Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Jörg Magenau

Jörg Magenau

Jörg Magenau ist freier Autor und Literaturkritiker. Er schrieb u. a. Biographien über Christa Wolf, Martin Walser und die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger. Zuletzt erschien von ihm Bestseller. Bücher die wir liebten ...  und die literarische Reportage Princeton 66. Im Februar 2021 erscheint sein erster Roman Die kanadische Nacht bei Klett-Cotta.

Zeitschriftenumschau

Jörg Magenau

Worüber schreibt man in Zeiten von Corona? Über Corona. Das Virus hat auch das Denken infiziert. Der Blick in die Zeitschriften führt dabei jedoch zu einem merkwürdigen Effekt: Die Zeitdifferenz zwischen Niederschrift und Publikation, zwischen Frühjahr und Herbst bedeutet, mitten aus der aufsteigenden zweiten Welle heraus auf die erste zurückzublicken, die vom Herbst aus betrachtet eher klein aussieht. Doch damals war noch neu und überwältigend, was inzwischen fast schon zur Routine geworden ist. Auch das Leben mit dem Virus und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Verwerfungen hat bereits eine eigene Geschichte.

Am Anfang stand, wie stets, das Staunen. Ilma Rakusa bringt es in dem Zyklus Corona mit Hölderlin in Gedichtform auf den Punkt (Manuskripte 228/2020). Wie eine jetzt schon in die Ferne gerückte Erinnerung werden da die damals akuten Momente beschworen, als der Gesang der Vögel und die Forsythienblüte irritierten, weil sie so gar nicht zum Lockdown passen wollten. Konnte es denn sein, dass die Natur nichts wusste von „Social Distancing und Atemplagen“? „Und nie genug“, schreibt Rakusa, „O Bäume sprießt mit neuer / Regung, seid gewogen! Grünt wo wir den / Ernstfall proben, ja drinnen sind. Ganz unentdeckt. / Wir werden es euch danken. Wenn Sommer ist. / Und überhaupt“. Eingekapselt in dieses Gefühl der Bedrohung inmitten der Schönheit der Welt, so lässt sich ein halbes Jahr später ahnen, verbirgt sich die Erinnerungsspur einer anderen Katastrophe. Auch 1986, als das Atomkraftwerk im fernen Tschernobyl explodierte, blühten die Kirschbäume in unverschämter Üppigkeit, als wäre es ein Naturgesetz, dass Schönheit und Schrecken zusammengehören, weil, wie Rilke dichtete, „das Schöne nur des Schrecklichen Anfang“ ist, „den wir gerade noch ertragen“. Besteht darin das Lebensgefühl einer auf Bedrohung gestimmten Moderne?

Zu dem von Ilma Rakusa festgehaltenen Anfang gehörte es auch, „tagtäglich die immergleichen Informationen zehn Mal zu lesen“. Für Kathrin Röggla waren das neue Arten des Gebets, wie sie in Allmende schreibt (Allmende 105, Juli 2020), „das Gebet über das Virus, das Gebet über die notwendigen Maßnahmen, das Gebet über den sozialen Zusammenhalt“. Noch liegt im Ungewissen, welche Form von Gesellschaftlichkeit sich daraus entwickeln wird, doch Röggla notierte bereits zu Beginn der Pandemie: „Vielleicht spüren wir zum ersten Mal seit langem so deutlich den Begriff des Kollektivs, dass man in gutem Abstand (zwei Meter?) an Thomas Hobbes vorbei zu Foucaults Verständnis von Biopolitik gehen sollte, um zu verstehen, dass das Kollektiv unter dem Zeichen der Krankheit steht, der Vorsorge, und dass das absolut zeitgemäß ist, auch jenseits der Situation mit dem Covid-19-Virus“.

Auch die 5. Ausgabe des vom Literaturforum im Brecht-Haus herausgegebenen lfb-Journals geht den Problemen des „social distancing“ nach. Ann Cotten legt dort dar, warum sie es „ungünstig“ findet, „mehr soziale Nähe zu fordern“. Das Soziale ist für sie eben keine Leistung, die der Einzelne oder die Nachbarn vollbringen müssen, sondern etwas, was der Staat als Möglichkeit zu organisieren hat. „Im Begriff des ‚Sozialen‘, schreibt sie, „verschmilzt das Zwischenmenschliche mit dem Politischen, Bauchgefühl mit Ratio. Und das ist nicht gut“. Neben diesem Kitschverdacht gegen das Soziale erfährt Cottons Lob der Distanz aber noch ein ganz anderes Argument: All die staatlichen Regulierungsmaßnahmen, die nötig sind, um diese Distanz durchzusetzen, belegen, welches Ausmaß an Regulierung im Notfall möglich ist. Warum gilt das dann nicht auch für Maßnahmen gegen den Klimawandel? Die Coronapandemie zeigt, wie weitgehend staatliche Eingriffe sein können und wie umfassend sie dann doch von der Mehrheit der vernunftbegabten Bevölkerung akzeptiert werden. Das ist doch womöglich eine gute Nachricht.

