch in der Literatur Themen wie Wellen wiederkehren und verschwinden, mal in Mode sind und dann wieder out: Erinnert sich noch jemand zum Beispiel an den Angestellten-Roman Ich von Michael Hartmann? Der Schwerpunkt der Lichtungen Nr. 169 ist aber einem ganz anderen Thema gewidmet: der Gegenwartsliteratur aus Sardinien. Die muss sich – wie etwa der Angestelltenroman am Werk von Franz Kafka – an einem Kanon maßgeblicher Klassiker messen lassen. Zu diesen Klassikern zählt im Falle des Sardischen die Nobelpreisträgerin Grazia Deledda, aber auch der Roman Bella Mariposa von Sergio Atzeni, der hier in Ausschnitten erstmals ins Deutsche übertragen vorliegt. Es ist ein klangvoller Titel. Und klangvoll ist auch das Sardische, das – so lernt man – kein Dialekt, sondern eine eigene Sprache ist. Eine Sprache, die sich aus vielen Sprachen und Stimmen speist – wie Stepanowas Dichtung – und in der zugleich das Miteinander von Mensch und Natur einen Widerhall findet. Das gilt bis heute – noch dort, wo die einstige Harmonie inzwischen gestört ist und die jüngere sardische Literatur die (ökologischen) Zerstörungen abzubilden sucht, von denen auch die Insel nunmehr heimgesucht wird: Profitgier, Raubbau an der Natur, Verödung der Dörfer, Familienfehden und Entfremdung. Erd-Dichtung und eine „Poetik der Schichtung“ (so Oliver Vogel in Schliff) also auch hier. Dazu passen die weiteren Beiträge dieser Lichtungen: Abelina Holzer reflektiert in ihren Gedichten, wie sich die Spuren unserer menschlichen Beziehungen über die Erde hinweg wie Flechten erstrecken. Luca Manuel Kieser lässt eine Zypresse sprechen und endet mit dem Imperativ „Wisse ihr Holz“. Der Kunstteil der Ausgabe betört mit den Fotografien von Michael Goldgruber, der schmelzende Gletscher in teils verfremdenden Nahaufnahmen porträtiert und somit in Erinnerung ruft, dass auch die Bildende Kunst die Auseinandersetzung mit dem Anthropozän schon länger führt. Sofort möchte man gleich nochmal die Zeitschrift Schliff zur Hand nehmen und ergänzend die beiden klugen und erhellenden Essays von Frieder von Ammon sowie von Monika Schmitz-Evans ein zweites Mal lesen. Denn wo von Ammon unter dem Titel Die Erde der Rede das sogenannte „Earth Writing“ als Untergattung des Nature Writings postuliert, erinnert seine Kollegin Schmitz-Evans daran, dass das Schreiben über die Umwelt nicht erst Produkt des gegenwärtigen Ökodiskurses ist, sondern die Geschichte einer „immer mächtiger werdenden Technologie seit rund 125 Jahren“ begleitet. Mit kundiger Hand zieht sie eine Linie von Döblins Berge, Meere und Giganten über W. G. Sebalds Ringe des Saturn und Ransmayrs Atlas eines ängstlichen Mannes bis hin zu Dietmar Daths Die Abschaffung der Arten.

Bleibt nur noch die Frage, ob diese subkutanen Resonanzen zwischen den hier ausgewählten Zeitschriften Zufall sind. Um das zu beantworten, hilft die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Wespennest: Nr. 182 ist nämlich dem Thema Zufall gewidmet. Der ist „ein Monster“, heißt es gleich in der ersten Zeile des Editorials, rührt er doch „ans Wesentlichste, die kosmologische, ontologische, existenzielle Frage nämlich, ob etwas einen Grund hat oder nicht“. Das Heft selbst ist ein wunderbar buntes Sammelsurium, das allerlei Wissenswertes über den Zufall aufbietet und dabei in seiner thematisch aleatorischen Zusammenstellung selbst schon beglückend ist. So erfährt man etwa von den historischen Ursprüngen des Lotteriespiels, staunt über phonetisch-magische Rituale von Börsianern und begreift, dass der Umgang mit dem Zufall auch etwas über Gesellschaften aussagt. Denn dem glücklichen Zufall – im antiken Griechenland verkörpert durch Kairos, einen Mann mit geflügelten Füßen, wogenden Gewändern und wehendem Zopf – steht Chronos als mürrischer Gott und Schöpfer der Zeit gegenüber. „Chronos speist sich aus der Erfahrung. Kairos ist der Raum des Möglichen und des Potentials“, so schreibt übrigens auch Gunther Geltinger in Schliff. Die immanente, ja intrinsische Nähe der Kunst zum Zufall liegt insofern auf der Hand. In ihrem Essay „Der Zufall in der Kunst“ zitiert Elfie Miklautz im Wespennest deshalb nicht zuletzt Derrida, für den der Künstler jemand war, „der nur da zum Künstler wird, wo seine Hand zittert, das heißt, wo er im Grunde nicht weiß, was ihm geschehen wird, wo das, was geschehen wird, ihm vom anderen diktiert wird“. Und ruft noch einmal Dada und den Surrealismus in Erinnerung, John Cage und die freie Musik, die alle den Zufall und damit den Moment des Unerwarteten zum Motor des eigenen künstlerischen Schaffens erhoben haben. Die also auf das Finden statt auf das Erfinden gesetzt haben. Was aber wäre – so fragt sich Peter Jungwirth –, zum Beispiel passiert, hätte Dostojewski seinerzeit in Wiesbaden nicht seine 3000 Rubel verloren? Welche Auswirkung hätte das auf die Weltliteratur gehabt? Man mag diese Fragen für müßig halten. Und doch geht Kairos Hand in Hand vor allem mit denen, die sich der Literatur verschrieben haben – davon ist Gerald Schmickl im abschließenden Essay des Wespennests überzeugt: Wer kennt sie nicht, schreibt er, die merkwürdigen Koinzidenzen zwischen dem eigenen Leben und dem Inhalt von Büchern, die man liebt oder gerade gelesen hat? Selbst die Lektüre der hier vorgestellten Zeitschriften war angefüllt von solchen Koinzidenzen. Halten wir uns also an die Literatur. Halten wir uns fest an der Literatur. Damit Kairos, nicht Chronos unser Wegbegleiter ist. Und damit Gespräche über Bäume auch weiterhin nur fast ein Verbrechen sind.