Vielleicht stehen wir ja tatsächlich an einer Zeitenwende? Der Titel „Die Welt neu denken“ den die Redaktion der Allmende für die aktuelle Ausgabe gefunden hat, lässt das vermuten. Marion Poschmann fragt dort nach der Grenze des menschlichen Einflusses auf die Geschichte. Sie bringt Kants Kategorie des Erhabenen ins Spiel, um Phänomene zu beschreiben, „die das menschliche Auffassungsvermögen in ihrer Größe und Dynamik übersteigen. (….) Wir erleben derzeit, dass der menschliche Einfluss ganz konkret über das menschliche Maß hinausgeht, dass er beispielsweise das Wetter beeinflusst, wie es zu vorkantianischen Zeiten eigentlich nur Gott vermochte. Dann machte sich das Wetter für einige Zeit selbst, und die Aufklärung rehabilitierte alle Personen, die als Regenmacher und Wetterhexen unter Verdacht geraten waren, mittels der Dichotomie Vernunft und Aberglauben. Eine einzelne Person, hieß es, könne das Wetter nicht beeinflussen, auch und erst recht nicht mit Hilfe des Teufels. Heute beeinflusst jeder einzelne von uns das Wetter, durch Fleischkonsum, Flugreisen, schieres Dasein. Es handelt sich um eine unglaubliche Macht, sublim, unmerklich, der Vernunft nicht zugänglich. Was wäre, wenn wir uns mit dieser Macht identifizierten? Pathos der Verantwortung – bringt das Lust oder Unlust?“

Was Poschmann hier im Verhältnis des Menschen zur Natur andeutet, ist ein sich wandelnder Begriff von Geschichte. „Vom Anthropozän zum Novozän?“ lautet die Frage, der die Allmende-Ausgabe nachgeht. War im 19. Jahrhundert mit Hegel noch die Ansicht vorherrschend, dass Geschichte etwas ist, das sich hinter dem Rücken der Menschen und im Dienste einer höheren Vernunft von alleine vollzieht, so dass der Einzelne allenfalls Agent oder Sachwalter des historischen Prozesses sein kann, führte der Fortschrittsglaube des 20. Jahrhunderts dazu, in der Geschichte ein eher feindliches Gegenüber zu erkennen, in dessen Verlauf der Mensch korrigierend, ja gebieterisch einzugreifen hat. Kapitalistische und sozialistische Welt unterschieden sich darin nicht.

Der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen hat jüngst in seiner Autobiographie „Doch für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“ auf diesen Wandel der Geschichtsauffassung und die Grenzen der Vernunftsteuerung hingewiesen. Mit dem 21.Jahrhundert ist der auf menschlichem Gestaltungsdrang beruhende Fortschrittsoptimismus jedoch selbst historisch geworden, weil sich die katastrophalen Folgen dieser Geschichtsauffassung nicht mehr übersehen lassen. Ob das Novozän darauf eine Antwort bietet, darf eher bezweifelt werden, denn es reicht sicher nicht aus, die Verantwortung für den Geschichtsprozess an überragende künstliche Intelligenzen weiterzureichen, die doch menschengemacht sind und die alten Ziele weiterverfolgen.

Als Zeichen dafür, dass der Mensch nicht so bald abdankt, auch wenn die Distanzen wachsen, präsentiert Clemens J. Setz in Lichtungen (Ausgabe 162) Alltagsdichtung einer unbekannten Meisterin, die in der Berliner Ringbahn aufs Gesprochene hört und diese Fetzen auf Instagram veröffentlicht. „Ringbahnposie“ heißt dieses Genre. Das memento mori eines Fahrgasts am Westkreuz geht so: „bro / ich hab nur noch 1% / und könnte jeden moment / weg sein // bro?“. Der soziale Tod erscheint in der Neuzeit in Gestalt eines Batteriesymbols, das jedoch, wie Setz diese Verse zu deuten weiß, durch den gekonnten, doppelten Einsatz des Wortes „bro“ konterkariert wird. „Bro transportiert wie kein anderes Wort dieses tapfere, urban-emotionslose, aber dennoch sich nach trauter Kumpelnähe sehnende Andockbedürfnis, auch über alle grausamen Grenzen technischer Erreichbarkeit hinweg, es ist das perfekte Wort, und wir sehen seinen Sprecher sofort klar vor uns. Er sieht nicht viel anders aus als man selbst“. Bro ist damit auch das perfekte Wort für Gesellschaftlichkeit in Coronazeiten für uns alle und unsere fernen Freunde, wenn wir ihnen über Zoom oder auf anderen Bildschirmen begegnen.